Sie sind hier

Christ sein in Westeuropa?

In einer Studie zum religiösen Wandel in Westeuropa kommt das PEW Forschungszentrum zu eigenartigen Ergebnissen und Bewertungen, die in der Studie „Christ sein in Westeuropa“ veröffentlicht wurden. Die Eigenartigkeiten der Datenbasis und der Interpretationen sollen am Beispiel Deutschland im Detail erläutert werden.

Von Carsten Frerk.

Nach der Feststellung, dass Westeuropa eine der säkularsten Regionen der Welt sei, heißt es zusammenfassend eingangs: „Die meisten befragten Erwachsenen betrachten sich allerdings immer noch als Christen, auch wenn sie selten einen Gottesdienst besuchen. Die Studie zeigt, dass nicht praktizierende Christen (die für die Zwecke des vorliegenden Berichts als Personen definiert werden, die sich als Christen betrachten, aber nicht mehr als ein paar Mal im Jahr an einem Gottesdienst teilnehmen) den größten Anteil an der Bevölkerung in der Region stellen. In jedem Land, mit Ausnahme von Italien, sind diese Personen zahlreicher als praktizierende Christen (Personen, die mindestens einmal im Monat einen Gottesdienst besuchen). Die Zahl der nicht praktizierenden Christen übersteigt in den meisten befragten Ländern auch die Zahl der Personen ohne Religionszugehörigkeit (Personen, die sich selbst als Atheisten, Agnostiker oder „keiner bestimmten religiösen Gemeinschaft angehörig“ bezeichnen und manchmal auch „konfessionslos“ genannt werden).“

Die Unterscheidung in zwei christliche Gruppen wurde nach der Kirchganghäufigkeit vorgenommen, wobei diejenigen, die mindestens einmal im Monat in die Kirche gehen, als „praktizierende Christen“ bezeichnet werden, und diejenigen, die weniger als einmal im Monat, gelegentlich oder niemals einen Gottesdienst besuchen, als „nicht-praktizierende Christen“.

Zur Feststellung der „religiösen Identität“, die für Deutschland mit 71 Prozent Christen angegeben wird, heißt es: „Zur Messung der religiösen Identität wurde in der Studie des Pew Research Center die Frage gestellt: „Welcher Religion fühlen Sie sich derzeit zugehörig, wenn überhaupt? Sind Sie Christ, Moslem, Jude, Buddhist, Hindu, Atheist, Agnostiker oder gehören Sie einer anderen bzw. keiner bestimmten religiösen Gemeinschaft an?“ Die Formulierung der Frage kann u. U. dazu führen, dass mehr Teilnehmer angeben, einer Religionsgemeinschaft anzugehören (z. B. dass sie Christen oder Muslime sind), als in früheren Studien in manchen Ländern, insbesondere wenn in diesen Studien die in der Wissenschaft als „zweistufiger Ansatz“ bezeichnete Fragestellung zur religiösen Identifizierung angewendet wurde. Zum Beispiel wird im European Social Survey (ESS) die Frage gestellt: „Fühlen Sie sich einer bestimmten Religion oder Konfession zugehörig?“ Nur den Teilnehmern, die diese Frage mit Ja beantworten, wird eine Liste mit Religionen vorgelesen, aus denen sie auswählen können. Die Anwendung des zweistufigen Ansatzes führt tendenziell zur Feststellung einer geringeren Anzahl von Personen, die sagen, dass sie Christen sind (oder einer anderen Religionsgemeinschaft angehören), – und zur Feststellung einer größeren Anzahl von Personen ohne Religion – als die Anwendung eines einstufigen Ansatzes zur Feststellung der religiösen Identität wie im Fall der Studie des Pew Research Center. Beide Ansätze sind zulässig, die Ergebnisse können allerdings voneinander abweichen.“

Es wurde also bewusst in Kauf genommen bzw. bestand die Absicht, dass die Anteile der „Christen“ höher sein sollten, als mit einem zweistufigen Ansatz.

Allerdings wurde in der Umfrage auch „zweistufig“ gefragt, denn wie aus einer anderen PEW-Auswertung der gleichen Umfragedaten (April bis August 2017) hervorgeht, wurde sehr wohl auch gefragt, ob man Protestant bzw. Katholik sei, wobei für Deutschland (auf Seite 8) genannt wird: 42 Prozent Katholiken, 28 Prozent Protestanten (das sind dann die hochgerundeten 71 Prozent Christen) und 24 Prozent Konfessionslose – im Jahr 2017. Dieser hohe Anteil von Katholiken ist mehr als verwunderlich, denn nach den Berechnungen der Deutschen Bischofskonferenz  gab es im Jahr 2016 in Deutschland nur 28,5 Prozent Katholiken.

Dieser völlig überhöhte Anteil von Katholiken – um rund 14 Prozentpunkte, d. h. rund 50 Prozent - und der zu geringe Anteil von Konfessionsfreien (24 statt 36 Prozent) gibt der Vermutung Raum, dass bei der GfK in Nürnberg, die für PEW diese Umfrage in Deutschland realisierte, in der Auswahl eines repräsentativen Samples mehr als nur einiges schief gegangen ist.

Insofern sind alle Aussagen über die Meinungen in der „Allgemeinen Bevölkerung“, also der Durchschnittswert, zumindest für Deutschland, in der Richtung von einem zu hohen Einfluss von „katholischen“ Meinungen abzulehnen und vor einer Verwendung ist zu warnen.

Zudem besteht der zweite interne Widerspruch darin, dass in der aktuellen PEW-Studie „Christ sein in Westeuropa“ (auf Seite 52, in diesem Text Abbildung 6) festgestellt wird, dass 53 Prozent der Befragten in Deutschland sich als „weder religiös noch spirituell“ beschreiben. Danach bleiben für Religiöse – egal ob praktizierend oder nicht-praktizierend -, nur noch ein Anteil von 47 Prozent übrig und verringert man diesen Anteil um rund 3 Prozent Andersgläubige, so bleiben nur 44 statt 71 Prozent „Christen“ übrig.

Praktizierende vs. nicht praktizierende Christen

In der Darstellung der Studienergebnisse ist der Haupttenor, dass „die (praktizierenden wie nicht-praktizierenden) Christen“ untereinander ähnlich und die nicht-praktizierenden Christen weit entfernt von den Meinungen und Einstellungen der Konfessionsfreien seien. Das stimmt so nicht.

Es ist nun müßig darüber zu streiten, was einen „Christ“ ausmacht. Unstrittig jedoch dürfte sein, dass die Kirchen selber eine Definitionsmacht haben, indem der Glaube an das Apostolische Glaubensbekenntnis „Erkennungs- und Identitätszeichen der Christenheit“ ist.

Insofern sind diejenigen, die nicht an einen persönliche Gott glauben, sondern an eine „höhere Macht oder spirituelle Kraft“ im verbindlichen Sinne des Glaubensbekenntnisses keine Christen, sondern eher „Transzendentale“ oder Esoteriker, nach dem Prinzip „neuer Wein in alten Schläuchen“.

Die Ähnlichkeiten der praktizierenden wie nicht-praktizierenden Christen ist nicht verwunderlich, wenn es um Fragen des Glaubens und der Religion geht, auffallend sind die gleichermaßen hohen Anteile an Fremdenfeindlichkeit und gruppenbezogenen Vorurteile und Abwertungen unter den Christen, ebenso wie bei dem Überlegenheitsgefühl der eigenen Kultur.

Damit hört es dann aber auch auf, denn in sozialethischen Fragen für den Einzelnen – wie der gesetzlichen Erlaubnis von Abtreibungen oder die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehen -, sind die Anteile der Befürworter bei den nicht-praktizierenden Christen sowie der Konfessionslosen sehr dicht beieinander und von den praktizierenden Christen deutlich unterschieden.

Drei Beispiele, aus der Vielzahl der Befunde, mögen verdeutlichen, dass die allgemeine PEW-Darstellung und Bewertung nicht zutrifft, „dass die christliche Identität immer noch ein bedeutsamer Marker in Westeuropa ist, auch für diejenigen, die nur selten in die Kirche gehen. Sie ist nicht nur eine „nominelle“ Identität ohne praktische Bedeutung.“

Zum einen wird deutlich, wo die sich selbst als Christen bezeichnenden beiden Gruppen große Gemeinsamkeiten in ihren Meinungen haben (Fragen von Glaube und Kirche), zweitens, wo die „nicht-praktizieren Christen“ mitten zwischen den „praktizierenden Christen“ und den Konfessionslosen stehen (Politik und Religion), und drittens, wo die „nicht praktizierenden Christen“ sehr nahe bzw. identische Ansichten haben wie die Konfessionsfreien.

Den Unterschied der Weltsichten von Glauben versus Wissen, und einer entsprechenden Lagerbildung, zeigt die Zustimmung zu den Aussage: „Wissenschaft macht Religion in meinem Leben überflüssig“.

Hinsichtlich der Frage, ob die Regierungspolitik in dem jeweiligen Land die Glaubensvorstellungen unterstützen solle, zeigen sich drei Gruppen, die Konfessionslosen, die nicht-praktizierenden und die praktizierenden Christen.

In ethischen Fragen, die u. a. das individuelle Selbstbestimmungsrecht des Menschen berühren, sind in den meisten Ländern Westeuropas nur noch zwei Gruppen vorhanden, einerseits die „praktizierenden Christen“, andererseits die Konfessionslosen plus die „nicht-praktizierenden Christen“. Diese hohen Zustimmungen auch von „nicht-praktizierenden Christen“ in der Befürwortung kann auch als Hinweis darauf verstanden, warum diese Menschen nicht mehr in die Kirche gehen, da sie – vor allem bei den Katholiken – die moralischen Dogmen des Klerus nicht mehr akzeptieren.

In einem letzten Abschnitt vergleicht die PEW-Studie den Aspekt einer religiösen bzw. spirituellen Selbsteinsttufung in den Ländern Westeuropas und in den USA. Das eine Ergebnis ist, dass die Befragten in den USA sich beinahe zur Hälfte (48 Prozent) als „religiös und spirituell“ bezeichnen, was sich deutlich von den Westeuropäern unterscheidet, die sich – mit Ausnahme der Portugiesen – nur zu einem Viertel und weniger so sehen.

Zum anderen wird deutlich, dass die hohen bis sehr hohen Anteile derjenigen, die sich als „weder religiös noch spirituell“ sehen, in einem eigenartigen Kontrast zu dem (in Abbildung 2 dargestellten) Anteil von Christen in den jeweiligen Ländern Westeuropas steht. Wie kann es z. B. in Dänemark 65 Prozent „Christen“ geben, wenn 64 Prozent der Dänen sagen, dass sie „weder religiös noch spirituell“ seien, ebenso in anderen Ländern, wie in Deutschland, wo einerseits 71 Prozent „Christen“ vorhanden sein sollen, aber 53 Prozent der Menschen mit Religion oder Spiritualität persönlich nichts zu tun haben.

Fazit

Diese PEW-Studie - die im Übrigen von der evangelikalen John Templeton Foundation mit finanziert wurde -, hat sehr große Eigenartigkeiten und, zumindest für Deutschland, keine repräsentative Datengrundlage.

Zu den Eigenartigkeiten für Deutschland mag man dann auch zählen, dass diese Studie (am 29.5.2018) in Berlin vorgestellt wurde. Organisator war das Aspen Institute Germany und der Veranstaltungsort war kein wissenschaftlicher oder weltanschaulich neutraler Ort, sondern die St. Simeon Kirche in Berlin-Kreuzberg. In dieser evangelischen Kirche ist die das Kirchenschiff dominierende Kanzel mit einem großen Tuch umfasst, auf dem ein großes goldenes Kreuz abgebildet ist, umgeben von der Aussage: „Ich bin die Wahrheit“. Darin werden u. a. die Studienergebnisse bestätigt, dass sowohl praktizierende wie nicht-praktizierende Christen mit 21 Prozentpunkten mehr als die Konfessionslosen der Aussage zustimmen: „Unser Volk ist nicht perfekt, aber unsere Kultur ist anderen überlegen.“