Anthroposophen und Nicht-Geimpfte
In der Debatte um unterdurchschnittliche Impfquoten in den östlichen Bundesländern sowie in Baden-Württemberg und Bayern wird, weit zitiert, dargelegt, dass es in Baden-Württemberg vor allem die Anthroposophen seien, die diese geringe Impfbereitschaft bewirken würden. Das führt zu den Fragen: Wie viele Anthroposophen gibt es in Deutschland bzw. in Baden-Württemberg? Und: Gibt es für diese Zuweisung einer Verantwortlichkeit empirische Belege?
1. Das Thema
2. Anthroposophie und Impfen
3. Baden-Württemberg und Nicht-Geimpfte
4. Umfragen zu Nicht-Geimpften
5. Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland
6. Anthroposophische Bewegung
7. Fazit
1. Das Thema
In der vom Robert-Koch-Institut tagesaktuell veröffentlichten „Tabelle mit den gemeldeten Impfungen nach Bundesländern und Impfquoten nach Altersgruppen“ wird deutlich, dass alle östlichen Bundesländer, aber auch die beiden großen Bundesländer Baden-Württemberg und Bayern, unterdurchschnittliche Impfquoten haben.
In der Suche nach Erklärungen waren die östlichen Bundesländer unter AfD-Einfluss ‚abgehakt‘, wie im SPIEGEL: „Je AfD, desto Corona“, in der Analyseergebnisse des Forschungsinstituts für gesellschaftlichen Zusammenhalt referiert werden.
„Der Befund der Fachleute ist deutlich: Je höher das AfD-Zweitstimmenergebnis bei der Bundestagswahl 2017 in einer Region ausfiel, desto schneller verbreitete sich dort 2020 das Coronavirus.“
Für Baden-Württemberg und Bayern gibt es dazu keine Daten, aber es wurden mehrfach Darstellungen in den Medien verbreitet, dass es der Einfluss der Anthroposophen sei, die für diese unterdurchschnittliche Impfquote verantwortlich seien. Das ist nun die Frage.
2. Anthroposophie und Impfen
Die Literatur über das Werk Rudolf Steiners kann man mittlerweile als unüberschaubar beschreiben. Die Frontlinien zwischen den Kritikern bzw. den Verteidigern der Anthroposophie verlaufen dabei jedoch übersichtlich zwischen einem klaren Pro bzw. Kontra.
Aktuell verläuft die Frontlinie entlang der Frage der Impfungen in der Corona-Pandemie. Eine Kontra-Position vertritt u. a. Tobias Rapp in SPIEGEL Online: „Waldorfschule und Impfgegner. In Steiners Sekte“. Es ist die Sichtweise eines ehemaligen Waldorfschülers, also eines Betroffenen. Das klingt erst bedrohlich, da die Anthroposophen „überall mitmischen“, dann wird es “gefährlich“, weil es eine Impfskepsis „anthroposophischer Kreise“ gäbe, „ihres harten Kerns zumindest“.
„Überall in Erziehung, Körperpflege, Ernährung und Gesundheit mischen Anthroposophen mit. Sie selbst glauben, sich für eine bessere Welt einzusetzen. Eine Welt, in der Kultur und Natur nicht mehr im Widerspruch sind, Arbeit und Kapital, Glaube und Wissen. Man könnte aber auch einfach sagen: Sie sind eine christliche Sekte. […] Das könnte man nun alles unter der Art von Spinnerei abbuchen, auf die jeder Bürger und jede Bürgerin ja ein gutes Recht hat. Es wird jedoch gefährlich, wenn es ums Impfen geht.
Rudolf Steiner glaubte nämlich, dass Krankheiten ihren Sinn im karmischen Geschehen haben. Fieber könnte etwa Kindern helfen, sich in ihrem Körper einzurichten. Wer in früheren Leben Dinge falsch gemacht habe, müsse sie unter Umständen durch Krankheit wieder ausgleichen – und wer sich impfe, der könne taub werden für die karmische Botschaft. Wer die entsprechenden Passagen bei Steiner liest, lernt, dass alle Krankheiten vor allem geistig bekämpft werden müssen. »Vollständiges Bewusstsein« könne dabei »ebenso gut wirken« wie eine Impfung.
Daher rührt die Impfskepsis der anthroposophischen Kreise – ihres harten Kerns zumindest.“
Belege, Größenordnungen, Daten? Keine. Wie viele Anthroposophen gibt es überhaupt in Deutschland bzw. in Baden-Württemberg? Und was heißt „harter Kern“? Zwanzig, zweihundert, zehntausend? Und die Anthroposophen hätten einen großen Einfluss. Inwiefern? Wodurch? Durch die gutmeinenden, aber nichtsahnenden Eltern?
„Die vielen jungen Eltern, die sich als irgendwie grün empfinden, stehen der Anthroposophie wahrscheinlich näher, als ihnen bewusst ist. Und so haben die Lehren des Doktor Steiner größeren Einfluss auf unsere Gesellschaft, als viele ahnen. Solange es um Holzspielzeug ging oder Kügelchen gegen Blähungen, waren die politischen Auswirkungen dieser Nähe ebenso schwer nachweisbar wie die der Homöopathie selbst – bei der Pandemie ist das nun ein bisschen anders.“
Dieser Artikel wurde vom ZDF aufgegriffen: „Impfskepsis: Sind Anthroposophen mitschuldig?“ - wobei die Sichtweise einer „Schuld“ bemerkenswert ist – ebenso wie das Interview des Soziologen Oliver Nachtwey im Deutschlandfunk: „Niedrige Impfquoten“, „dass die Anthroposophie und die Esoterik im deutschsprachigen Raum ‚ein ganz wichtiger Faktor‘ beim Impfen seien.“
Dagegen haben sich die Anthroposophen zur Wehr gesetzt. In der „Stellungnahme der Anthroposophischen Medizin zu Impfungen“ der Medizinischen Sektion am Goetheanum und der Internationalen Vereinigung Anthroposophischer Ärztegesellschaften (IVAA) heißt es als Überschrift: „Anthroposophische Ärzte sind keine Impfgegner, sondern für eine integrative, individuelle Impfentscheidung.“
Das anthroposophische Medizinverständnis sieht sich selbst als eine evidenzbasierte, naturwissenschaftliche „Schulmedizin“, die zur „Humanmedizin“ erweitert wird, indem sie den Menschen als Individuum betrachte. Darauf wird auch im Selbstverständnis der anthroposophisch zertifizierten Ärzte Wert gelegt, dass alle naturwissenschaftlich ausgebildet seien. Anschließend wird jedoch auf die „Informationen zur Impfpflichtdebatte“ mit dem Internetportal „Ärzte für individuelle Impfentscheidung e.V.“ verlinkt, auf der es (am 4.1.2021) unter „#2Ggehtgarnicht“ heißt: „Wir erleben gerade Unvorstellbares!“
„Besuche in Restaurants, Theatern, Fußballstadien und Kinos (und wer weiß, was demnächst noch alles dazukommt) sind bald nur noch Menschen möglich, die sich gegen Covid-19 haben impfen lassen – jede Form von sozialer Teilhabe, von Sozialleben überhaupt ist in Zukunft an die Bereitschaft geknüpft, auf das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit zu verzichten.
Schon die verniedlichend „3G-Regel“ genannte Verordnung verletzt zutiefst das Selbstbestimmungsrecht der Menschen – und das zu einem Zeitpunkt, an dem Nachbarländer (Dänemark, Niederlande, Schweden, England) mit absolut vergleichbarer Situation sämtliche Pandemiemaßnahmen beenden.
„2G“ aber bedeutet eine Impfpflicht für die gesamte Bevölkerung, denn auch von Covid-19 Genesene (das „zweite G“) genießen die Privilegien uneingeschränkter Menschenrechte nur dann, wenn sie sich spätestens sechs Monate nach ihrer Erkrankung impfen lassen. […] Wir unterstützen über unsere bewährten Anwälte ausgewählte Klagen gegen 2G-Regelungen vor Gericht - sowohl mit unserer Expertise als auch finanziell.“
Stichworte sind „körperliche Unversehrtheit“ und „uneingeschränkte Menschenrechte“. Die ethischen Aspekte der Mehrdimensionalität von allen Weltanschauungen verengen, mit einer derartigen Auffassung, das geforderte Selbstbestimmungsrecht – im Gleichklang mit anderen religiösen und dogmatischen Eiferern oder Aktivisten –, in das Absolutum eines einzigen Kriteriums, hier der eigenen körperlichen Unversehrtheit, die verleugnet, dass andere Menschen genau das gleiche Recht auf Unversehrtheit haben. Damit werden Vorbehalte gegen die Anthroposophie bekräftigt.
Dass die Anthroposophen „Impfgegner“ seien, dem wird auch medial (im ZDF) widersprochen. Ebenso hat das Goetheanum (die Zentrale der Anthroposophen) diesen Zuweisungen in einer gemeinsamen Erklärung anthroposophischer Einrichtungen widersprochen: „Es gibt keinen Schulterschluss zwischen rechten Ideologien und der Anthroposophie.“ Dazu steht allerdings in Widerspruch, dass Georg Soldner, Co-Leiter der Medizinischen Sektion am Goetheanum und Kinderarzt, aktuell (29.10.2021), auf der Internetseite des Goetheanums, unter dem Titel: „Freiheit braucht den Dialog“ fordert, dass jeder Impfung eine vorherige saubere Untersuchung der Impffähigkeit vorauszugehen haben und es eine individuelle Impfbegleitung geben müsse.
„Die grundsätzliche Politik ist darauf ausgerichtet, allen Ungeimpften Angst zu machen und sie zum Impfen zu bewegen. […] Und ich möchte hervorheben, dass jede Impfung eine sehr sorgfältige, individuelle Impfbegleitung haben sollte. Dass der Impfbus vorfährt und irgendjemandem etwas in den Oberarm spritzt, halte ich für unverantwortlich. Bei vielen Menschen, auch solchen, die nicht die besten Voraussetzungen haben, geht die Impfung gut. Aber es gibt auch die anderen, für die es nicht infrage kommt wegen der Impfrisiken. Aus vergangenen Impfschaden-Prozessen wissen wir: Es drohen am ehesten Impfkomplikationen, wenn die geimpfte Person selber die Impfung nicht will oder wenn die Impffähigkeit vorher nicht sauber untersucht wurde. Das zeigt mir, wie gefährlich es ist, den freien Impfentscheid staatlich auszuhebeln.“
Solche unrealisierbaren Positionen befördern die Sichtweise, dass Funktionäre der Anthroposophen zumindest zu den Impfskeptikern gehören. Diese Unklarheit kann auch nicht dadurch aufgelöst, dass ebendieser Georg Soldner, als Leiter der GÄAD-Akademie in München, erklärt: „Anthroposophische Ärzteschaft zu Covid: Wir sind Teil der Lösung.“ Dabei wird zum einen auf die Behandlung von Covid-Patienten in anthroposophischen Krankenhäusern verwiesen, zum anderen aber wieder „für eine freie und verantwortungsvolle Impfentscheidung ausgesprochen“. Bestärkt wird diese Einschätzung der Anthroposophen wiederum durch Vorkommnisse wie an der Freiburger Waldorfschule in St. Georgen, bei der 55 gefälschte Maskenbefreiungs-Atteste festgestellt wurden und nach einer Schulfeier 117 Corona-Infektionen auftraten.
Wer sich jedoch in der Kritik an der Anthroposophie auf solche Positionen beschränkt, übersieht dabei, dass Rudolf Steiner sich (1924) selber hat gegen Pocken impfen lassen. Insofern besteht auch „kein dogmatisches Impfverbot“.
3. Baden-Württemberg und Nicht-Geimpfte
Der Zusammenhang zwischen dem unterdurchschnittlichen Anteil der Nicht-Geimpften und „den Anthroposophen“ in Baden-Württemberg wurde von verschiedenen Seiten thematisiert.
Ein wesentlicher Impulsgeber ist die Studie von Nadine Frei/Oliver Nachtwey: „Quellen des „Querdenkertums“. Eine politische Soziologie der Corona-Proteste in Baden-Württemberg“, Herausgeber: Fachbereich Soziologie, Universität Basel. 78 Seiten, 2021, im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung Baden-Württemberg. Wie der Titel es bereits sagt, sollen die „Quellen“ dargestellt werden. Dazu werden „vier Milieus untersucht, die in Baden-Württemberg eine ideelle und institutionelle Verankerung aufweisen: 1. Das Alternativmilieu, 2. das anthroposophische Milieu, 3. das christlich-evangelikale Milieu und 4. das bürgerliche Protestmilieu.“ Den Anthroposophen wird eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Dazu wird eingangs eine Unterscheidung in drei Gruppen vorgenommen.
„Zur ersten Gruppe, den orthodoxen Anthroposoph:innen, zählen jene, die Steiners Lehre als objektive Wahrheit begreifen und sich gegen jegliche Kritik kämpferisch zur Wehr setzen. Zur zweiten Gruppe gehören unorthodoxe Anthroposoph:innen, die zwar von seiner Lehre ausgehen, diese aber historisch verorten und in vielen Bereichen Weiterentwicklungen an-streben. Schließlich gibt es eine dritte Gruppe, die sich auf einzelne Ideen Steiners bezieht, jedoch die Ganzheit seiner Lehre gar nicht kennt oder sogar ablehnt.“
Das wird dann jedoch nicht weiter ausgeführt. Weder, wie große diese Gruppen sind, noch, welchen Einfluss sie haben. Dann wird beschrieben, dass der Institutionalisierung der anthroposophischen Ideen eine besondere Wichtigkeit zukommt.
„Der Einfluss anthroposophischer Ideen hängt maßgeblich mit ihrer Institutionalisierung zusammen, die vor allem in Baden-Württemberg stark ausgeprägt ist. Beispielsweise befinden sich in Baden-Württemberg rund ein Viertel aller Waldorfschulen der BRD (59 von 236), die Hälfte der anthroposophischen Kliniken (7 von 13) und ein Drittel der Demeter-Höfe (553 von 1740). Wir sehen hier einen starken Zusammenhang zur Querdenken-Bewegung. Die Praxisfelder Medizin und Waldorfpädagogik werden anhand von Expert:inneninterviews vertiefend illustriert. Sie legen exemplarisch dar, welche Kontroversen im Zuge der Corona-Pandemie in diesen Institutionen aufgekommen sind.“
Dann folgt eine ausführliche Darstellung der Geschichte der Anthroposophie. Die Zahlenangaben zur „Institutionalisierung“ werden in keinerlei weiteren Kontext gestellt, auch nicht, welche geringen Anteile sie in ihrer jeweiligen Branche haben. Danach kommt eine Übersicht zu den Praxisfeldern, zu denen sieben Expertinnen und Experten befragt werden und schließlich heißt es, dass die Anthroposophie über Wirtschaftsunternehmen „gesellschaftlich einsickert“.
Es sind „vor allem Unternehmen, welche eine große Bekanntheit genießen. Um nur einige Firmen und ihre Firmensitze zu nennen: Alnatura (Hessen), dennree (Bayern), dm-Drogeriemärkte (Baden-Württemberg), GLS-Bank (Nordrhein-Westfalen), Speick (Baden-Württemberg), Tegut (Hessen), Voelkel (Niedersachsen), Wala (Baden-Württemberg) oder Weleda (Schweiz). Dabei unterscheidet sich allerdings, welchen Stellenwert die Anthroposophie in diesen Unternehmen ein-nimmt. […] Dabei ist auch zu bedenken, dass viele Unternehmen, um gesellschaftlich anschlussfähig zu bleiben, die Steinerschen Ideen gerade nicht offensiv bewerben. Es sind gewissermaßen Organisationen mit einer instrumentell dünnen Weltanschauung, die gleichwohl gesellschaftlich über ihre Mitglieder einsickert.“
Belege? Keine. Die Studie ist im besten Falle eine solide, interne Seminararbeit, als erste historische Übersichtsstudie zur Entwicklung von weiteren analytischen Fragestellungen. Auch eine Auswertung von 144 Fragebögen aus einer größeren Umfrage auf dem Messengerdienst Telegram erbringt nichts zu einem Zusammenhang zwischen Querdenkern/Anthroposophen und Impfbereitschaft in Baden-Württemberg.
Die Studie wird dennoch im Magazin DER SPIEGEL vorgestellt: „Die selbst ernannten ‚Erwählten‘“. Ebenso ist es Anlass für ein Interview im STANDARD (Österreich): „Warum ist die Impfquote in deutschsprachigen Ländern niedriger als in Westeuropa?“ Inhalt: „Welchen Einfluss die 68er-Bewegung, esoterische Strömungen und Waldorfschulen darauf haben, erklärt der Schweizer Soziologe Oliver Nachtwey.“ Es fehlen in dieser Aufzählung allerdings die Siebenten-Tag-Adventisten und die Deutsche Evangelische Allianz.
Auch die Stuttgarter Zeitung berichtet über die Studie: „Wer sind die Querdenker?“ ebenso wie die Badische Zeitung: „Gut ausgebildet, wohlsituiert, ichbezogen, oft esoterisch: Querdenker in Baden-Württemberg“.
„Gut ausgebildet, wohlsituiert, ichbezogen, oft esoterisch: Das sind Eigenschaften, die sich bei Angehörigen der „Querdenker“-Bewegung in Baden-Württemberg überproportional häufig finden. Einer wissenschaftlichen Untersuchung zufolge schreiben sich in ihr Einstellungen des früheren Alternativmilieus und des anthroposophischen Umfelds fort.“
Warum wird eine solche, eher interne Literaturrecherche veröffentlicht? Man kann es nur vermuten, aber der Gesundheitsminister von Baden-Württemberg hatte, wie es die FAZ in dem Artikel „Höhere Einsichten dank Rudolf Steiner?“, darstellt, die Grünen und die Anthroposophen in direkten Kontakt gebracht.
„Als Covid-19 selbst in China noch kein Thema war und die Anthroposophen sich noch nicht als Gegner der Corona-Impfungen hervorgetan hatten, machte der baden-württembergische Gesundheitsminister Manfred Lucha über das Verhältnis der Grünen zu Rudolf Steiners Lehren sowie zur Homöopathie eine Ansage: Wenn sich die Grünen von diesem Milieu trennten, dann sei das so wie wenn die Unionsparteien das „C“ aus ihrer Abkürzung strichen.“
Die Frei/Nachtwey-Studie befreit nun aber die Grünen/die finanzierende Heinrich-Böll-Stiftung von dieser Zuordnung, da das zwar für die Anfangsphase gelte, sich die Querdenker aber von den Grünen als wählbare Alternative nach rechts abgewandt hätten. Allerdings ist die in der Esoterik nahe liegende Thematik „Die Grünen und ihr Kampf um die Kügelchen“ damit noch nicht beendet.
Diese Thematik war ebenfalls bereits im Juli 2020 von Dietrich Krauß benannt worden: „Wir können alles außer impfen“: Der Zusammenhang von der Partei Die Grünen mit den Anthroposophen.
„Nirgendwo in Deutschland ist die Impfquote niedriger als in Baden-Württemberg. Will man verstehen, wo die schwäbische Impfparanoia ihren Ursprung hat, sollte man vor allem die Anthroposophie Rudolf Steiners in den Blick nehmen. […] Heute sind die Grünen die natürliche Heimat aller Anhänger alternativer Heilmethoden was politischen Gegnern immer wieder Anlass für Sticheleien gibt, vor allem angesichts der niedrigen Impfquote im grün regierten Südwesten. Doch selten gerät dabei der ‚elephant in the room‘ in den Focus: die einflussreiche Anthroposophie. Die okkulte Lehre Rudolf Steiners ist direkt aus der Bewegung der Lebensreformer hervorgegangen und verspricht bis heute ihrer Kundschaft eine andere, irgendwie natürlichere Medizin, Landwirtschaft und Schule.“
Eine Sichtweise, die sich auch in einem SWR2 Gespräch niederschlug: „Was hat die Anthroposophie mit der großen Impfskepsis in Baden-Württemberg zu tun?“
Auch gerne zitiert wird der Betreiber des Anthroposophie-Blogs, Oliver Rautenberg, dessen Blog für den Grimme Online Award 2021 nominiert wurde. Er spricht in einem Interview „Anthroposophie – falsche Versprechungen oder sanfte Alternativen?“ davon „warum gerade Anthroposophen einen so großen Teil der Querdenker-Bewegung ausmachen.“
„Die Anthroposophie zeigt sich als esoterischer Arm der Querdenker-Bewegung. Das sieht man an sehr starken verschwörungsideologischen Tendenzen in der Medizin, in der Landwirtschaft, aber vor allem in der anthroposophischen Pädagogik, denn in über 30 Städten sind Menschen aus dem Umfeld der Waldorfschulen aktiv beteiligt an Querdenken-Demonstrationen. Alle Teilnehmer, die sehr unterschiedlich sind, eint eine ideologische Klammer, sie sind im Endeffekt alle wissenschaftsfeindlich und verschwörungsgläubig. Und das ist in Teilen auch das Wirken der Anthroposophie in den letzten 100 Jahren in der Gesellschaft, gerade die Impfablehnung ist ein typisches Merkmal.“
Belege? Keine. Ebenso nicht in einem Interview mit dem Internetportal medwatch: „Die Anthroposophie ist ein Verschwörungsmythos“.
„Die Querdenker-Szene hat ja ganz viele verschiedene Gruppierungen. Darunter die wirklich besorgten Menschen, die einfach unsicher sind aufgrund der Schwierigkeiten, die wegen der Pandemie auf sie zukommen. Es sind aber auch Verschwörungsideologen dabei, die grundsätzlich Verschwörungen anhängen. Es sind Esoteriker dabei. Und natürlich auch Rechtsextreme. Ich glaube, dass sie alle so eine ideologische Klammer eint: Sie sind alle im Kern wissenschaftsfeindlich und verschwörungsgläubig. Und das ist ein Kernelement der Anthroposophie, die für mich selber ein Verschwörungsmythos ist. Die Anthroposophie ist so eng verwoben mit Alternativmedizin, mit Impf-Skepsis, mit einem Glauben an den Zusammenhang von allem mit allem, einer Weltordnung, hinter die man schauen kann, wenn man weiß, wer da die Strippen zieht. Das sind alles Punkte aus der DNA der Anthroposophie.“
Da stellt sich allerdings die Frage, wer einem Verschwörungsmythos anhängt, Herr Rautenberg oder die Anthroposophen?
4. Umfragen unter Nicht-Geimpften
Im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums führte Forsa (Oktober 2021) eine bundesweite Umfrage unter den Nicht-Geimpften durch: „Befragung von nicht geimpften Personen zu den Gründen für die fehlende Inanspruchnahme der Corona-Schutzimpfung.“ Als Gründe gegen die Annahme der Impfung werden – als spontane Nennungen – insgesamt benannt:
- Impfstoffe sind nicht ausreichend erprobt (34 %)
- Angst vor Nebenwirkungen (18 %)
- Wunsch, nach eigenem Ermessen zu handeln, Widerstand gegen Erpressung/ Impfzwang (16 %)
- Zweifel an der Sicherheit/Ungefährlichkeit der verfügbaren Impfstoffe (15 %)
- mangelndes Vertrauen in die Richtigkeit/ Ausgewogenheit der offiziellen Informationen über COVID-19 / die Corona-Schutzimpfung (15 %), sowie
- Angst vor Impfschäden und Langzeitfolgen (15 %).
Dazu hat forsa noch die Wahl-/Parteipräferenzen erfragt und stellt fest, dass zwei Drittel der Ungeimpften AfD- oder „Basis“-Wähler seien. Das sind allerdings (erst einmal) nur Korrelationen, d. h. gleichzeitig auftretende Phänomene, die jedoch keine Kausalität bedeuten. Stellt man zwischen AfD-Wählern und Impfeinstellung eine Kausalität her, so ist es wahrscheinlich eine „Scheinkausalität“, d. h. zwei Merkmale haben eine gemeinsame Ursache. Die Feststellung „Je mehr Feuerwehrleute im Einsatz, desto größer der Brandschaden“ ist zwar eine korrekte Korrelation, die gemeinsame Kausalität liegt jedoch in der Größe des Brandes begründet. Weitere Informationen zur persönlichen Weltanschauung wurden nicht gefragt.
Die Arbeit von Rainer Schnell und Sonja Haug: „Impfbereitschaft und Einstellungen zu Alternativmedizin und Verschwörungstheorien“ untersucht die Determinanten der Impfbereitschaft. (Die Feldzeit der Umfrage war 16.11–11.12.2020.)
Auf die Frage: „Wenn ein Impfstoff gegen das Corona-Virus in Deutschland zugelassen wird: Würden Sie sich impfen lassen?“ antworten 39 Prozent „Ja sicher“, 28 Prozent „Eher ja“, 19 Prozent „Eher nein“ und 14 Prozent „sicher nicht“. Zu den Gründen einer Nicht-Impfung befragt, sagen 72 Prozent „Weil ich Nebenwirkungen befürchte“, 27 Prozent „Weil ich nicht glaube, dass das Corona-Virus gefährlich für mich ist“, sowie 13 Prozent „Weil ich gegen Impfungen aller Art bin“. Hinsichtlich der Einstellung der Nicht-Geimpften zu alternativen Heilverfahren wird eine „Kovariation“ zwischen dem starken Glauben an die Wirksamkeit und einer geringer Impfbereitschaft konstatiert. Dabei wird u. a. nach Akupunktur, Homöopathie und Körpertherapien gefragt, nach Weltanschauungen wie Anthroposophie oder anderen religiösen Orientierungen jedoch nicht.
Zu einem vergleichbaren Ergebnis zur Impfbereitschaft kommt eine Umfrage des Sozialministerium Baden-Württemberg (September 2021). 40 Prozent der Nicht-Geimpften seien Impfverweigerer, rund 60 Prozent „noch unentschlossen oder zögerlich, aber grundsätzlich zur Impfung bereit.“
Die COSMO-Studien (ein Forschungsverbund mehrerer Forschungseinrichtungen) nennen in der Befragung der Welle 56 (vom 16./17.11.2021) als ein Ergebnis: „Sollten sich alle, die dazu bereit sind, auch tatsächlich impfen lassen, so ergäbe sich aus den Geimpften und den Impfbereiten eine Impfquote unter Erwachsenen zwischen 18 und 74 Jahren von 88 %.“
5. Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland
Die organisierten Anthroposophen (AAG, Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft) sind ein „Weltverein“, mit der Zentrale im Goetheanum (ein Betrieb mit 220 Mitarbeitern) in Dornach/Schweiz. Die Mitgliederzahlen werden weltweit auf 40.000 Personen geschätzt, in Deutschland sind es (lt. den Mitteilungen der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland e.V., Sonderausgabe, Mai 2021, S. 23) Ende 2020 insgesamt 11.975 Personen, davon 590 Ehrenmitglieder. Das sind 197 Mitglieder weniger als 2019 und setzt die seit Jahren sinkende Tendenz der Mitgliederzahl weiter fort. 2012 waren es noch 15.030 Mitglieder.
Dieser stetigen Verringerung der Mitgliedschaft (in acht Jahren minus 20 Prozent) mag ein fehlender Generationswechsel sein, zeigt aber ebenfalls, dass die Wahrnehmung der Walddorfschulen „zur Nachwuchsrekrutierung“ (Heiner Barz) offensichtlich nicht funktioniert.
„Eine gewisse Schlüsselrolle für die Anthroposophie kommt der Waldorfpädagogik wohl aber dennoch allein schon deshalb zu, weil die Anthroposophie damit über eigene Sozialisationsinstitutionen zur Traditionsweitergabe und Nachwuchsrekrutierung verfügt.“
Die regionalen Organisationen werden als „Zweige bezeichnet“ und Stuttgart ist mit 900 Mitgliedern ein „Großzweig“. Weitere Daten zu den regionalen Verteilungen waren nicht verfügbar.
Über die Pluralität der Mitglieder ist allerdings bekannt, dass es eine „Zerrissenheit in der Mitgliedschaft“ zwischen konservativen und liberaleren Auffassungen gibt. Ebenfalls ist bekannt, dass Anthroposophen und Waldorflehrer an Corona-Demonstrationen teilnehmen.
Über die Einzelbeispiele hinaus sind belegbare Zahlen nicht verfügbar. Und hinsichtlich von Corona heißt es: „Der Streit ist auch in dieser Szene aber noch nicht entschieden.“ Ebenso schreibt Helmut Zander: „Der Kampf zwischen einer historisch-kritischen und einer spirituellen Steiner-Deutung ist in vollem Gang – und Samthandschuhe ziehen die Kombattanten dabei nicht an.“
Ebenso bemerkt Zander, ein kritischer, interreligiöser Freund der Anthroposophie in: „Die Anthroposophie. Rudolf Steiners Ideen zwischen Esoterik, Weleda, Demeter und Waldorfpädagogik“ es sei zwar eine „esoterische Großmacht“, aber sicher sei, dass man nicht von „der Anthroposophie“ sprechen könne.
„Wegen (oder trotz) dieses „esoterischen“ Theoriegebäudes zeigt die Anthroposophische Gesellschaft ein vitales kulturelles Leben. Die Zahl ihrer regulären Mitglieder ist überschaubar, aber die Wirkung in Sympathisantenkreise und in anthroposophieferne Milieus reicht weit darüber hinaus. Im alternativkulturellen Milieu ist sie eine Großmacht. Alle Kassandrarufe, sowohl von Kritikern wie von Anthroposophen, die aus den immer wieder aufbrechenden Krisen den Untergang beschworen, sind verhallt. Steiners Ideen haben das Fieber des Okkultismusbooms um 1900 überlebt, als eine der wenigen Gruppen, und hat ihre Mutter, die Theosophische Gesellschaft, an Mitgliederzahl und gesellschaftlicher Wirkung längst in den Schatten gestellt. Die Anthroposophie ist aus dem okkultistischen Getto der Jahrzehnte um 1900 ausgebrochen und in der Mehrheitsgesellschaft angekommen. […]
Die Sache ist komplex. Es gibt zu viele Gruppen, zu viele widerstreitende Meinungen, zu viel Pluralität, als dass man von der Anthroposophie reden könnte, ohne danach schlecht zu schlafen.“
Empirische Daten zu „den Anthroposophen“ sind nur vereinzelt erhoben worden, z. B. in der ALLBUS-Umfrage 2012. Auf die Frage: „Sagen Sie bitte im Folgenden jeweils, ob Sie damit schon Erfahrungen gemacht haben, ob Sie nur davon gehört haben oder ob Sie das nicht kennen: Anthroposophie / Theosophie?“ 4,3 Prozent der Befragten haben schon damit Erfahrungen gemacht, 30,3 Prozent „nur davon gehört“ sowie zwei Drittel (65,1 Prozent) sagen „Kenne ich nicht“.
6. Anthroposophische Bewegung
Neben der formal zu erfassenden Mitgliederzahl in der Anthroposophischen Gesellschaft lässt sich ein weiterer, größerer Kreis ziehen, die ‚Bewegung‘. Die „Anthroposophische Bewegung“ besteht – neben der Landesgesellschaft der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland (Sitz: Stuttgart) – aus einer Anzahl weiterer Organisationen, die sich den Ideen Rudolf Steiners verbunden fühlen, u. a. (Mitteilung Februar 2016): Demeter / Vereinigung der Kindergärten / Bund der Waldorfschulen / Anthropoi Bundesverband und Selbsthilfe / Ärzteverbände / Freunde der Erziehungskunst / GLS Bank /Sozialwissenschaftliche Sektion / Nikodemus Altenwerke / Hannoverschen Kassen / Software-Stiftung / Universität Witten-Herdecke.
Zu den Daten dazu heißt es: „Das zahlenmäßige Verhältnis von Mitgliedern der AAG [Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland e.V.] zu den sonstigen Teilnehmern an den Früchten der Anthroposophie (=Anthroposophische Bewegung) beträgt mithin ca. 1:20.“ Mit anderen Worten, in ganz Deutschland wäre das eine Größenordnung von rund 240.000 Personen, die der Anthroposophie zugerechnet werden.
Wie diese Zahlenangabe zustande gekommen ist, wird allerdings nicht berichtet. Und zur Pluralität von Interpretationen zur Anthroposophie unter den Anthroposophen gibt es ebenfalls keine Daten. Allerdings schätzen Beobachter die Spannbreite als „beinhart“ ein.
„Es ist eben diese Pluralität der weltweiten Waldorfbewegung, die Zander betont und die schon in einer Stadt wie Berlin zu völlig verschiedenen Interpretationen und zur unterschiedlichen praktischen Ausrichtung der Kitas und Schulen führt – und zu beinharten Konflikten innerhalb der ‚Schulgemeinschaft‘, zwischen der im Schwinden begriffenen ‚Betonfraktion‘ (Zander) und all den anderen.“
Eine andere Quelle - der Dachverband Anthroposophische Medizin in Deutschland (DAMiD) – nennt (im März 2010) mehr als 75.000 Arbeitsplätze in der anthroposophischen Bewegung.
„Firmen, deren Führung von Steiners Ideen beeinflusst ist, erzielen Gewinne und können als Jobmotor bewertet werden, denn insgesamt schaffen sie deutlich mehr als 75.000 Arbeitsplätze in Deutschland. Diese Zahl haben jetzt die Verbände von Anthroposophischer Medizin, Demeter mit der Biodynamischen Wirtschaftsweise und Waldorfschulen durch eine Befragung in den eigenen Reihen ermittelt.“
6.1. Waldorfschulen
In Fortschreibung der fowid-Studie zu den Waldorfschulen bis 2018 zeigen die aktuellen Zahlen für die Anzahl der Walddorfschulen, der Schüler und Lehrkräfte 2020/21 (Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 1, 2020/21: Allgemeinbildende Schulen) zwei Aspekte. Zum einen, dass der Anteil der Waldorfschüler sich auf ein Prozent aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland beläuft, mit einer Spannweite zwischen 0,6 (in Brandenburg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt) bis 2,1 Prozent (in Baden-Württemberg). Innerhalb der regionalen Verteilung aller Waldorfschüler befinden sich in Baden-Württemberg 27 Prozent dieser Schüler, d. h. sie haben einen doppelt so hohen Anteil, wie es dem Anteil der Bevölkerung insgesamt (13 Prozent) entsprechen würde (vgl. Tabelle 3).
Bezieht man diese Schülerzahl (87.000) als Bestandteil der Mitglieder der „Anthroposophischen Bewegung“ (rund 240.000), so wären das rund ein Drittel, rechnet man zumindest einen Elternteil ebenfalls dazu, sind das bereits mehr als zwei Drittel der „Bewegung“.
Die Bewertung, dass sich die Gründung der ersten Waldorfschule in Stuttgart als „Keimzelle einer eigentümlichen, weltumspannenden Bildungskonzeption erweisen […] und das weltweit“ , wie es in dem Artikel von Heiner Barz heißt: „Stuttgart - Hauptstadt der Freidenker und Anthroposophen?“ und „Stuttgart als Epizentrum der Waldorfpädagogik“ steht im Widerspruch, dass „nur wenige Schüler aus anthroposophischen Elternhäusern unterrichtet werden.“
„Auch wenn an Waldorfschulen nur wenige Schüler aus anthroposophisch orientierten Elternhäusern unterrichtet werden, so kann doch andererseits nicht bestritten werden, dass auch der Anthroposophie nahestehende Familien hier ein aus ihrer Sicht adäquates Bildungsangebot vorfinden. Somit dürfte die Anthroposophie eine der wenigen weltanschaulichen Gruppierungen sein, die – ähnlich wie die katholische Kirche – über eigene Bildungseinrichtungen für alle Altersgruppen auf allen Ebenen verfügt. Zu diesen gehören mittlerweile nicht nur über 2.000 Waldorfkindergärten und über 1.000 Waldorfschulen weltweit […].“
Diese, nach Angaben des Bund der Freien Waldorfschulen, aktuell 1.187 Walddorfschulen weltweit, sind und sollen als Zahl (ohne Zusammenhang) beeindruckend sein, reduzieren sich jedoch auf eine sehr geringe Bedeutung, wenn man diese Zahl entsprechend mit allen Schulen weltweit vergleicht. Dieses Prinzip des „Mehr scheinen, als sein“ wird auch in anderen Zusammenhängen angewendet.
Um die Besonderheit der Waldorfschulen zu erläutern, werden auch wissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt und publiziert (2013) wie Fischer, F. et. al.: „The Effect of Attending Steiner Schools during Childhood on Health in Adulthood: A Multicentre Cross-Sectional Study“, mit Forschern u. a. von der Charité, sowie der (anthroposophisch orientierten) Freien Hochschulen Stuttgart/Seminar für Waldorfpädagogik und der Universität Witten/Herdecke. Hauptergebnis sei, dass die Waldorfschüler bis ins hohe Alter gesünder und leistungsfähiger seien als die Nicht-Walddorfschüler. Deutlich wird jedoch, dass der familiäre Hintergrund und die Herkunft der Schülerinnen und Schüler sich klar unterscheiden.
„Fast alle (99,2 %) ehemaligen Steiner-Schulbesucher besaßen die deutsche Staatsbürgerschaft im Vergleich zu 93,0 % in der Kontrollgruppe. Steiner-Schulbesucher berichteten häufiger als die Kontrollpersonen, dass ihre Eltern in ihrer Kindheit auf eine ausgewogene Ernährung und körperliche Aktivitäten achteten.“
Welchen Effekt die Anthroposophie hat, kann nicht verdeutlicht werden, außer dass die Eltern, die ihre Kinder auf eine Waldorfschule schicken, selber einen anderen, gesünderen Lebensstil pflegen als der Durchschnitt der Bevölkerung. Es hat eine Parallele zu den Darstellungen von Trägern der (vor allem kirchlichen) Privatschulen, dass sie laut PISA-Studien bessere Leistungen erbringen. Der eigentliche Grund ist jedoch die soziale Zusammensetzung der Eltern und damit der Schülerinnen und Schüler, d. h. die soziale Selektion.
„Beim guten Abschneiden bei der Pisa-Studie habe im Wesentlichen die Zusammensetzung der Schülerschaft den Ausschlag gegeben. Dabei seien auf den Privatschulen weniger problematische Fälle unter den Schülern, sagte Weiß. Die Schüler stammten oft aus Familien gehobener sozialer Schichten; zudem sei der Anteil der Mädchen traditionell höher, was sich in besseren Leistungen niederschlage.“
Die Datenstruktur zu den Waldorfschulen – ein geringer Anteil (von unter bis zu einem Prozent, in Baden-Württemberg zwei Prozent) an der Gesamtschülerzahl sowie ein hoher interner Anteil (von rund 30 Prozent) der Waldorfschulen in Baden-Württemberg –, zeigt sich auch bei den anthroposophisch zertifizierten Ärzten und den Demeter-Betrieben.
6.2. Krankheitsversorgung / Ärzte
Es bestehen neun Anthroposophische Kliniken in Deutschland, mit diversen Fachambulanzen Anthroposophische Medizin sowie fünf Anthroposophische Rehabilitations- und Kurkliniken. Sechs (der neun) Kliniken befinden sich in Baden-Württemberg, sowie zwei (der fünf) Rehabilitations- und Kurkliniken. Insgesamt sind also rund die Hälfte der anthroposophischen Kliniken (8 von 14) in Baden-Württemberg.
Dazu sind noch die 580 Fachärzte zu zählen (häufig mit der Bezeichnung „Facharzt für Allgemeinmedizin, Homöopathie, Naturheilverfahren, Psychosomatische Grundversorgung“) die im Ärzteverzeichnis der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland (GAÄD) zu finden und als anthroposophisch zertifiziert sind.
In Deutschland arbeiten (2018) rund 165.000 niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten, in Baden-Württemberg sind es 22.219. Bezieht man die 172 anthroposophisch zertifizierten Ärzte in Baden-Württemberg auf die Gesamtzahl der dort niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, so sind es 0,8 Prozent.
Setzt man diese Anzahl in Vergleich zu den Ärztinnen und Ärzten, die eine Zusatzausbildung/Weiterbildung in Homöopathie nennen, so sind es nach der „Ärztestatistik zum 31. Dezember 2020“ der Bundeärztekammer 3.915 niedergelassene Ärzte, die diese Weiterbildung benennen. Mit anderen Worten, die Homöopathen gibt es 7-fach mehr, als Ärzte mit anthroposophischer Weiterbildung.
6.3. Demeter
Demeter in Zahlen: „In Deutschland wirtschaften 1.740 Landwirt*innen mit knapp 99.000 Hektar Fläche biologisch-dynamisch.“ Mit Bezug zu den Zahlenangaben des Deutschen Bauernverbandes gab es 2017 in ganz Deutschland 269.800 landwirtschaftliche Betriebe mit rund 16,7 Millionen Hektar landwirtschaftlich genutzter Fläche. Das heißt, die Demeter-Landwirte stellen 0,6 Prozent der Betriebe und bewirtschaften 0,6 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Flächen.
Das entspricht in etwa den Anteilen der Walddorfschulen und Ärzte in ihren Branchen. Für Baden-Württemberg sind etwas höhere Anteile zu erwarten, was sich darin zeigt, dass im Demeter-Segment „Gemüse“ sich 32 Prozent der Betriebe in Baden-Württemberg befinden.
Nach der „Gemüseerhebung“ des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg sind (2016) rund 1.300 Betriebe mit der Produktion von Gemüse befasst. Die 64 Erzeugerbetriebe bei Demeter haben somit einen Anteil von 4,9 Prozent dieser Betriebe. Laut dem Demeter-Jahresbericht 2020 (S. 24) haben 80 Prozent der Demeter-Betriebe eine Größe von unter 100 Hektar. In Deutschland insgesamt sind es 40 Prozent der Betriebe mit unter 100 ha Betriebsgröße, so dass sich die Relation mit Bezug auf Anbaufläche/Mengen eher auf einen Anteil in Richtung zwei Prozent verringern würde.
7. Fazit
7.1. Kommunikation
Die unspezifische Verwendung des Begriffs „Impfverweigerer“ ist eine wertende Zuschreibung, da sie unterstellt, dass alle Menschen, die noch nicht geimpft sind, generell eine bewusste Gegnerschaft gegen das Impfen haben. Das wurde jedoch durch Umfragen, die den neutralen Begriff der „Nicht-Geimpften“ verwenden, nicht bestätigt. In der Schnell/Haug-Studie zur Impfbereitschaft sind es 14 Prozent der Befragten, die sich „sicher nicht“ impfen lassen werden. Das entspricht den 16 Prozent der Befragten, die in den ALLBUS-Umfragen 2002 und 2012, also lange vor der Coronapandemie, gleichbleibend der Aussage zustimmen: „Alles in allem schadet die moderne Wissenschaft mehr als sie nützt.“ Damit muss man also in Deutschland leben und dann ist die Größenordnung bei der Impfgegnerschaft dann auch nicht verwunderlich.
Ebenso verweist der weit verbreitete Begriff von „Impfdurchbrüchen“, d. h., dass sich auch zweifach Geimpfte mit dem Coronavirus infizieren und erkranken, auf ein seltsames Wissenschafts- und Impfverständnis. „Durchbruch“ ist das gewaltsame Durchdringen einer starken Befestigung, die einen eigentlich zu 100 Prozent schützt. Führt diese falsch verstandene Sicherheit in der Wirksamkeit zu einem sorglosen Verhalten, steigt das Risiko einer Infektion. Dazu schreibt das Robert Koch-Institut:
„Nach derzeitigem Kenntnisstand bieten die COVID-19-mRNA-Impfstoffe Comirnaty (BioNTech/Pfizer) und Spikevax (Moderna) sowie der Vektor-Impfstoff Vaxzevria (AstraZeneca) eine hohe Wirksamkeit von etwa 90 % gegen eine schwere COVID-19-Erkrankung (z. B. Behandlung im Krankenhaus) und eine Wirksamkeit von etwa 75 % gegen eine symptomatische SARS-CoV-2-Infektion mit Delta.“
7.2. Anthroposophie
Für die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland (AGiD) konnte eine Verringerung der Mitgliederzahlen festgestellt werden und in den drei geprüften anthroposophischen Tätigkeitsbereichen (Waldorfschulen, Ärzte und Demeter-Betriebe) beträgt der Anteil in ihrer Branche um die ein Prozent, in Baden-Württemberg um die zwei Prozent. Wie sich daraus gesellschaftlich ein „erheblicher Einfluss“ ableiten ließe, bleibt ungeklärt.
Dass die Anthroposophen – im Schulterschluss mit den Homöopathen und dem Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie – als Wirtschaftslobby Erfolg und Einfluss haben, zeigt das „Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelrechts“, das am 1. Januar 1978 in Kraft trat und für homöopathische, anthroposophische und pflanzliche Arzneimittel keinen Wirksamkeitsnachweis fordert. Seitdem gilt dafür so etwas wie ‚Narrenfreiheit‘.
Und die gesellschaftliche Breitenwirkung? Die Verweise auf die anthroposophisch beeinflussten Wirtschaftsbetriebe, bei denen das aber für den normalen Kunden nicht erkenntlich ist, kann noch nicht einmal im Ansatz überzeugen. Wird man als nichtsahnenden Kunde beispielsweise eines DM-Drogeriemarktes an der Kasse oder im Laden ‚anthroposophisch bestrahlt‘ oder hat ein dort gekauftes Haarwaschmittel eine ‚anthroposophische Durchdringung‘ der Kopfhaut und des Gehirns zur Folge?
Zu diesem Geschwurbel gibt es keinerlei belastbaren empirischen Daten oder Informationen. Es entsteht der Eindruck, dass die Anthroposophie Rudolf Steiners, die ja tatsächlich in Stuttgart ihren Anfang hat, und die Teil einer weitaus größeren esoterischen Szene verschiedenster „Geisterwissenschaften“ ist, herausgegriffen wird, weil sie sich oberflächlich für Baden-Württemberg anbietet? Nach dem Motto: „Ja, das weiß man doch!“?
Was dabei übersehen wird, ist, dass beide Teile Baden-Württembergs von allen deutschen Bundesländern eine jeweils unterschiedliche, im Endeffekt aber ähnliche Traditionen des Widerstands gegen Obrigkeiten und Betonung der individuellen Selbstbestimmtheit haben.
7.3. Traditionen und Eigenarten Baden-Württembergs
Baden-Württemberg, der “Südwestsaat“, wird erst 1952 als Bundesland geschaffen, indem die beiden früheren Gebiete der Reichsländer Baden sowie Württemberg zusammengefasst wurden. Beide Landesteile haben ganz eigene Traditionen und Eigenarten – Baden politisch, Württemberg religiös – die jedoch in zwei Aspekten zusammengehen, der Kritik an der ‚Obrigkeit‘ und der Freiheit des Individuums. Das soll durch die folgenden Hinweise angedeutet werden.
Baden hat eine lange republikanische Tradition, die sich – um nur rund 200 Jahre bis 1818 zurückzugehen – in der Badischen Ständeversammlung darstellt. Vor allem die zweite Kammer galt als Hort der liberalen Demokraten mit Budgetrecht. Dann 1848/1849 in der Person von Friedrich Hecker, seinen Freunden und dem „Heckeraufstand“: Der Versuch, die Monarchie zu stürzen und eine Republik zu errichten, misslang. Dieser Linie folgte auch die Nachkriegs-FDP, die sich von der CDU vornehmlich dadurch unterschied und nicht integrierbar blieb, weil sie entschieden antiklerikal war. Schließlich, um ein letztes Beispiel zu nennen: die Auseinandersetzung um das Atomkraftwerk Whyl (1975) im Kaiserstuhl, in denen ein Bündnis aus politisch Linken und örtlichen Weinbauern die Polizei in die Flucht schlugen und den Bau des AKW verhinderten.
In Württemberg hat es (seit den 1689 Jahren) primär religiöse Traditionen, denn Pietisten in Württemberg sind: „Aus Prinzip dagegen.“ Wie es in der Württembergische Kirchengeschichte Online heißt: „Pietismus - Annäherung an eine Frömmigkeitsbewegung“.
„Sozial gesehen löste sich das Individuum von der unbedingten Verpflichtung gegenüber gesellschaftlichen Normen und übernahm die Verantwortung für die persönliche religiöse Praxis. Die implizite Aufforderung zur tätigen Ausübung des Glaubens stimulierte die individuelle Tatkraft und darüber hinaus soziale Aktivitäten.“
Diese religiösen Diskussionen waren u. a. auch Nährboden für Ansichten Rudolf Steiners, wobei die Anthroposophen jedoch eine Kleingruppe gegenüber den Pietisten sind. In den Synoden der evangelischen Landeskirche Württembergs (2,1 Mio. Mitglieder) stellt der Gesprächskreis (= Fraktion) der pietistischen „Lebendigen Gemeinde“ rund ein Drittel der Synodalen, was einer Größenordnung von rund 700.000 Pietisten nur in Württemberg entsprechen würde.
Auch wenn Mitglieder dieser Gruppe wiederum durchaus vielfältig sind, so hieß es (2016) – hinsichtlich der Wählerstimmen für die AfD – in der Stuttgarter Zeitung: „Wahlerfolg durch Pietismus?“. Und im November 2021 hieß es dann: „Pietisten in Württemberg distanzieren sich von „Querdenkern‘“.
Einfache, allgemeine Zuordnungen entsprechen selten oder nie der Realität.
Carsten Frerk.