Sie sind hier

Waldorfschulen: Schulen, Schüler, Anteile, 1992 - 2018

Wie das Statistische Bundesamt meldet, ist die Zahl der Einschulungen an den Waldorfschulen in Deutschland 2018 erneut gestiegen. Das ist soweit richtig, aber es entstand die Frage, was statistisch dazu genau zu sagen ist. So klang es eher wie eine Pressemitteilung des Bund der Freien Walddorfschulen. Die Analyse zeigt, wie man mit richtigen Zahlen trotzdem etwas Falsches darstellen kann.

Von Carsten Frerk.

Eine Zahl ist erstmal eine Zahl. Mehr nicht. Was sie bedeutet – ist das groß oder klein, bedeutet das viel oder wenig, ist das wichtig oder unwichtig – ergibt sich erst aus dem Vergleich mit anderen Zahlen. Will man mit Zahlen „Politik“ machen, so fehlen normalerweise die Bezugsgrößen sich parallel verändernder Zahlen des gleichen Themas.

Das ist einerseits zwar richtig, aber andererseits erstaunlich, dass eine Steigerung von 0,06 Prozent in einem Segment der 0,7 Prozent der Walddorfschulen an allen allgemeinbildenden Schulen und einer Schülerzahl in Deutschland von 1,03 Prozent Walddorfschülern dem Statistischen Bundesamt eine umfangreiche Pressemitteilung wert ist.

Die Freien Waldorfschulen gehören zu den staatlich anerkannten Privatschulen, die nach Art. 7 GG zu genehmigen sind: „(4) Das Recht zur Errichtung von privaten Schulen wird gewährleistet. Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Die Genehmigung ist zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist.“

Für diese Privatschulen ist allerdings durchaus umstritten, ob sie den gesetzlichen Vorgaben entsprechen. So würden sie nach einem Gutachten des Wissenschaftszentrums Berlin, die nach Grundgesetz verbotene „Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern“ unterlaufen.

In einer Übersicht für das Schuljahr 2018/2019 des Statistischen Bundesamtes zu den Privatschulen in Deutschland heißt es einleitend: „Mit dem Besuch von privaten Schulen werden häufig bessere Unterrichtsbedingungen und daraus eventuell resultierende höhere Qualifikation und/oder der Vermittlung von Werten, insbesondere durch kirchliche Schulträger, in Verbindung gebracht.“

Das ist allerdings eine überraschende Darstellung einer zur Neutralität verpflichteten staatlichen Behörde, wenn derartige Behauptungen ohne jede Quellenangabe übernommen und verbreitet werden.

„Freie Waldorfschulen (1.-10. Klassenstufe und 11.-12. bzw. 13. Jahrgangsstufe) sind private Ersatzschulen mit besonderer pädagogischer Prägung, die die Klassen 1 bis 12 von Grund-, Haupt- und teilweise auch Förderschulen sowie Höheren Schulen als einheitlichen Bildungsgang nach der Pädagogik von Rudolf Steiner führen.“ (So das Statistische Bundesamt, S. 7)

Die Kritik an den Walddorfschulen ist erheblich. Eine aktuelle Auswahl: „In der Unterstufe herrscht ein autokratisches Regime“ (ZEIT ONLINE 4/2019), „Waldorf hat den Charakter einer Sekte“ (Süddeutsche Zeitung, 9/2019) oder auch „Waldorfpädagogik: Versteinerte Erziehung“ (GWUP), sowie: „Eliten an die Waldorfschule : Strickzeug statt Smartphone“ (FAZ, 8/2014).

Der Bund der Freien Waldorfschulen argumentiert dagegen: „Ein Drittel mehr Waldorfschüler in 25 Jahren.“ (11/2019): „Wie beliebt die Waldorfschulen sind, zeigt sich deutlich an der Schülerzahlentwicklung der letzten 25 Jahre“, so Thomas Rohloff, Abteilungsleiter der Bildungsökonomie im BdFWS. Die Eltern in Deutschland entscheiden sich immer mehr für eine alternative Pädagogik, was das konstante Wachstum der Waldorfschulen deutlich zeigt. Von 1992 bis 2017 gab es ein durchschnittliches jährliches Wachstum von 1,7 Prozent. Gegenläufig die Entwicklung aller allgemeinbildenden Schulen: im selben Zeitraum sind die Schülerzahlen jährlich um durchschnittlich 0,5 Prozent zurückgegangen. 2017 besuchten 87.765 Schüler*innen eine Waldorfschule.“

Alles einzelne Zahlen ohne Bezugsgrößen.

Also ist eine Recherche in den Publikationen des Statistischen Bundesamtes notwendig. Sowohl in den jährlichen Berichten zu „Allgemeinbildende Schulen“ (hier: 2018/19) sowie in Berichten früherer Jahrgänge lassen sich dazu Zahlen finden, die sich auf alle „Allgemeinbildenden Schulen“ beziehen, also alle Schulen (staatlich und privat) ohne die Berufsschulen und die Schulen des Gesundheitssystems. Zusätzlich wird eine weitere Reihe zu den Privatschulen publiziert. In beiden Berichten werden die Zahlen zu den Freien Waldorfschulen in einer eigenen Kategorie dargestellt, da diese Schulen sich nicht in ein übliches Schema von Grund-, Haupt- und Realschulen, sowie Gymnasien etc. einordnen lassen.

Schulen

Es besteht in Deutschland tatsächlich der Trend, dass bei den allgemeinbildenden Schulen die Anzahl der staatlichen Schulen sich verringert und die Zahl der Privatschulen ansteigt.

Die Anzahl der Privatschulen steigt von 1992 bis 2018 von 1.991 auf 3.642 Schulen und der Anteil an allen allgemeinbildenden Schulen steigt von 4,5 auf 11,2 Prozent. Auch die Anzahl der Waldorfschulen folgt diesem Trend und steigt von 145 Schulen auf 228 Schulen, so dass der Anteil an allen allgemeinbildenden Schulen von 0,3 auf 0,7 Prozent ansteigt. Allerdings ist dieser Trend weniger erfolgreich als bei den übrigen Privatschulen, so dass sich der Anteil der Walddorfschulen unter den Privatschulen sich von 7,3 auf 6,3 Prozent reduziert.

Schülerzahlen

Bei den Schülerzahlen zeigt sich die gleiche Entwicklung wie bei den Schulen. Während die Schülerzahl an allgemeinbildenden Schulen von 1992 bis 2018 sich um 1.013.907 Schüler reduziert (= minus 10,9 Prozent) steigt die Schülerzahl auf den Privatschulen um 318.677 (= plus 71,5 Prozent) und an den Waldorschulen um 29.415 (= plus 52,4 Prozent). Das heißt, der Anstieg der Schüler an Walddorfschulen ist – bezogen auf die Privatschulen – unterdurchschnittlich.

Während der Anteil der Schüler auf Privatschulen (1992 bis 2018) von 4,8 auf 9,2 Prozent ansteigt und parallel bei den Walddorfschülern von 0,6 auf 1,03 Prozent, verringert sich der Anteil der Waldorfschüler an den Privatschulen von 12,6 auf 11,2 Prozent.

Hinsichtlich der West-Ost-Verteilung schreibt der Bund der Freien Waldorfschulen mit sichtlichem Stolz: „Noch deutlicher ist die Statistik im Ost-West-Vergleich: In den neuen Bundesländern stieg die Zahl der Waldorfschüler*innen jährlich im Durchschnitt um 6,3 Prozent. Allerdings konnten hier die ersten Schulen erst nach der Wiedervereinigung öffnen.“

Ein Blick auf die Tabelle zeigt jedoch wieder, dass dies einerseits richtig und dennoch falsch ist.

Es ist einerseits richtig, dass die Zahl der Waldorfschüler sich in den östlichen Bundesländern von 3.541 auf 12.067 erhöht hat und das einen größerer Anstieg (plus 241 Prozent) als in den westlichen Bundesländern (plus 40 Prozent) bedeutet, aber setzt man – unter dem Gesichtspunkt der niedrigen Ausgangszahl 1992 den Bezug zum Anteil an den Schülern in den östlichen Bundesländern, so ist dort 2013-2018 (Anteile von 0,77 bis 0,79 Prozent) ein Anteil erreicht, der in den westlichen Bundesländern bereits 1992-1999 erreicht war.

Einschulungen

Der vom Statistischen Bundesamt als Schlagzeile und so umfangreich dargestellte Höchstwert an Einschulungen ist wiederum einerseits richtig und andererseits falsch. Von 1992 (5.175 Einschulungen) bis 2018 (7.041 Einschulungen) sind es – entsprechend dem Anstieg der Schülerzahlen – auch ein Anstieg der Einschulungen. Und in der Walddorf-PR würde es heißen können: „In 25 Jahren ein Anstieg von 36 Prozent!“ Es ist jedoch – sieht man den Bezug auf die Anteile der Einschulungen – doch eher marginal. Von 2005 (Anteil 0,77 Prozent) sind es 0,20 Prozent und seit 2012 (Anteil 0,86 Prozent) sind es 0,11 Prozentpunkte Anstieg. Und auch wenn man sechsundzwanzig Jahre bis 1992 zurückgeht, ist es ein relativer Anstieg um 0,39 Prozentpunkte (von 0,58 auf 0,97 Prozent). Und in absoluten Zahlen heißt es, dass in 2018 – mit Vergleich auf 2017 und 6.599 Einschulungen – in jede der 228 Waldorfschulen im Schnitt zwei Schüler/innen mehr eingeschult wurden oder - mit Bezug auf 2016 mit 6.711 Einschulungen – wurde 2018 nur in jede zweite Waldorfschule zwei Schüler/in, in die andere Hälfte nur eine(r) mehr eingeschult als im Bezugsjahr.

Und ebenso ist dieser „Höchstwert“, den das Statistische Bundesamt mit einer umfangreichen Pressemitteilung verkündet, in der angenommenen Waldorfeigenen Darstellung mit einer Steigerung von 36 Prozent geringer als der Anstieg der Schülerzahlen seit 1992, den Waldorf selber (in einer Pressemitteilung) bis 2017 mit 51,4 Prozent darstellt.

Zudem ist der Anteil der Einschulungen 2018 (0,97 Prozent aller Einschulungen) geringer als der Anteil der Waldorfschüler insgesamt an allen allgemeinbildenden Schulen 2018 (1,03 Prozent).

Ausländische Schüler

Sowohl der Bund der Freien Walddorfschulen wie auch das Statistische Bundesamt äußern sich beide nicht zu einem Thema, das gesellschaftlich viele Menschen bewegt: der Anteil der Schüler mit ausländischer Staatsangehörigkeit.

Eine erste Übersicht – mit Hinblick auf die Anteile in den Bundesländern – zeigt, dass der Anteil der Schüler mit ausländischer Staatsangehörigkeit 2018 in allen Allgemeinbildenden Schulen 10,7 Prozent beträgt. Die Walddorschulen kommen auf einen Anteil von 0,25 Prozent.

Die höchsten Anteile bei den Allgemeinbildenden Schulen finden sich in Bremen (18,3 Prozent), in Berlin (15,8 Prozent), dem Saarland (14,2) sowie Hamburg und Hessen (13,5 bzw. 13,1 Prozent). Bei den Waldorfschulen sind die Schulen in Baden-Württemberg und in Sachsen (mit jeweils 0,56 Prozent) die Spitzenreiter.

In einer Zeitreihe (1992 – 2018) und den Bezügen auf die Veränderungen der Anzahl der ausländischen Schüler in Deutschland insgesamt, zeigt sich, dass zwar auch die Zahl der Schüler mit ausländischer Staatsangehörigkeit steigt (von 1.157 auf 2.235) – in lobbyistischer PR wäre das eine Anstieg um 93,2 Prozent – aber in den Anteilen an allen allgemeinbildenden Schulen erhöht sich der Anteil der Walddorfschülern in diesen Jahren von 0,14 auf 0,25 Prozent, d. h. um 0,11 Prozentpunkte.

In den östlichen Bundesländern sind – bis auf die Ausnahme Sachsen – die Anteile an ausländischen Schülern (8,1 Prozent) geringer als im Bundesdurchschnitt (10,7), was sich ebenso bei den Walddorfschulen zeigt.

Berlin, das statistisch immer zu den östlichen Bundesländern gezählt wird, ist in Hinsicht der Walddorfschulen und den überdurchschnittlichen Ausländeranteil eher „westlich“.

In einem Vergleich zwischen allen Allgemeinbildenden Schulen, allen Privatschulen und den Walddorfschulen zeigen sich ebenfalls die unterdurchschnittlichen Anteile der ausländischen Schüler an Walddorfschulen.

Während der Anteil der ausländischen Schülern an allen Privatschulen um 1,87 Prozentpunkte gestiegen ist (von 3,01 auf 4,88), ist bei den Waldorfschulen nur ein Anstieg um 0,55 Prozentpunkte (von 4,59 auf 5,14 Prozent).

‚Traditionell‘ ist der Anteil der ausländischen Schüler an Waldorfschulen aus den Ländern Europas die größte Gruppen (2002 und 2010 jeweils zwei Drittel - 65,7 und 66,4 Prozent), was sich 2018 abmildert (auf 50,3 Prozent). Darin zeigt sich aber vor allem die statistische Konsequenz einer geringen Ausgangszahl. Bei den Allgemeinbildenden Schulen hat sich die Zahl der ausländischen Kinder von 2010 auf 2018 um 164.018 erhöht (das wären 22,6 Prozent), während es bei den Walddorfschulen 735 Schüler mehr sind (ein Anstieg um 48,9 Prozent).

In diesem Anstieg der Waldorfschulen um 735 Schüler sind 2018 auch 297 Syrer und 81 Iraker enthalten. Im Durchschnitt hat also jede der 228 Waldorfschulen 2018 insgesamt (von 735) jeweils 3 ausländische Schüler mehr als in 2010. Mit Bezug auf alle Schulen ist es jedoch nur ein Anstieg von 0,04 Prozentpunkte (von 0,21 auf 0,25 Prozent).

Bei diesen marginalen Zahlen und dem minimalen Beitrag zur Lösung von gesellschaftlichen Integrations-Problemen erscheint es verwunderlich, wenn diese 1-Prozent-Randgruppe in einem Artikel der Wochenzeitung DIE ZEIT „Mal langsam!“ - trotz aller Kritik – als Vorbild dargestellt wird: „Ja, Waldorfschülerinnen und -schüler haben mehr Zeit zum Träumen. Sie basteln tatsächlich viel, haben Zeit, ihren Namen zu tanzen (tun sie tatsächlich), und beschäftigten sich mit einigen Inhalten erst später als Schülerinnen und Schüler einer Regelschule. Nur ist das kein Nachteil. Als ehemaliger Waldorfschüler halte ich es für die große Stärke der viel gescholtenen Waldorfschulen, wie sie den Druck rausnehmen. Trotzdem ist dies kein Aufruf an Eltern, ihre Kinder alle an die Waldorfschule zu schicken. Nein, das staatliche Bildungssystem sollte von ihnen lernen.“