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Kirchenaustritte: Prognose 2023

Nach den ‚Rekordzahlen’ an Kirchenaustritten in den beiden Jahren 2021 und 2022, stellt sich für 2023 die Frage, ob diese hohen Austrittszahlen weiter steigen, sich verstetigen oder ob sie sich reduzieren. Anfragen bei zuständigen Amtsgerichten bzw. Statistischen Ämtern haben Zahlen für die ersten drei Quartale 2023 erbracht, die sich als Prognose hochrechnen lassen. Die Ergebnisse sind recht eindeutig.

Dieser Artikel wurde am 2.11.2023 in der Tabelle 1 ergänzt.*)

1. Tendenzen zum Kirchenaustritt
2. Bisherige Zahlen zum Kirchenaustritt im Jahr 2023 / Prognose
3. München und Frankfurt
4. Schweiz

1. Tendenzen zum Kirchenaustritt

Im Juli 2023 fragt YouGov: „Welche Gründe könnten Sie zum Austritt aus der Kirche bewegen?“ Mehrere Gründe konnten angegeben werden. „Der Missbrauchsskandal“ (49 Prozent) und „Das Zahlen der Kirchensteuer“ (43 Prozent) wurden am meisten genannt. Nur ein Viertel kann dazu nichts sagen. Für 18 Prozent gibt es keine Gründe, um aus der Kirche auszutreten, und sechs Prozent haben keine Meinung dazu.

Bereits im März 2021 war in einer Umfrage nach der Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche gefragt worden: „Große Mehrheit der Deutschen sieht Glaubwürdigkeitsverlust der katholischen Kirche in Deutschland“ und im Juni 2023 ging es um die Frage, ob die katholische Kirche ausstirbt, wenn sie sich nicht ändert?

Mehr als Hälfte (56 Prozent) stimmt dem zu, dass die katholische Kirche aussterben wird – wenn sie sich nicht ändert. In der Altersverteilung sind vor allem die Älteren dieser Meinung. Von den 45-54-Jährigen sind 58 Prozent dieser Meinung und vor allem die 55-Jahre-und-Älteren äußern ihre Zustimmung dafür mit 70 Prozent.

Die Stimmung war also Mitte des Jahres 2023 nicht gut. Würde sie sich in einer weiteren Erhöhung der Kirchenaustrittszahlen umsetzen?

2. Bisherige Zahlen zu den Kirchenaustritten im Jahr 2023 / Prognose

Diverse Anfragen bei den Amtsgerichten bzw. Statistischen Ämtern / Standesämtern der Städte erbrachten für bisher fünfzehn Städte die Zahlen für die ersten drei Quartale 2023. Die Hochrechnungen auf 2023 insgesamt erfolgte nach vorliegenden Aufschlüsselungen der Quartale für die Vorjahre. Der Anteil der 1.-3. Quartale in Frankfurt/M. belief sich auf 73 Prozent, in Düsseldorf auf 74 Prozent, in Köln und Wuppertal auf 77 Prozent, in München auf 78 Prozent sowie in Stuttgart (Mitte) auf 79 Prozent. In den anderen neun Städten wurden als Mittelwert 77 Prozent angenommen.

Eindeutig ist demnach die Prognose, dass die Austrittszahlen von 2022 nicht wieder erreicht werden. Das beruht vor allem auf den geringeren Austrittszahlen in den Metropolen München, Köln, Düsseldorf und Frankfurt, die voraussichtlich sogar geringer sein werden als 2021. In vier Städten (Wuppertal, Leverkusen, Hamm und Konstanz) sind die Austritte 2023 höher als 2022, aber in sieben Städten liegen sie zwar unter den 2022-Zahlen, aber über denen von 2021.

Insgesamt ergibt sich, dass die Anzahl der Austritte wahrscheinlich in der Größenordnung von 2021 liegen - ob mehr oder weniger wird sich zeigen -, was hieße, dass es rund +/- 640.000 Kirchenmitglieder sein werden, die ihre Kirchenmitgliedschaft 2023 beenden. Das wäre - im Zeitraum 1953-2022 – die dritt- bzw. zweithöchste Anzahl an Kirchenaustritten.

Unter Berücksichtigung der voraussichtlichen Taufdefizite / Sterbeüberschuss (rund 270.000 Kirchenmitglieder) ergäbe sich ein Mitgliederverlust für beide Kirchen von rund 900.000 Mitgliedern, was ihren Anteil – bei Annahme einer gleichbleibenden Bevölkerungszahl – auf den Bereich von +/- 46,5 Prozent reduzieren würde. Das heißt, dass die Bistümer und Landeskirchen in den drei Jahren 2021-2023 voraussichtlich rund 3,3 Mio. Mitglieder verloren haben werden.

3. München und Frankfurt

Für München und Frankfurt gibt es zu den Kirchenaustritten eine monatliche Erfassung und Berichterstattung, aus denen Parallelen und Unterschiede ersichtlich werden.

Deutlich wird, dass die höheren Austrittzahlen für das gesamte Jahr 2022 vor allem auf den Januar/Februar 2022 zurückzuführen sind, der Tiefstwert (April 2020) auf die Corona-Schließung der Sprechzeiten. Die Zahlen für das Jahr 2023 liegen die ersten drei Monate über den 2021-Zahlen, dann unterhalb. Die letzten drei Jahre (2021-2023) sind gemeinsam die drei ‚Spitzenjahre‘.

In Betrachtung der Jahre 2020 – 9/2023 wird ersichtlich, dass die ‚Hochphase der Kirchenaustritte‘ in München – mit mehr als 1.600 Austritte pro Monat bisher vom März 2021 bis März 2023 dauerte.

In Frankfurt stellt sich das Austrittsverhalten einerseits ähnlich mit München, andererseits aber unterschiedlich dar. Die ‚Hochphase‘ (mehr als 800 Kirchenaustritte) hat – abgesehen von einem Einzelwert im Januar 2020 – hat ihren ersten Gipfelpunkt ebenfalls im Januar 2022 und dauert ebenfalls bis Jahresanfang 2023. Innerhalb dieser ‚Hochphase‘ gibt es jedoch – im Unterschied zu München - eine deutliche Verringerung der Kirchenaustritte von März bis Juli 2022.

Die ‚Hochphase‘ in Frankfurt ist zudem weniger eindeutig abgegrenzt gegen die Monate davor und danach, sondern oszilliert stärker als in München. Das zeigt sich auch in den monatlichen Jahresverläufen von 2017 bis 2023

Während in München die ‚Schichtung‘ zwischen den Jahren übersichtlich ist, ist das in Frankfurt/Main weniger eindeutig. Es zeigen sich zwar die beiden ‚Gipfelpunkte‘ im April 2021 und im September 2022, in allen anderen Monaten bestehen stärkere Variationen als in München.

Die Unterschiede zwischen den Großstädten München und Köln, in denen die Zahl der Austritte sich 2023 wieder verringern, und den anderen Städten, in denen die Austritte immer noch höher als 2021 liegen - vor allem in Wuppertal, Stuttgart, Leverkusen und Konstanz, in denen die Austritte 2023 voraussichtlich die Höchstwerte darstellen – kann auch als Hinweis darauf verstanden werden, dass die Kirchenmitglieder in den Großstädten ‚schneller‘ auf und ab reagieren, während in den kleineren Städten ein ruhiger, fortschreitender Prozess von statten geht. Das wiederum könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Älteren – wie in der erwähnten YOUGOV-Umfrage Juni 2023 – die katholische Kirche weitaus kritischer sehen als die Jüngeren. Das wiederum spiegelt sich auch in den steigenden Anteilen der Kirchenmitglieder, de sich nicht mehr kirchlich beerdigen lassen.

Zwei Anmerkungen:
- In Bielefeld werden (Stand: 6. Oktober 2023) Termine für einen Kirchenaustritt erst wieder ab 1.11.2023 ab 07:00 Uhr für Januar 2024 vergeben.
- In München wurde die Kircheneintrittsstelle der Landeskirche Bayern zum 1. Oktober 2023 geschlossen.

4. Schweiz

In der Schweiz zeigt sich, wie der September-Bericht über den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche die Austrittszahlen in die Höhe treiben.

28.09.2023: „Zürich und St. Gallen - Zahl der Kirchenaustritte massiv gestiegen“ (SRF): „Seit Bekanntwerden von über 1,000 Missbrauchsfällen in den letzten 70 Jahren brodelt es in der römisch-katholischen Kirche. Es hagelt Kirchenaustritte.
Erste Zahlen gibt es aus den vier grössten Zürcher Kirchgemeinden Zürich, Winterthur, Uster, Dübendorf, die zusammen rund 145.000 Mitglieder zählen. In den letzten zwei Wochen haben hier 778 Menschen ihren Austritt gegeben. Das sind so viele, wie normalerweise innert drei Monaten.“

Oder wie der Tagesanzeiger berichtet: „Missbrauch in der katholischen Kirche: Kirchenaustritte erreichen jetzt auch die hintersten Winkel der Schweiz“. Parallel dazu schreibt katholisch.ch: „Austritte erschüttern die Kirchenlandschaft“. Schlussfolgerung: „Kirchenaustritte 2023 dürften alle Vorjahre in den Schatten stellen“.

Der Trend der vergangenen Jahre hat sich weiter fortgesetzt. Für die Katholische Kirche im Kanton Zürich illustriert die Grafik (1965-2020) den steigenden Trend:

In einer Analyse der Kirchenzeitung zu „Ursachen und Anlässe“ werden vor allem zwei „neue Tendenzen“ genannt:

„Das Bild der Austretenden verändert sich: Die grösste Einzelgruppe bleiben zwar Männer zwischen 30 und 39 Jahren, Frauen holen allerdings in dieser Altersgruppe wie auch insgesamt auf. Der Vorsprung der Männer bei den Austretenden nimmt ab. Neben dieser Geschlechterannäherung bei den Kirchenaustritten gibt es eine zweite Tendenz: Vermehrt treten auch ältere Personen aus der Kirche aus.“ […] Hier könnte wiederum die Bedeutung der Familie für die Kirchenbindung ins Spiel kommen – allerdings umgekehrt: Familie scheint nicht nur bei der Weitergabe von Kirchenbindung wirksam zu sein, sondern neu auch bei der Weitergabe von Kirchenaustritt. Früher haben die Älteren die Kirchenzugehörigkeit an die Kinder weitergegeben. Heute machen Kinder den Eltern vor, wie man aus der Kirche austritt.“

Die Einschätzungen gehen davon aus, dass die „Negativrekorde“ der Jahre 2021 und 2022 übertroffen werden. 2021 waren in der Schweiz 62.722 römische Katholiken und evangelisch Reformierte aus der Kirche ausgetreten, 2022 waren es 64.663.

Carsten Frerk, Eberhard Funk

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*) In der Tabelle 1 wurden die Daten der Städte Stuttgart, Konstanz und Hamm am 2.11.2023 hinzugefügt, wodurch sich die gleiche Größenordnung insgesamt von 2021 zu 2023 ergab. Es wird sich also zeigen, ob die Großstädte oder die kleineren Städte das Gesamtergebnis bestimmen werden.