Identitätskonflikte in Europa
Fowid-Notiz: Eine Forschergruppe der Universität Münster hat in vier europäischen Ländern (u. a. in Deutschland) nach Einstellungen und Sichtweisen zu Gesellschaft und Politik befragt und zwei Gruppen ‚herausgefiltert‘, die sich in ihren Weltanschauungen diametral positionieren: Die „Verteidiger“ und die „Entdecker“.
In einem Arbeitspapier zu den ersten Ergebnissen: „Working Report: Von Verteidigern und Entdeckern: Ein Identitätskonflikt um Zugehörigkeit und Bedrohung.“ haben die fünf Forscher ihre interdisziplinären Befunde (Psychologie, Soziologie und Politikwissenschaft) vorgestellt. Zum Forschungsansatz heißt es dazu:
„In der Tat lassen sich in der öffentlichen Diskussion zunehmend Streitpunkte ausmachen, die sich beispielsweise an Themen der Immigration, des Multikulturalismus sowie der Öffnung nationaler Grenzen entzünden. Im Kern scheint es dabei um Identitätsfragen wie die nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit und Abgrenzung zu gehen. Offenbar werden mit diesen Diskussionen um Identität immer mehr auch Fragen der gesellschaftlichen und politischen Teilhabe unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen verknüpft. Die Aufspaltung der Gesellschaft in durch ihre Identitätsvorstellungen charakterisierte Lager und deren Koppelung mit Wahrnehmungen gesellschaftlicher und politischer Vertretung sind jedoch bisher empirisch nicht systematisch nachgewiesen worden.“
In vier Ländern (Deutschland, Polen, Frankreich, Schweden) wurden 5.011 Personen befragt. In Deutschland fand die Befragung (durch Kantar) – im Rahmen des Projektes „Bedrohungswahrnehmungen, Zugehörigkeitsgefühle, Akzeptanz demokratischer Herrschaft: eine neue religiös konnotierte Konfliktlinie in Europa?” – vom 9. November bis zum 18. Dezember 2020 statt.
„Entdecker befürworten ein offenes Zugehörigkeitskonzept und fühlen sich durch Fremde (Muslime, Geflüchtete) nicht bedroht. Sie sehen sich zudem selbst als gut repräsentiert, also eher als nicht marginalisiert an, sind eher zufrieden mit der Demokratie im Land und vertrauen eher politischen Institutionen. Verteidiger hingegen stehen mit hoher Wahrscheinlichkeit eher für ein enges Konzept der Zugehörigkeit, fühlen sich eher durch Fremde bedroht und gesellschaftlich marginalisiert, sie sind unzufriedener mit der Demokratie im Land und misstrauischer gegenüber politischen Institutionen.“
Die Ergebnisse zeigen, dass sich
1. „ein substantieller Teil der Bevölkerung in zwei Lager aufspaltet, die sich in ihren Identitätskonzepten – gemessen zum einen über eine enge vs. offene Konzeption von Zugehörigkeit und zum anderen über einen hohen vs. niedrigen Grad der Wahrnehmung von Bedrohung durch ethnisch-religiös definierte Fremde – unterscheiden. Wir nennen diese Lager Entdecker und Verteidiger.“
2. „dass sich diese Lager auch hinsichtlich ihrer Wahrnehmung von gesellschaftlicher Marginalisierung und ihrer Einschätzung der politischen Repräsentation diametral voneinander abheben.“
3. „dass sich Entdecker und Verteidiger wesentlich in relativ stabilen kulturellen, religiösen und psychologischen Eigenschaften unterscheiden.
4. „dass die Positionierung im Konflikt als Entdecker bzw. Verteidiger Auswirkungen auf die gewünschte Form der Demokratie in der Bevölkerung hat.“
In Deutschland gibt es demnach 14 Prozent „Entdecker“ und 20 Prozent „Verteidiger“. Die „Entdecker“ zeigen dabei ein geringes religiös-ethnisches Zugehörigkeitskonzept und niemand von ihnen fühlt sich marginalisiert, man ist mit der Demokratie eher zufrieden und vertraut politischen Institutionen. Für die „Verteidiger“ gilt das Gegenteil.
Der beteiligte Politikwissenschaftler Bernd Schlipphak hat in einem SPIEGEL-Interview erläutert, warum die Polarisierung und gegenseitige Ausgrenzung in Deutschland fortschreitet.
Weitere Studien
Hinsichtlich der allgemeinen Thematik und Fragestellung einer „gesellschaftlichen Spaltung“ sind in den vergangenen Monaten die Ergebnisse mehrerer Umfragen publiziert worden, so. u. a. zu Qanon, Coronaleugnern und Verschwörungensphantasien.
“Three Components of the QAnon Conspiracy Movement” nennt das PRRI-Institut (Public Religion Research Institute) die Ergebnisse der Befragung im Mai 2021 in den USA.
Das Thema der „Verschwörungsverfechter“ wird auch im Projekt: „Der Glaube an Verschwörungstheorien: Zur Rolle von Länderkontexten und Eigenart der Verschwörungstheorie“ der Universität Münster mit Umfragen in Deutschland, Jordanien und Polen analysiert.
An der Universität Basel wurde als Preprint die ersten Ergebnisse der Studie „Politische Soziologe der Corona-Proteste“ vorgelegt. In einer Zusammenfassung „Corona-Protestbewegung steht dem etablierten politischen System fern“ heißt es u. a.:
„Die Bewegung der Coronakritiker und -kritikerinnen ist intern heterogen. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass es sich mehrheitlich um gebildete Angehörige der Mittelschicht handelt. Es handelt sich um eine relativ alte und relativ akademische Bewegung. Das Durchschnittsalter der Umfrageteilnehmenden beträgt 47 Jahre, 31 Prozent haben Abitur und 34 Prozent einen Studienabschluss. […]
Es gibt zudem unter den Studienteilnehmenden eine Neigung zum Antisemitismus. Dies ist insofern nicht überraschend, da in der Protestbewegung eine Anlage zum verschwörungstheoretischen Denken existiert – und dieses häufig antisemitische Züge aufweist. Insgesamt sind die Teilnehmenden jedoch weder ausgesprochen fremden- oder islamfeindlich, teilweise sogar eher antiautoritär und der Anthroposophie zugeneigt.“
Dieser Darstellung einer „relativ akademischen Bewegung“ widerspricht eine Befragung der Organisation dpart in: „Wer glaubt an Corona-Verschwörungsmythen?“
Auch die Konrad-Adenauer-Stiftung hat sich mit Verschwörungsphantasien beschäftigt: „Sie sind überall. Eine repräsentative Umfrage zu Verschwörungstheorien.“
Und das Magazin Spektrum der Wissenschaft stellte im Mai 2021 fest: „Dogmatiker denken langsamer.“
„Obwohl die menschliche Existenz von Ideologien umhüllt ist, ist bemerkenswert wenig über die Beziehungen zwischen ideologischen Einstellungen und psychologischen Merkmalen bekannt. Noch weniger ist darüber bekannt, wie kognitive Dispositionen – individuelle Unterschiede in der Art und Weise, wie Informationen wahrgenommen und verarbeitet werden – die ideologischen Weltanschauungen, die Neigung zu extremistischen Überzeugungen und den Widerstand (oder die Empfänglichkeit) gegenüber Beweisen beeinflussen.“
(CF)