Sie sind hier

36. Kirchentag und Teilnehmerzahlen

Über die Teilnehmerzahlen zum Höhepunkt und Abschlussgottesdienst des 36. Deutschen Evangelischen Kirchentages (DEKT) in Wittenberg gibt es Diskussionen. Die ‚magische Zahl‘ der Größenordnung sind mehr als 100.000 Teilnehmer. Laut DEKT sollen es 120.000 gewesen sein. Die Frage ist: Hat die Leitung des DEKT korrekte Zahlen genannt? Eine Frage der Glaubwürdigkeit.

Diese Zahl ist für den DEKT wichtig, nicht nur als Erfolgsmeldung zur Wichtigkeit des Ereignisses, sondern auch, um zukünftig dieselbe finanzielle Förderung durch öffentliche Steuergelder zu erhalten.

Eine kurze Chronologie

Anfang Dezember 2016 wurden für den Abschlussgottesdienst Zahlen von der Staatsseite (Innenministerium Sachsen-Anhalt) genannt: 300.000 Teilnehmer.

„Ohne Unterstützung von Bundes- und Länderpolizeien könne der Ansturm nicht bewältigt werden. Für die Unterstützung sind bereits 500.000 Euro verplant. Zudem soll für den Zeitraum des Kirchtags eine Urlaubssperre für Sachsen-Anhalts Polizisten verhängt werden.“

Ende März 2017 wird eine erwartete Teilnehmerzahl von 200.000 genannt.

Der Deutschlandfunk schreibt am Morgen des Abschlussgottesdienstes, dass „bis zu 100.000 Besucher erwartet“ werden.

Schließlich wird seitens des DEKT offiziell von 120.000 Teilnehmern gesprochen.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), die diese Teilnehmerzahl als Angabe des Veranstalters berichtet, schreibt selber „Zehntausende feiern Abschlussgottesdienst in Wittenberg.“ Identisch formuliert der SPIEGEL: „Zehntausende feiern Abschlussgottesdienst“. Ebenso das ZDF und weitere Medien.

Auch Matthias Kamann von der WELT,  der eine evangelische Journalistenschule besucht hat und nicht im Verdacht steht, übertrieben kirchenkritisch zu sein, zweifelte bei seinem Bericht aus Wittenberg die DEKT-Angabe von 120.000 offen an und meinte, beim Abschlussgottesdienst seien nicht viel mehr Teilnehmer als bei Obama gewesen – das wären sicher unter 100.000.

Auch evangelisch.de widmet sich dieser Frage und findet das „Hickhack um Besucherzahlen“ unwürdig: „Hannes Leitlein hat für Christ & Welt nachgeforscht [Wittenberg, 11:02 Uhr: Wie wurden daraus 120.000?], unter anderem mit den Luftbildern vom DLR und der Unterstützung der Forschungsgruppe ‚Durchgezählt‘ aus Leipzig, die sonst Pegida-Zahlen überprüfen. Seine Nachforschungen blieben allerdings auch bei einem offenen Schluss: Es müssten demnach in der Stunde vor Beginn des Gottesdienstes noch 70.000 Menschen zusätzlich auf das Festgelände gekommen sein, um auf diese Zahl zu kommen. Alle Besucher vor Ort, mit denen ich selbst gesprochen habe, sagen: Da kamen auch noch sehr viele, knapp zum Beginn des Gottesdienstes oder danach, weil die Wege so weit waren. Hannes Leitlein zitiert Hartwig Bodmann, Geschäftsführer des Vereins, es gehe bei einem Kirchentag ohnehin nicht um Zahlen, sondern um Wirkung und Symbole. Das stimmt. Deswegen ist der Hickhack um die Besucherzahlen beim Festwochenende unwürdig.“

Dabei waren geringere Besucherzahlen absehbar.

Am Samstagnachmittag – dem Tag vor dem Abschlussgottesdienst – wurde bekannt, dass erst 10.000 Tickets für die Sonderzüge gekauft wurden, mit denen laut Planung bis zu 100.000 Menschen nach Wittenberg gebracht werden sollten. Und am Sonntag Vormittag hieß es für Züge aus Dessau: „Die Mehrheit der Sitze in den Zügen blieb am Vormittag weiterhin leer“, ebenso wie die aus Magdeburg.

Und am frühen Morgen meldet die Mitteldeutsche Zeitung: „7:12 Uhr. Die Deutsche Bahn setzt Shuttle-Züge ein, um die Besucher zum Kirchentag nach Wittenberg zu bringen. In Leipzig gibt es allerdings um diese Zeit kaum Andrang am Bahnhof, nur 13 Leute sitzen im ersten Shuttle nach Pratau, Tickets sind für zehn Euro am Bahnsteig erhältlich. Auch die Züge aus Magdeburg sind im Moment noch nahezu leer.“

Die Schweriner Volkszeitung schreibt: „Nach Angaben der Veranstalter nahmen daran rund 120.000 Menschen teil – darunter auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Rainer Haseloff (CDU). Die vom Trägerverein des Reformationsjubiläums verbreiteten Zahlen sind jedoch mit einer gewissen Vorsicht zu genießen: Die Shuttlezüge, die die Besucher am Morgen von Berlin nach Wittenberg bringen sollten, verkehrten oft weitgehend leer, und um 11 Uhr, eine Stunde vor Beginn, waren erst 50.000 Menschen auf dem Festgelände gezählt worden.“

Um 11:57 Uhr notiert der mdr: „Glocken läuten auf Festgelände. Die Veranstalter rufen die etwa 70.000 Gäste zum Innehalten auf.“

Um 12:34 meldeten die Veranstalter: “120.000 Besucherinnen und Besucher beim Festgottesdienst”.

Es ist jedoch nicht nachvollziehbar, dass sich der Besucherzustrom während der vergangenen 30 Minuten schlagartig mehr als verdreifacht haben soll: In dieser Zeit sollen, dem DEKT zufolge, 50.000 Menschen auf das Gelände gelangt sein. Das wären über 100.000 pro Stunde – die Kontrollen waren für 50.000 pro Stunde ausgelegt.

Die Zahlen des DEKT erscheinen aus zwei Gründen zweifelhaft.

Erstens: In der Stunde vor dem Gottesdienst sollen 20.000 Menschen auf das Gelände gelangt sein. Man wird annehmen dürfen, dass zu dieser Zeit der Besucherzustrom sein Maximum erreicht hatte, oder zumindest kurz davor war. Immerhin wurde aufgrund der Terrorgefahr jeder Besucher kontrolliert. Es ist dann nicht recht nachvollziehbar, dass sich der Besucherzustrom während der nächsten 45 Minuten schlagartig mehr als verdreifacht haben soll: In dieser Zeit sollen, dem DEKT zufolge, 50.000 Menschen auf das Gelände gelangt sein – das wären über 66.000 Menschen pro Stunde.

Zweitens: Die 50.000 zusätzlichen Teilnehmer hätten bei der Fernsehübertragung des Gottesdienstes beobachtbar sein müssen. Zwar zeigte die Kamera immer nur einen kleines Ausschnitt des Geländes, den vor der Bühne, aber dort war während der gesamten Übertragung noch so viel Platz, dass zu erwarten gewesen wäre, dass die zusätzlichen Besucher dorthin geströmt wären. Sollen sich die 50.000 fast alle außerhalb des Kamerabereichs aufgehalten haben, möglichst weit weg von der Bühne?

Annäherung an die wahrscheinliche Teilnehmerzahl

Da GPS-Daten nicht vorlagen, um zu wissen, wie groß das Gelände war, konnte mit Google-Earth (anhand der beiden Buhnen, die in die Elbe ragen, und der Kante des Seitenarms) die Fläche skaliert werden.

Die Abschätzung vereinfacht sich dadurch, dass der “befüllte” Teil des Geländes ein Kreissegment ausmacht. Der Kreisdurchmesser ist rd. 650m (geschätzt anhand der Distanz über die Buhnen am rechten Elberand, gemäß Google Earth), und wenn man großzügig mit einem Drittelkreis rechnet, wäre dieser Bereich rd. 110.000 qm groß. Setzt man noch 10.000 Leute für die Tribüne an, müsste also (bei 120.000 Teilnehmern) die Dichte auf der Wiese durchgängig 1 Person pro Quadratmeter betragen.

Die Abschätzung erscheint plausibel, denn es wurde wohl für 200.000 geplant, und die sichere Menschenmenge ist 2 Personen pro Quadratmeter, das passt also gut. Die früher einmal erwarteten 300.000 Gäste hätten auf dem Gesamtgelände auch Platz gehabt.

Bei der Abschätzung der Teilnehmerzahl war außerdem die Internetseite eines Experten zur Menschenmengenabschätzung hilfreich, der einen Menschenmengen-Simulator hat, wo man visuell einen Eindruck erhält, wie Menschenmengen einer bestimmten Dichte aussehen.

Da nun die Größe der Wiese bekannt ist, kann man, statt zu zählen, die Menge anhand der Dichte abschätzen.

Zunächst ist es offenbar so, dass Dichten bis zu 1 Person/qm als „free flowing” gelten – das dürfte für den Großteil der Festwiese gelten – und bei 1,5 Personen/qm spricht man von “stabil”. Die (vermutlich noch “sichere”) Kapazität liegt bei 3.

Eine Dichte von 1 Person/qm sieht so aus:

Um die Dichte auf der Festwiese zu schätzen, muss beachtet werden, dass die Menge in unterschiedlichen Bereichen unterschiedlich dicht ist. Dazu wurde die Fläche in mehrere “Ringe” unterteilt, die auf den Bildern vom Veranstaltungsort zu sehen sind, und unterschiedliche Dichten angesetzt. (Siehe Tabelle unten)

Auf der Tribüne sollen sich etwa 6.000 Blechbläser befunden haben. Da waren aber noch weitere Musiker, z. B. Streicher. Insgesamt sollen 15.000 Musiker mitgewirkt haben. Die Bestuhlung im weißen VIP-Bereich vor der Bühne soll auf 4.000 ausgelegt gewesen sein. Dass dürften Maximalansätze sein.

Außerhalb des VIP-Bereichs beginnen die “Ringzonen” auf der Wiese, deren Breite abgeschätzt wurden:

In Ring 1 wurde als Ausgangsbasis eine Dichte von 2 Personen pro qm angesetzt. In der Fernsehübertragung sieht man, wie die Leute da ca. um 13 Uhr stehen, jeder hat mindestens einen halben qm für sich – 2 Personen pro qm dürften also wohlwollend sein.

Nach dem Abgleich mit den Simulatorbildern erscheint 1,5 Personen pro qm realistischer.

Schon auf Ring 2 ist die Dichte aber deutlich unter 1 Person pro qm. Neben dem großem Kreuz, wo die Dichte eher hoch ist, dürften es weniger als 0,5 Personen pro qm sein:

Als Vergleich können die Picknickdecken dienen, die der Kirchentag verkauft hat – hier die pink-violette. Diese Decken sind 2,1 qm groß.

Man wird also für die beiden äußeren Ringe 0,5 Personen pro qm ansetzen dürfen und dabei schon großzügig sein. Berechnungsbasis sind (bis auf Tribüne und VIP-Bereich) die jeweiligen Quadratmeter der Kreisflächen. Damit kommt man auf knapp 81.000 Teilnehmer – das entspricht der Größenordnung, die Matthias Kamann in der WELT benannt hatte.

Geht man dann noch davon aus, dass die Musiker auf der Tribüne und die Personen im VIP-Bereich in offizieller Funktion dort waren, so reduziert sich die Zahl der normalen Teilnehmer/Gäste auf rund 62.000.

(CF/MK)