Wertehaltungen von Geflüchteten im Vergleich
Vor einigen Wochen verwiesen wir auf die Ergebnisse der IAB-BAMF-SOEP-Befragung zu Religion und religiöser Praxis von Geflüchteten. Der entsprechende Bericht des BAMF ist ausgesprochen lesenswert. Hierbei wird ein ausgesprochen positives Bild des Integrationsgeschehens gezeichnet. Eine umfassendere Analyse der zur Verfügung stehenden Daten vermittelt allerdings eine differenziertere Perspektive, welche auf Gemeinsamkeiten, aber teils auch deutliche Werteunterschiede zur Deutschen Bevölkerung hindeutet.
Von Tobias Wolfram
Die IAB-BAMF-SOEP-Befragung
Die als Kooperationsprojekt vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB), dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und dem Sozioökonomischen Panel (SOEP) am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) durchgeführte Befragung mehrerer tausend Geflüchteter zählt zu den rigorosesten gegenwärtig zur Verfügung stehenden Datenquellen, welche die quantitative Untersuchung der Flüchtlingspopulation in Deutschland erlauben: So wurde auf Basis des Ausländerzentralregisters eine Zufallsauswahl von 3343 erwachsenen Personen befragt, welche zwischen dem 1. Januar 2013 bis einschließlich 31. Januar 2016 nach Deutschland einreisten und bis Juni 2016 Antrag auf Asyl stellten, im Rahmen einer Neuansiedlung aufgenommen wurden oder zur Gruppe der Kontingentflüchtlinge gehörten und stellvertretend für die Grundgesamtheit der 529078 in diesem Zeitraum in Deutschland angekommenen erwachsenen Geflüchteten stehen.[1] Die Interviews mit den Befragten konnten in einer von sieben Sprachen (Arabisch, Kurmandschi, Farsi, Urdu, Paschtu, Deutsch und Englisch) durchgeführt werden, teilweise wurde darüber hinaus auf Dolmetscher zurückgegriffen. Durch spezielle auditive Hilfsmittel konnten auch Personen mit mangelnder Lesekompetenz an der Befragung teilnehmen. Eine Verweigerung des Interviews fand nur in (verglichen mit Befragungen der deutschen Bevölkerung) seltenen Fällen statt, eine Gewichtung zum Ausgleich etwaiger Verzerrungen wurde vorgenommen. Insgesamt können die Daten somit als repräsentativ für die Grundgesamtheit der zwischen 2013 und Januar 2016 nach Deutschland Geflüchteten betrachtet werden. Ein detaillierter Überblick zur Stichprobenziehung und Gewichtung findet sich auf der Seite des BAMF. Die so gebildete Auswahl von Geflüchteten (intern als M3/M4 bezeichnet) bildet unter Berücksichtigung der im Datensatz vorliegenden Gewichtungsfaktoren die Grundlage unserer Analyse.[2]
Religion und Religiosität
Ein Überblick zu Religion und Religiosität der Geflüchteten liefert Ergebnisse welche sich mit jenen des o.g. Berichtes des BAMF decken: Mehr als zwei Drittel der Geflüchteten sind muslimischen Glaubens, ein knappes Fünftel Christen und nur eine Minderheit von 6 Prozen ordnet sich als konfessionslos ein.
Ein Blick auf die Religiosität zeigt, dass insbesondere die christlichen Befragten als stark religiös zu bezeichnen sind: Mehr als 80 Prozent von ihnen sehen sich als ‘stark’- oder ‘eher gläubig’. Während dieser Anteil für Muslime immer noch bei mehr als 65 Prozent liegt, ist allerdings nur eine Minderheit von 24 Prozent ‘stark gläubig’. Erwartungsgemäß sind unter den Konfessionsfreien ‘gar nicht’- oder ‘eher nicht’-Gläubige in der deutlichen Mehrheit.
Auch im Hinblick auf die Bedeutung der Religion für das eigene Wohlbefinden fallen die Antworten vergleichbar aus. Allerdings wählt durch alle Konfessionen hindurch ein größerer Anteil der Befragten die Maximalkategorie. Insbesondere bei Muslimen ist also auch für Personen, die sich nicht als ‘sehr gläubig’ bezeichnen, die Bedeutung des Glaubens für die eigene Lebenszufriedenheit hoch.
Völlig zurecht merkten wir allerdings in unserer Notiz zur IAB-BAMF-SOEP-Befragung an, dass religiöse Praxis mehr über die tatsächliche Religiosität aussagt, als eine reine Selbsteinschätzung. Die dort gezeigten Indikatoren betreffs des Engagements in religiösen Organisationen oder des Besuchs religiöser Veranstaltungen deuteten in diesem Sinne eher auf eine schwach ausgeprägte gelebte Religiosität, gerade im Vergleich von Christen und Muslimen hin.
Allerdings kann dies auch schlicht das Ergebnis kultureller und sprachlicher Barrieren sein, welche die Integration in religiöse Communities erschweren, da insbesondere Moscheegemeinden meist türkisch und nicht arabisch geprägt sind.
Glücklicherweise existieren zwei weitere Indikatoren in den Daten, welche eine individuelle religiöse Praxis abfragen und für diese Hürden in der Auslebung des Glaubens keine Rolle spielen. So ist die Gebetshäufigkeit unter Christen und Muslimen hoch. In beiden Gruppen betet mindestens die Hälfte der Geflüchteten täglich.
Im Hinblick auf Speisegebote zeigt sich hingegen ein deutlicher Unterschied zwischen den Gruppen: 80 Prozent der einer islamischen Religionsgemeinschaft angehörenden Geflüchteten berücksichtigen religiöse Speisegebote, während der Anteil für alle anderen Gruppen deutlich geringer ist. Dies mag durch die variierende Salienz entsprechender Regelungen in den unterschiedlichen Religionen bedingt sein, welche im Islam deutlich (Ramadan, Schweinefleisch) ausgeprägter sind, als im Christentum. Interessanterweise berücksichtigt auch ein auffällig hoher Anteil von Konfessionsfreien entsprechende Gebote.
Da jedoch auch jeweils ein ungefähres Drittel der Konfessionsfreien häufiger als einmal pro Woche betet, sich als ‘eher’ oder ‘stark gläubig’ sieht und Religion eine ‘wichtige’ oder ‘sehr wichtige’ Rolle für das eigene Wohlbefinden zuschreibt, ist auch dieser Anteil nicht völlig überraschend. Möglicherweise handelt es sich teilweise um Studienteilnehmer, welche die Frage nach der konfessionellen Zugehörigkeit falsch interpretierten oder sich nicht mehr dezidiert als der Religion ihrer Kindheit und Herkunftskultur zugehörig fühlen, aber für ihre individuelle Religiosität entsprechende Elemente übernahmen.
Wertehaltungen Geflüchteter
Ein wesentlicher Aspekt, welcher in der Kurzanalyse des BAMF keine Erwähnung findet, ist jedoch der Zusammenhang zwischen Religion und Wertehaltungen. Hierzu wurde den Befragten eine Liste von 13 verschiedenen Verhaltensweisen vorgelegt, deren Zulässigkeit sie auf einer Skala von 0 (Unter keinen Umständen in Ordnung) bis 10 (in jedem Fall in Ordnung) bewerten sollten. Hier zeigen sich bedenkliche Tendenzen.
Aufgeschlüsselt nach Religion sehen wir deutliche und mit Blick auf den statistischen Fehler[3] signifikante Unterschiede in der durchschnittlichen Zustimmung der Geflüchteten. Während die Einstellungen im Hinblick auf universell verurteiltes Verhalten nahezu identisch ausfallen und so Diebstahl, Korruption, Schwarzfahren und verschiedene Formen der Gewalt als absolut inakzeptabel angesehen werden, ergeben sich bei religiös umstritteneren Handlungen abweichende Einschätzungen der verschiedenen Konfessionen: Sowohl Christen als auch Konfessionsfreie sind demnach deutlich und signifikant positiver gegenüber vorehelichem Geschlechtsverkehr eingestellt als Muslime und Angehörige anderer Religionsgemeinschaften. Im Hinblick auf die Akzeptanz von Homosexualität fällt der Unterschied zwischen Konfessionsfreien und Konfessionsgebundenen noch drastischer aus. Für Scheidung, Abtreibung und Prostitution überlappen die Konfidenzintervalle der Gruppen zwar, doch eine generelle Rangordnung lässt sich trotzdem erkennen: Konfessionsfreie zeigen die größte Akzeptanz gegenüber moralisch aufgeladenen Verhaltensweisen, gefolgt von Christen, den Angehörigen anderer Religionen und schlussendlich den Muslimen.
Wenig überraschend fällt in diesem Sinne die Aufschlüsselung nach Religiosität aus: Wir sehen erneut eine Hierarchie von größtenteils signifikanten Unterschieden zwischen hoch- und areligiösen, welche insbesondere bei Sex vor der Ehe, Homosexualität und Abtreibung deutlich wird.
Insgesamt fällt die Akzeptanz der genannten umstrittenen Verhaltensweisen gruppenübergreifend bedenklich gering aus. Hilfreich wäre ein Vergleich zur deutschen Gesamtbevölkerung, welcher auf Basis der rund 30.000 Teilnehmern des sozioökonomischen Panels jedoch nicht möglich ist, da die diskutierte Itembatterie ausschließlich den Flüchtlingsstichproben vorgelegt wurde. Glücklicherweise wurden im Rahmen des World Value Survey 2013 mehr als 2.000 Deutsche repräsentativ zu ihren Werteeinstellungen befragt, wobei unter anderem exakt die gleichen Fragen zur Akzeptanz von Verhaltensweisen (allerdings auf einer Skala von 1 bis 10, was eine Reskalierung notwendig machte) verwendet wurden. Dies ermöglicht eine komparative Gegenüberstellung von Flüchtlingen und Deutschen. Hierbei wird klar, dass im Hinblick auf Selbstmord, Prostitution, Abtreibung, Homosexualität, Scheidung und vorehelichen Geschlechtsverkehr massive Unterschiede zwischen den beiden Gruppen bestehen. Für alle anderen Verhaltensweisen besteht hingegen eine starke Konkordanz, wobei die Toleranz unter Deutschen gegenüber gewissen problematische Verhaltensformen sogar minimal stärker ausgeprägt ist. Hierbei kann es sich jedoch auch um ein Artefakt einer unter den Geflüchteten (z. B. auf Grund eines persönlichen und nicht nur wie im Falle des WVS telefonischen Interviews) prävalenteren sozialen Erwünschtheit im Antwortverhalten handeln.
Während die Wertehaltungen hochreligiöser Flüchtlinge starke Unterschiede zu jenen des Durchschnitts in der Deutschen Bevölkerung aufweisen, nähern sich jene areligiöser Flüchtlinge diesem zumindest an.
Zusammenfassung
Aufbauend auf der repräsentativen Befragung von mehr als 3.000 zwischen 2013 und Anfang 2016 nach Deutschland gekommenen Geflüchteten durch IAB, BAMF und SOEP lässt sich zeigen, dass Flüchtlinge sowohl in ihrer Selbsteinschätzung als auch der individuell gelebten Praxis im Allgemeinen stark religiöse Züge aufweisen, wobei die entsprechenden Tendenzen bei Christen noch ausgeprägter sind als bei Muslimen. Erwartungsgemäß zeigen konfessionsfreie und areligiöse Geflüchtete eine deutlich schwächere religiöse Praxis.
Im Hinblick auf Wertehaltungen sind konfessionsfreie und areligiöse Geflüchtete zudem deutlich freiheitlicher eingestellt als insbesondere muslimische oder einer anderen Religion zugehörige, Christen bewegen sich dazwischen. Die (nur eine absolute Minderheit von 6 Prozent der Geflüchteten ausmachenden) konfessionsfreien und areligiöse Geflüchteten sind somit deutlich näher am Durchschnitt der Bundesbevölkerung.
Selbstverständlich handelt es sich hierbei nur um eine Momentaufnahme. Langfristig muss analysiert werden, inwieweit eine Angleichung von Werten über alle Gruppen von Geflüchteten hinweg zu für Deutschland typische Einstellungen stattfindet. Trotzdem unterstreichen die Daten die Notwendigkeit verstärkter Aufklärung zur Förderung der Integration und Assimilation hochreligiöser Geflüchteter und zeigen, dass insbesondere konfessionsfreie und areligiöse Geflüchtete (für welche die Asylbewilligung oftmals unnötig erschwert ist) im Hinblick auf die hier abgefragten Verhaltensweisen über eine vergleichsweise hohe Kompatibilität mit unseren Einstellungen und Werten verfügen.
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[1] Personen, die nicht im Ausländerzentralregister gemeldet sind, bis Juni 2016 noch keinen Asylantrag stellen (konnten) oder bei ihrer Ankunft fälschlicherweise als minderjährig eingeordnet wurden, sind somit nicht berücksichtigt.
[2] Eine 2017 durchgeführte Erweiterung der Stichprobe fließt nicht in die Ergebnisse ein, da nicht alle der hier betrachteten Inhalte von dieser Gruppe abgefragt wurde. Etwaige Abweichungen zu Zahlen des oben erwähnten Berichtes zu Religion und religiöser Praxis des BAMFs sind für Informationen, die für beide Stichproben vorliegen, hierdurch zu erklären, insgesamt aber minimal.
[3] 95 Prozent-Konfidenzintervall unter Berücksichtigung des gewichtungsbedingten Design-Effektes.