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Religionsunterricht in Deutschland 2015/2016

Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland legt die Kultusministerkonferenz der Bundesländer (KMK) eine Auswertung zum Religionsunterricht 2015/16 in Deutschland  vor. Dieser Bericht dokumentiert, wie lückenhaft, voreingenommen und weltanschaulich einseitig die Kultusminister der Länder Daten zum religions- und weltanschaulichen Schulunterricht erheben und öffentlich verbreiten.

Von Carsten Frerk

Erstens. Nach der detaillierten Dokumentation der KMK (Dokumentation Nr. 211 – Dezember 2016 Schüler, Klassen, Lehrer und Absolventen der Schulen 2006 bis 2015) gab es 2015 in Deutschland insgesamt 10.831.676 Schüler.

Die Auswertung zum Religionsunterricht erfasst für die Primar- und die Sekundarstufe I insgesamt 6.445.256 Schüler. Das heißt, dass 4.386.420 Schüler (= 40,5 Prozent aller Schüler) in dieser Auswertung nicht erfasst sind.

Eine Begründung oder methodische Erläuterung, warum nur 60 Prozent der Schüler dargestellt werden, gibt es in der Auswertung nicht. Insofern steht der Titel der Publikation: „Auswertung Religionsunterricht Schuljahr 2015/16“ im Widerspruch zu seinem Untertitel: „Teilnehmende Schülerinnen und Schüler allgemeinbildender Schulen in öffentlicher Trägerschaft nach Schularten (aufgegliedert nach Religionsunterrichten, Ethik und weiteren Ersatzunterrichten) für den Primar- und Sekundarbereich.“

Das eröffnet Überlegungen, warum das so gehandhabt wurde? Ist der Religionsunterricht bei den Schülern der Sekundarstufe II weniger gefragt und würden sich die Teilnehmerzahlen entsprechend verringern, wenn man sie mit erfasst? Diese Schüler sind weitestgehend älter als 14 Jahre alt und können sich selber vom Religionsunterricht abmelden. Würde bei der Berücksichtigung der Sekundarstufe II und den Berufsschulen der Anteil des evangelischen und des katholischen Religionsunterrichts, der in der Auswertung mit 64,23 Prozent dargestellt wird, auf unter 50 Prozentpunkte sinken? Zumindest würde das für das Land Berlin zutreffen (siehe Übersicht im Anhang).

Zweitens: Die Kultusministerkonferenz ist an die Rechtslage gebunden. Wenn der Titel heißt: „Religionsunterricht“, dann hat sich dieser Bericht auch auf den Religionsunterricht zu beschränken. Geht er darüber hinaus, dann ist der Artikel 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Absatz 7 zu beachten, der Religionsgesellschaften und Weltanschauungsgemeinschaften gleich stellt. Wenn die KMK also über den Religionsunterricht hinausgeht, dann muss der Titel der Auswertung rechtlich korrekt heißen: „Auswertung Religions- und Weltanschauungsunterricht“.

Drittens: Der sachlich klingende aber herabsetzende Begriff „Ersatzunterricht“ ist nur für die Bundesländer zulässig, in denen Schüler, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, verpflichtet sind, am Unterricht in dem dafür eingerichteten „Ersatzunterricht“ teilzunehmen. So, wie in Nordrhein-Westfalen, wo es im Art. 32 des Schulgesetzes heißt: „Praktische Philosophie, Philosophie. Schülerinnen und Schüler, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, nehmen am Fach Praktische Philosophie teil, soweit dieses Fach in der Ausbildungsordnung vorgesehen und an der Schule eingerichtet ist. In der gymnasialen Oberstufe besteht die Verpflichtung, nach einer Befreiung vom Religionsunterricht das Fach Philosophie zu belegen.“

Viertens: Der Unterricht von Weltanschauungsorganisationen, wie beispielsweise der Humanistische Lebenskundeunterricht in den Bundesländern Berlin und Brandenburg, ist dem Religionsunterricht gleichgestellt. Diesen Unterricht mit einer doppelten Herabsetzung als „(1) Sonstiger (2) Ersatzunterricht“ zu diskriminieren, offenbart die weltanschauliche Perspektive und Schieflage der Verfasser dieser Auswertung. Dieser Weltanschauungsunterricht wird als „sonstiger Ersatzunterricht“ (S.19) zusammen mit dem „Förderunterricht und Sport“ in Mecklenburg-Vorpommern und dem Unterricht „Werte und Normen“ in Niedersachsen“ in einer Kategorie zusammengefasst. Es handelt sich dabei um insgesamt 186.073 Schülerinnen und Schüler.

Fünftens: Der „Religionsunterricht“ der Freireligiösen  ist kein „sonstiger Religionsunterricht“, sondern ebenfalls dem christlichen Religionsunterricht gleichgestellt.

Sechstens: Bei dem Ethikunterricht heißt es für Berlin: „Ethik ist Pflichtfach in der Sekundarstufe I an öffentlichen Schulen und wird statistisch nicht erhoben“. Das ist Unsinn, denn die Schülerzahlen für die Sekundarstufe 1 an öffentlichen Schulen sind bekannt und belaufen sich im Schuljahr 2015/16 auf 111.165 Schülerinnen und Schüler. Rechnet man diese Schüler korrekt zum Ethikunterricht hinzu, wird die 1-Million-Zahl überschritten (982.834 + 111.165 = 1.093.999 Schüler im Fach Ethik). Sollte das vermieden werden? Oder ist es ein größeres Thema? Die KMK kategorisiert in einem Entweder-oder-Schema, entweder Religionsunterricht oder Ersatzfächer. In Berlin wird allerdings ein Sowohl-als-auch realisiert, d. h. der Ethikunterricht ist in der Sekundarstufe 1 Pflichtfach für alle, der Religions- und Weltanschauungsunterricht wird aber auch von 9.315 Schülern der Sekundarstufe 1 freiwillig besucht, (siehe Anlage) die dann aber nach der KMK-Kategorisierung doppelt gezählt werden würden, sowohl beim Ethikunterricht als auch bei den Schülerzahlen zum Religions- und Weltanschauungsunterricht. Das würde heißen: Passt die Realität nicht in meine Statistik, dann sage ich einfach, dass es dazu keine Zahlen gibt.

Siebtens: Weitere Details werden im Vorspann der Auswertung zwar genannt aber nicht weiter berücksichtigt. So ist eine Frage, ob der in Hamburg angebotene „Religionsunterricht für alle“ durch den Begriff des „Religionsunterrichts“ in Art. 7 Abs. 3 GG abgedeckt ist, wie es in den Vorbemerkungen behauptet wird. Das Grundgesetz kennt nur einen bekenntnisgebundenen Religionsunterricht. Der Religionsunterricht in Brandenburg und in Berlin ist ebenfalls kein durch Art. 7 GG bestimmter Unterricht, da es sich nicht um ein „ordentliches Lehrfach“ handelt. Für Berlin gilt: „Grundlage für diesen Sonderstatus bildet die sogenannte Bremer Klausel (Artikel 141 des Grundgesetzes). […] Das Schulgesetz vom 26.06.1948 legte fest, dass ‚Religionsunterricht Angelegenheit der Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften‘ sei und es sich somit um ein freiwilliges Unterrichtsangebot handele. An dieser Regelung hält das Land bis heute fest. Mit dem Schuljahr 2006/07 wurde in Berlin zusätzlich ab Jahrgangsstufe 7das Fach ‚Ethik‘ als ordentliches Unterrichtsfach (Pflichtfach) eingeführt. Der Status des freiwilligen Religions- und Weltanschauungsunterrichtes bleibt dadurch unberührt.“

Fazit: Die Auswertung ist in ihren Zuordnungen von einer Auffassung bestimmt, die nur den drei abrahamitischen Religionen eine Berechtigung zuspricht, alles andere wird unter „Sonstiges“ oder „Ersatz“ oder „Sonstiger Ersatz“ abgewertet. Wie die Rechtslage aussieht, ist den Verfassern der Auswertung zudem entweder unbekannt oder ist ihnen gleichgültig. Wenn die Kultusministerkonferenz ihre Inkompetenz in Fragen des Religions- und Weltanschauungsunterrichts der Länder unter Beweis stellen wollte, dann ist das gelungen.

(Die Auswertung der KMK findet sich im Anhang.)