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Säkulare in Deutschland: 56 Prozent

Fowid-Notiz: Aus den Ergebnissen der aktuellen Befragung zur Kirchenmitgliedschaft, die in eine repräsentative Gesamtbefragung der Bevölkerung eingebunden ist, wird die Eindimensionalität von formalen Kirchenzugehörigkeiten erweitert zu einer mehrdimensionalen Analyse von inhaltlichen Weltanschauungen. Daraus ergibt sich für den Anteil der Säkularen an der Bevölkerung in Deutschland ein Anteil von 56 Prozent (73 Prozent in Ostdeutschland, 53 Prozent in Westdeutschland).

1. KMUs (Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen
2. KMU 6 (2022/2023)
3. Kirchlich-säkulare Orientierungstypen
4. Säkulare und andere
5. Vorläufiges Zwischenfazit

1. KMUs (Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen)

Seit 1972 führt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) alle zehn Jahre eine „Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung“ (KMU) durch. Die aktuelle Befragung (erstmalig zusammen mit der römisch-katholischen Kirche) ist somit die sechste KMU (KMU-6).

Die vorherigen KMUs waren vorwiegend eine ‚Innenschau‘ der EKD, da sich nach den hohen Kirchenaustrittszahlen 1970 evidenzbasiert feststellen sollten, wie es um die „Realität der Volkskirche“, d. h. die Meinungen und Ansichten der „Kirchenmitgliedschaft“ bestellt ist. (1972: „Bestand und Erneuerung: Wie stabil ist die Kirche?“, 1982: „Kirchenmitgliedschaft im Wandel: Was wird aus der Kirche?“, 1992: „Fremde Heimat Kirche“, 2002: „Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge“, 2012: „Engagement und Indifferenz: Kirchenmitgliedschaft und soziale Praxis.“). 2002 und 2012 wurden auch Konfessionsfreie in die Befragung mit einbezogen. Das Besondere an der KMU-6 (2022: „Wie hältst du’s mit der Kirche? Zur Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft“) ist nicht nur die Zusammenarbeit mit der römischen-katholischen Kirche in Deutschland, sondern auch, dass eine Gesamtbefragung der Bevölkerung ab dem vollendeten 14. Lebensjahr realisiert wurde. Somit lassen sich allgemeinere religionssoziologische Befunde formulieren.

2. KMU 6 (2022/2023)

Die Daten der KMU-6 wurden vom 14.10. bis 22.12.2022 von Forsa erhoben. Sie beinhaltet 161 Fragen, die von 5.282 Befragten (ab dem vollendeten 14. Lebensjahr) beantwortet wurden. Begleitet wurde die Untersuchung durch einen wissenschaftlichen Beirat, u. a. mit den Religionssoziologen Dr. Detlef Pollack (Seniorprofessor an den Universität Münster) und Dr. Jörg Stolz (Professor an der Universität Lausanne). Die operative Durchführung wurde vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD (SIEKD) realisiert. Im Jahr 2024 wird es voraussichtlich einen umfangreicheren Auswertungsband geben.

Die ersten Ergebnisse und Materialien liegen nun digital vor und können heruntergeladen werden: 1. Ein Berichtsband „Wie hältst Du‘s mit der Kirche?“ mit ersten Ergebnissen, 2. Der umfangreiche Fragebogen der Studie und 3. eine tabellarische Auflistung der Grundauszählungen zu den Fragen. Zusätzlich gibt es eine spezielle Auswertung zu „Religiös-säkulare Orientierungstypen in Deutschland 2023“. Diese spezielle Auswertung ist im Folgenden das Thema.

3. Kirchlich-säkulare Orientierungstypen

Der bisherige Stand der formalen Religionszugehörigkeiten wird in der KMU-6 (Berichtsband, S.10) mit den zwei Zeitpunkten beschrieben, wann voraussichtlich die Christen insgesamt nicht mehr die Mehrheit in Deutschland stellen (2024) bzw. wann die Konfessionsfreien die Mehrheit darstellen (2027).

„Werden alle christlichen Konfessionen zusammengezählt (also Evangelische, Katholische, Orthodoxe und andere kleine christliche Gemeinschaften wie z. B. Freikirchen), so macht deren Bevölkerungsanteil Ende 2022 52 % aus. Er wird – bei Extrapolation der beobachteten, recht stabilen Trends – im Jahr 2024 unter 50 % sinken.3 Die Konfessionslosen werden voraussichtlich im Jahr 2027 die 50-Prozent-Marke überschreiten und damit auch die absolute Bevölkerungsmehrheit stellen.“

Die aktuellen Angaben zu den formalen Konfessionszugehörigkeiten entsprechen den Daten, wie sie auch in der fowid-Darstellung zu den „Religionszugehörigkeiten 2022“ analysiert und berichtet wurden.

Das Bemerkenswerte besteht u. a. darin, dass der Anteil der Muslime mit 3,9 Prozent berichtet wird – ein Wert der von anderen Untersuchungen her betrachtet als zu gering betrachtet werden dürfte, aber dem Prozentsatz entspricht, der bei fowid für die „konfessionsgebundenen Muslime“ berechnet wurde. Der Religionsmonitor 2023 der Bertelsmann-Stiftung hat, beispielsweise, einen Anteil von 8,5 Prozent „Islam“, was damit auch deutlich über den Einschätzungen des BAMF liegt, das den Anteil der Muslime auf 6,4 – 6,7 Prozent eingestuft hat. Zusätzlich bemerkt die KMU-6 zu den Weltanschauungen innerhalb der Muslime, dass nur rund ein Viertel religiös gläubig sei.

„Die Hälfte der befragten Muslima und Muslime sind Religiös-Distanzierte. Jeweils zu einem Viertel handelt es sich um Säkulare oder um Menschen mit einer religiösen Orientierung, die der der Kirchlich-Religiösen entspricht. Alternative sind unter ihnen kaum vorhanden.“

Die vier weltanschaulichen „Orientierungstypen“ werden wie folgt charakterisiert: Kirchlich-Religiöse: 13 Prozent der Bevölkerung („Gottlob treu: Kirchlich-Religiöse sind fest in der Gesellschaft verankert“), Religiös-Distanzierte: 25 Prozent („Denn sie wissen, worum es geht – auch wenn man sie nicht in der Kirche sieht“), Säkulare: 56 Prozent („Gegen Konfession und Tradition: Säkulare wandeln auf anderen Pfaden.“) sowie Alternative: 6 Prozent („Klein, kirchenfern und doch verschieden.“)

Methodisch erfolgt die „Typenbildung“ durch Clusteranalyen (vor allem der Fragen 21-25, Frage 46 und Fragen 50-59, 68-72 sowie 79-81) und orientiert sich an den Sinus-Milieus.

Die grafische Darstellung der vier „Orientierungstypen“ innerhalb des entsprechenden EKD-Artikels hat durchaus einen kirchlich-weltanschaulichen ‚Charme‘ – sofern man den Farben der Darstellung eine inhaltliche Bedeutung zubilligt.

Die „Säkularen“ werden grau/schwarz dargestellt, die „Religiös-Distanzierten“ in rosa/rot, die „Alternativen“ (gemeint sind die Esoteriker) in grün sowie die „Kirchlich-Religiösen“ in Violett. Als liturgische Farbe hat das Violett (evangelisch) u. a. die Bedeutung der Demut, d. h. „die Farbe der Stille und Besinnung, Umkehr und Buße, die auf die immer wieder neu nötige Ausrichtung auf Gott hinweisen will.“

4. Säkulare und andere

Die Kombination von Weltanschauungen und formalen Gruppenzugehörigkeiten ermöglicht der Studie, sowohl die gesamtgesellschaftlichen Anteile ebenso wie die Gruppeninternen Anteile zu benennen.

„Die Säkularen bilden mit 56 % die Mehrheit der Bevölkerung (Westdeutschland: 53 %, Ostdeutschland: 73 %). Sie geben an, dass Religiosität in ihrem Leben keine Rolle spielt. Unter ihnen überwiegen mit 65 % die Konfessionslosen, was im Umkehrschluss aber impliziert, dass diesem Orientierungstyp durchaus auch Kirchenmitglieder angehören. 85 % aller Konfessionslosen gehören zu den Säkularen, aber auch 35 % der katholischen Kirchenmitglieder und 39 % der evangelischen Kirchenmitglieder. Unter den konfessionslosen Säkularen ist ein hoher Anteil (39 %) nicht getauft, war also noch nie Kirchenmitglied. Das Durchschnittsalter der Säkularen ist niedrig. Ihre nachbarschaftlichen Kontakte sind im Vergleich zu anderen Typen weniger eng.“

Diese Darstellung deutet bereits darauf hin, dass zwar die Gruppe der formal Konfessionsfreien den größten Anteil der Säkularen stellt, aber auch unter den formalen Kirchenmitgliedern nicht unerhebliche Anteile als „Säkular“ zu verstehen sind. Das wird noch deutlicher, wenn die genannten Anteil umrechnet werden und man sich die Anteile der weltanschaulichen Orientierungen innerhalb der formalen Gruppen betrachtet.

Innerhalb der EKD-Evangelischen wie der römisch-katholischen Kirchenmitglieder sind rund ein Drittel (31 bzw. 35 Prozent) „säkular“.

Setzt man diese Kombinationen aus formalen Zugehörigkeiten sowie weltanschaulichen Orientierungen zusammen, so ergibt sich ein buntes ‚Kaleidoskop‘:


5. Vorläufiges Zwischenfazit

Bereits aufgrund der ersten publizierten Ergebnisse kann man feststellen, dass diese „KMU 6“ einen richtungsweisenden Meilenstein darstellt. Die beiden großen Kirchen haben sich zusammengetan und weder Kosten (161 Fragen und 5.282 Befragten haben ihren Preis) noch Mühen (Beirat, SIEKD) gescheut, um eine evidenzbasierte Analyse weltanschaulicher Orientierungen in Deutschland zu erarbeiten. Mit anderen Worten, sie haben formal den Kirchenraum erstmalig verlassen und sind unter die Menschen gegangen.

In der Gesamtsicht sind viele einzelnen Ergebnisse bereits (seit langem) bekannt und sind u. a. auch auf fowid.de referiert worden. Seien es die verschiedenen Gottesvorstelllungen innerhalb der formalen Gruppenzugehörigkeiten (ALLBUS 2002) oder Darstelllungen wie „Atheisten nach Religionszugehörigkeiten“ (ALLBUS 2018). Sei es zur gravierenden Verringerung des Gottesdienstbesuchs („Glaubenspraxis: Immer weniger praktizieren ihren Glauben“ (2022) oder „Religiosität nach Religionszugehörigkeit“ (2002), ebenso wie „Lebens- und Glaubenswelten junger Erwachsener in Deutschland“ (SIEKD, 2018) mit der Grundfeststellung, dass sich nur 19 Prozent der jungen Erwachsenen in Deutschland als „religiös“ verstehen, 61 Prozent als „nicht-religiös“ sowie 20 Prozent als Unentschlossene.

Die bisherigen ersten Ergebnisse der „KMU 6“ sind gleichsam eine pointierte Zusammenfassung dieser verschiedenen Feststelllungen seitens der Forschung der Kirchen. Was diese Ergebnisse für die Kirchen, für die Gesellschaft, die Politik, aber auch für fowid bedeutet, lässt sich noch gar nicht genau feststellen – aber sie werfen Fragen auf.

- Wenn die Majorität der Bevölkerung (56 Prozent) eine säkulare Weltanschauung hat, was u. a. heißt, dass sie für kirchlich-religiöse Botschaften nicht mehr erreichbar sind, was heißt das für die Politik?

- Wenn nicht nur in den östlichen Bundesländern (73 Prozent) sondern auch in den westlichen Bundesländern (53 Prozent Säkulare) vorhanden sind, besteht die ‚sichere Bank‘ der dortigen mehrheitlichen Kirchenmitglieder auch nicht mehr?

- Wenn diese Weltanschauungsgruppe der Säkularen den jüngsten Altersdurchschnitt hat (47 Jahre) zeigt sie auch eine Entwicklung an, die sich fortsetzen wird?

- Wenn rund ein Drittel der Kirchenmitglieder als „säkular“ eingeordnet werden, sollte man sie dann nicht auch aus den Darstellungen wie „Menschen christlichen Glaubens in Deutschland“ herausnehmen?

- Wenn nur noch 13 Prozent der Bevölkerung als „kirchlich-religiös“, d. h. als im Sinne der Kirchen als „gläubige Christen“ zu betrachten sind, mit zudem höchsten Altersdurchschnitt (54 Jahre), stellen sich politische Fragen („Ethikunterricht und/oder Religionsunterricht?“) sowie öffentlich-rechtliche Fragen („Verkündigungssendungen“) u. a. m.

- Welchen Sinn bzw. welche Relevanz hat es noch, auch für die „Religionszugehörigkeiten 2022“ bei fowid, mit Darstellungen, die notgedrungener maßen bzw. traditionell auf den formalen Mitgliedschaften beruhen, wenn (schon länger) klar ist, dass sie die weltanschaulichen Orientierungen der Bevölkerung nicht angemessen darstellen?

- u. a. m.

Wann und ob diese und weitere Fragen gestellt werden und ob versucht wird, sie zu beantworten, wird sich zeigen.

Carsten Frerk