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Einige sind gleicher: Kirchenförderung, Reichsdeputationshauptschluss von 1803 und Humanistischer Verband

Mehrmals in den letzten 200 Jahren hat in Deutschland der Staat Enteignungen von Bürgern und Institutionen vorgenommen, obwohl diese Maßnahmen gegen Grundnormen des Staates verstießen und für sie keine Rechtfertigung gegeben war. Ziel aller Regelungen zur Entschädigung, Rückerstattung oder Wiedergutmachung war, in jeweils absehbarer Zeit die Zahlungspflicht des Staates zu beenden. Das gilt für sämtliche Enteignungen in Deutschland im letzten Jahrhundert. Nicht jedoch gilt dieser Grundsatz für die Enteignungen, die zu Beginn des Jahrhunderts zuvor, im 19. Jahrhundert, in Deutschland staatlich durchgeführt wurden. Und die Konsequenzen für die Zahlungsverpflichtungen des Staates gegenüber den christlichen Kirchen gelten bis heute. Ein Ende ist nicht abzusehen.

Von Wolfgang Lüder

Enteignung ist nicht gleich Enteignung

Mehrmals in den letzten 200 Jahren hat in Deutschland der Staat Enteignungen von Bürgern und Institutionen vorgenommen, obwohl diese Maßnahmen gegen Grundnormen des Staates verstießen und für sie keine Rechtfertigung gegeben war. Man denke im letzten Jahrhundert an die Enteignungen in der sowjetisch besetzten Zone unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Man denke an die Enteignungen in der DDR. Weiter zurück und noch heute aktuell liegen die Enteignungen von Verfolgten des Nazi-Regimes, insbesondere von jüdischen Bürgern und Institutionen; aber auch weltanschauliche Gemeinschaften wie die Freidenker waren von den Verfolgungsmaßnahmen und Enteignungen der Nazis betroffen. Es gab viel staatliches Unrecht in Deutschland im letzten Jahrhundert, nicht nur, aber vielfältig durch Vermögensentzug und Enteignung.

Allen diesen regierungsamtlichen Unrechtstaten folgten später, nach dem jeweiligen Systemwechsel zur Demokratie, gesetzliche Regelungen, die „Wiedergutmachung,“ „Rückerstattung“, „Entschädigung“ usw. festlegten. Bei allen diesen Regelungen waren stets die Verfahrens- und die Bemessungsregelungen vergleichbar: Die Schäden mussten nach der jeweiligen Wiederherstellung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Deutschland in gesetzlich bestimmter Frist angemeldet werden; soweit entzogenes Eigentum nicht in natura zurückgegeben werden konnte, legten Entschädigungsregeln fest, dass nur ein Teil des wirklichen aktuellen Wertes, etwa von Immobilien, ersetzt wird. Das galt auch für die Vermögensverluste der aus den früher deutschen Ost-Gebieten nach dem Zweiten Weltkrieg Vertriebenen.

Nach der deutschen Wiedervereinigung galt: Enteignungen durch die Besatzungsmacht Sowjetunion durften nicht rückgängig gemacht werden. Grundstücke, die zum Mauerbau von der DDR enteignet worden waren, sollten in natura - „dinglich“ sagt der Jurist - nicht zurückgegeben werden; der frühere Eigentümer sollte lediglich entschädigt werden, aber - fast selbstverständlich in Deutschland - nicht zum vollen Wert.

Ziel aller Regelungen zur Entschädigung, Rückerstattung oder Wiedergutmachung war, in jeweils absehbarer Zeit die Zahlungspflicht des Staates zu beenden. Das gilt für sämtliche Enteignungen in Deutschland im letzten Jahrhundert. Nicht jedoch gilt dieser Grundsatz für die Enteignungen, die zu Beginn des Jahrhunderts zuvor, im 19. Jahrhundert, in Deutschland staatlich durchgeführt wurden. Und die Konsequenzen für die Zahlungsverpflichtungen des Staates gegenüber den christlichen Kirchen gelten bis heute. Ein Ende ist nicht abzusehen.

Ausgangspunkt

Die Kriege, die Napoleon am Ende des 18. Jahrhunderts gegen nahezu alle damals bedeutsamen Mächte geführt hatte, endeten unter anderem mit dem Verzicht deutscher Staaten auf alle linksrheinischen Territorien. Der Rhein wurde in den Friedensschlüssen als natürliche Grenze Frankreichs anerkannt. Bevor 1803 die deutschrechtliche Regelung dazu erfolgte, hatte schon am 9.06.1802 ein französischer Konsularbeschluss die Säkularisation des geistlichen Besitzes in den linksrheinischen Departements beschlossen, also die Einziehung und Nutzung kirchlicher Hoheits­rechte und kirchlichen Vermögens durch den Staat, allgemein als Säkularisation bezeichnet.

Dabei ging es um nicht wenig. So schreibt die Chronik der Stadt Bonn: „Die Säkularisation hat weitreichende Folgen, denn die geistlichen Herrschaften verfügen über den größten Grundbesitz weit und breit. Die kurfürstlichen Schlösser werden französisches Staatseigentum. Das Cassius-Stift wird aufgehoben, ebenso die Stifte Dietkirchen, Schwarzreihendorf und Villich. Das Münster wird Pfarrkirche.“ - Für die linksrheinischen Gebiete schloss Napoleon 1801 ein Konkordat mit Papst Pius VII., in dem festgelegt wurde, dass die Enteignung des Kirchengutes nicht ohne Ent­schädigung erfolge, wie die Chronik der Stadt Bonn ebenfalls berichtet.

Säkularisation lag auch im Geiste der Zeit. In den österreichischen Ländern hatte Josef II. 1782 mehr als 700 „unnütze“ Klöster aufgehoben. Die französische Revolution brachte eine radikale Säkularisation: Am 2.11.1789 wurden alle Kirchengüter in Frankreich durch den Staat eingezogen und meist an Privatleute versteigert.

Die deutschrechtliche Regelung für die Entschädigung der von Frankreich annektierten Gebiete und Vermögen wurde im Reichsdeputationshauptschluss vom 25.02.1803 festgelegt. Eine Reichs­deputation war ein ständiger Ausschuss des Reichstages, der zwischen den Sitzungen des Reichstages für das Plenum entschied. Seine Entscheidungen waren „Reichsschlüsse“ oder „Hauptschlüsse“.

Eine Reichsdeputation hatte bereits 1797/98 prinzipiell der Abtretung der linksrheinischen Gebiete an Frankreich zugestimmt und dabei festgelegt, dass gleichzeitig eine Entschädigung der enteigne­ten („deposedierten“) weltlichen Fürsten erfolgen solle und zwar durch Säkularisation der geistli­chen Herrschaften. Im Frieden mit Napoleon von Luneville wurde diese 1801 verankert mit der Bestimmung, dass die Entschädigung durch rechtsrheinische Reichsgebiete erfolge, also nicht aus den Säkularisationen im linksrheinischen besetzten Gebiet.

Rechtsrheinisch, das hieß, dass als Ersatz für die französischen Eroberungen links des Rheines die Hoheitsrechte und der Besitz von vier Erzbistümern, 18 Bistümern und etwa 300 Abteien, Stif­ten und Klöstern eingezogen wurden. Verbindlich geregelt wurde die Entschädigungsfrage im Reichsdeputationshauptschluss von 1803, den Claus Stern noch heute als „grandiosen Entschädi­gungsplan“ ansieht (vgl. Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5). Dieser Reichsdeputa­tionshauptschluss wurde am 24.03.1803 durch Beschluss des Reichstages angenommen und ist durch kaiserliches Dekret am 27.04.1803 Reichsgesetz geworden. Unabhängigkeit behielten nur der Bischof von Mainz, der zugleich Erzkanzler des Reiches war, sowie die beiden geistlichen Ritterorden, also der Deutsche Orden und der Malteser Orden.

Und was uns noch heute betrifft: In diesem Entschädigungsplan des Reichsdeputationshaupt-schlusses gewährte der Staat für die Entziehung des Kirchengutes Kompensation durch Übernahme von Staatsleistungen an die Kirche. Was der Staat der Monarchien versprach - eben Staats­leistungen an die Kirchen - wurde über hundert Jahre später bei der Abschaffung der Monarchie in Deutschland in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 verfassungsrechtlich aufgegriffen. In Art. 138 Abs. 1 der Weimarer Reichsverfassung heißt es: „Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Lan­desgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf.“

Eine Ablösung der Staatsleistungen erfolgte in der Weimarer Republik jedoch nicht. Ein Gesetz über die Grundsätze kam nicht zustande. Dreißig Jahre später wurde diese Bestimmung unverän­dert in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Art. 140 übernommen. Die Regelung der Entschädigung der Kirchen ist bis heute nicht erfolgt. Die Entschädigungszahlungen aber lau­fen auch fast 200 Jahre nach dem Beschluss von 1803 ständig weiter.

Man muss in unserem Grundgesetz schon ganz bis nach hinten blättern, um die verfassungsrecht­liche Grundlage dafür zu finden. Hinter den Bestimmungen über den ersten Zusammentritt des Bundesrates, der im Jahre 1949 erfolgte, und nach der Festschreibung tradierter Notariatsformen im heutigen Baden-Württemberg und in Bayern bestimmt Art. 140 des Grundgesetzes: „Die Be­stimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der Deutschen Verfassung vom 11.08.1919“, die allgemein als Weimarer Reichsverfassung bezeichnet wird, sind „Bestandteil dieses Grundge­setzes“.

Im Prinzip findet sich in Art. 138 die Forderung nach einer Regelung zur Beendigung von Entschä­digungszahlungen, wie wir sie eingangs für die Enteignungen im 20. Jahrhundert gesehen haben und wie sie allgemein galten.

Aber einige sind gleicher als andere

Die Verfassungsväter der Weimarer Reichsverfassung von 1919 und die Mütter und Väter des Grundgesetzes von 1949, die Wert darauf gelegt hatten, dass die Verfassung der Bundesrepublik in „Verantwortung vor Gott“ - welchem auch immer - und den Menschen geschaffen worden war, versäumten aber die Fristsetzung zur Schaffung des Gesetzes über die Grundsätze der Ablösung. - Und fast alle waren’s zufrieden. Heute, mehr als fünfzig Jahre später, ist das Grundsatzgesetz des Bundes, das nach Art. 138 WRV landesrechtlicher Detailregelung vorangehen muss, nach wie vor nicht in Sicht.

Ja, heute mehren sich die Stimmen, die eine Entschädigungsbegrenzungsregelung - etwa nach dem Vorbild der für alle anderen Enteignungsopfer deutscher Staatstätigkeit seither geschaffenen -für nicht nötig halten. So schreibt der katholische Kirchenrechtler und frühere Kultusminister von Nordrhein-Westfalen, Paul Mikat, im Handbuch des Verfassungsrechts von dem „hohen Stellen­wert“, den im deutschen Staatskirchenrecht die „Präsenz der Geschichte“ einnimmt: „Die in vielfa­cher Hinsicht exzeptionellen Besonderheiten der staatskirchenrechtlichen Ordnung der Bundesre­publik Deutschland sind ohne diese Präsenz schwerlich zu verstehen“, fügt er hinzu.

Zu Art. 138 WRV, mit dem es „eine besondere Bewandtnis“ habe heißt es dort, wohl in Überein­stimmung mit der herrschenden Lehre: „Neben der Bestandsgarantie der dort normierten Leistun­gen des Staates an die Kirchen sieht das Gesetz zugleich deren - wenngleich entschädigungspflichtige - Ablösung für die Zukunft vor“. Er ergänzt, „dass dieser Zwiespalt ein Ergebnis der histo­rischen Situation nach 1918 war, in der man zwar mit der Verankerung des Kirchensteuerrechts in Art. 137 Abs. 6 WRV den Kirchen um ihrer Unabhängigkeit willen eigene Finanzquellen erschließen wollte (die Berechtigung der öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften zur Erhebung von Kirchensteuern dient damit nicht der institutionellen Verbindung von Staat und Kirche, sondern im Gegenteil der Entflechtung staatlich-kirchlicher Verschränkungen), im dauernden Fortbestand der nicht minder wichtigen finanziellen Zuwendung des Staates an die Religionsgemeinschaften aber die Gefahr einer zu starken Bindung sah, die es, wenn schon nicht sofort zu verhindern, so doch auf Dauer aufzuheben galt.“

Man muss diesen Satz, der inhaltlich auch mit dem übereinstimmt, was andere führende Staatskirchenrechtler schreiben, wohl mehrmals lesen, um die gesamte Dialektik zu verstehen. Für mich heißt das Ganze in Kurzform: Zuwendungen des Staates an die Kirche dienen der Trennung von Staat und Kirche und fördern die Unabhängigkeit der Kirche.

Eine entschädigungspflichtige Ablösung könnte möglicherweise am Gleichheitssatz gemessen werden, so dass eine volle Entschädigung nicht erfolgen kann. Eine entschädigungspflichtige Ablö­sung müsste auch prüfen, wie es im Entschädigungsgesetz für Enteignungen in der DDR festgelegt ist, ob frühere Entschädigungen den Anspruch vielleicht auf Null reduzieren. Dann mag doch lieber alles beim Alten bleiben. Dass mehr als achtzig Jahre nach Inkrafttreten dieses Verfassungsauftrages die Ablösung der Staatsleistung auf sich warten lässt, hat, wie Mikat insoweit zutreffend sagt, Gründe vielfältiger Natur.

Ob es jemals zu einem Grundsatzgesetz des Bundes kommt, das Voraussetzung für die Ablösung der Gesetzgebung der Länder ist, ist mehr als unwahrscheinlich. Einige führende Juristen wie Mikat und Scheuner meinen, dass man der Gesetzgebung zur Ablösung des Staatsleistungen „keine zeitliche Dringlichkeit mehr beimessen“ könne, da schließlich diese Bestimmung „als unausgeführte Vorschrift in das Grundgesetz übergegangen ist“, deswegen dürfte „die weitere Nichtausführung … nicht als Mißachtung eines dringlichen Verfassungsgebotes erscheinen“. Außerdem gebe Art. 138 WRV einen gewissen Spielraum zu vertraglichen Abmachungen, von der ja einige Länder in Kir­chenverträgen und Konkordaten auch Gebrauch gemacht haben, „nach denen der Staat einen vollen Ausgleich gewähren würde - das entspricht sowieso Art. 138 Abs. 1 - oder die Ablösung nur im Wege der Vereinbarung mit den Religionsgemeinschaften vornehmen werde“.

Der Auffassung Mikats und Scheuners, dass nur „ein voller Ausgleich“ Art. 138 Abs. 1 entspräche, kann indes nicht zugestimmt, ihr muss widersprochen werden: Wie oben dargelegt, hat es keine Entschädigungsregelung für staatlich angeordnete Enteignungen in Deutschland gegeben, die einen totalen aktuellen Wertausgleich vornahmen. Da die Kirchenartikel der Weimarer Verfassung in das Grundgesetz inkorporiert sind, stehen sie eben auch unter der generellen Gleichheitsbe­stimmung des Art. 3 GG.

Politisch jedoch gilt: Zu einer gesetzlichen Ablösungsregelung wird es nicht kommen. Im Kommen­tar zum Bonner Grundgesetz v. Mangoldt und Klein wird dazu ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Bundesgesetzgeber verpflichtet wäre, vor Erlass eines Ablösegrundsatzgesetzes die großen Kirchen zu fragen: Der Bund sei bei der Aufstellung der Ablösungsgrundsätze durch Art. 18 des Reichskonkordats gebunden, wonach vor der Ausarbeitung der für die Ablösung aufzustellenden Grundsätze rechtzeitig zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Reich ein „freundschaftliches Einvernehmen“ herbeigeführt werden wird“. In Folge des Paritätsprinzips gilt das Gleiche auch im Verhältnis zur evangelischen Kirche. Auch hier ist ein Bundesgesetz ohne vorher erzieltes Einver­nehmen mit den Landeskirchen ausgeschlossen, heißt es in dem Kommentar zur Begründung dieser Auffassung.

Schließlich weist dieser Kommentar auf ein finanzielles Argument hin: „Allerdings sind die beträcht­lichen finanziellen und volkswirtschaftlichen Schwierigkeiten einer Ablösung auch nicht zu unter­schätzen, denn die säkularisierten Vermögen, für welche die Staatsleistungen erbracht werden, sind gewaltig und es ist kein Zufall, dass die deutschen Staaten es bei aller Anerkennung ihrer Pflichten zur Rückgabe von säkularisiertem Grundvermögen stets vorgezogen haben, eine Geld­rente zu leisten.“

Haltung des HVD

Diese herrschende Meinung zur besonderen staatlichen Förderung christlicher Kirchen aufgrund des nicht enden wollenden Reichsdeputationshauptschlusses bekam kürzlich der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) vom Oberverwaltungsgericht Berlin in ein Urteil geschrieben: Der HVD, der als anerkannte Weltanschauungsgemeinschaft den Gleichheitsgrundsatz des Grundge­setzes auch für die rechtsstaatlichen Zuwendungen an ihn im Vergleich zu den Kirchen in Anspruch nehmen wollte, wurde zurückgepfiffen.

Eines der Argumente des Humanistischen Verbandes für seinen Gleichbehandlungsanspruch mit den Kirchen war Art. 137 Abs. 7 WRV. Dort ist festgelegt: „Den Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen.“ Demgegenüber leiten Berlins oberste Verwaltungsrichter aus der Erwähnung der in Art. 138 WRV aufgeführten „besonderen Rechtstitel“, auf dem die Staatsleistungen beruhen, ein Kirchenprivileg ab.

Besonders bitter ist die Erkenntnis, dass die juristisch herrschende Meinung in Deutschland im Zuwendungsrecht die christlichen Kirchen aufgrund 200 Jahre alter staatlicher Regelungen gegen­über einer Weltanschauungsgemeinschaft privilegiert insbesondere deshalb, weil die Vorgängerorganisation der Weltanschauungsgemeinschaft Humanistischer Verband von den Nationalsozialis­ten wegen ihrer Weltanschauung politisch verfolgt wurde, während die offiziellen christlichen Kir­chen in Deutschland Hitlers Unrechtstaten überwiegend unterstützten, offiziell geschehen ließen und nur durch wenige oppositionelle Kirchenführer bekämpften.

Weitgehend unbekannt ist, dass das verbrecherische Naziregime den Verein der Freidenker, die Vorgängerorganisation des Humanistischen Verbandes, schon 1933, zeitgleich mit den Maßnah­men gegen jüdische Vermögen, unmittelbar nach der Machtübernahme im Vermögensrecht brutal verfolgten: Der 1905 aus der Berliner Freireligiösen Gemeinde ausgegründete Verein der Freiden­ker für Feuerbestattung (VFF)1, der 1927 mit der Gemeinschaft proletarischer Freidenker (GpF) zum Verband für Freidenkertum und Feuerbestattung verschmolz (und sich 1930 in Deutscher Freidenkerverband [DFV] umbenannte), hatte im März 1921 auf einem außerordentlichen Ver­bandstag beschlossen, überall im Deutschen Reich neue Verwaltungsfilialen zu errichten.2

Der im Kaiserreich gegründete Verband nutzte die in der Weimarer Republik gegebenen politischen Möglichkeiten. Insbesondere seit 1925, als Max Sievers zum besoldeten Sekretär des Verbandes gewählt worden war, expandierte der Verband. Mit der Gründung des Vereinsblattes Der Freiden­ker im Jahre 1925 begann die Entwicklung des Vereins zu einer Freidenkerorganisation. Der Ver­band wandelte sich zur größten deutschen Kulturorganisation der Arbeiterbewegung zur Interes­senvertretung des proletarischen Freidenkertums.

Die Satzung wurde im April 1930, in der letzten Generalversammlung des Verbandes, so geändert, dass die politische, insbesondere die kulturpolitische Arbeit in den Vordergrund trat. Der Verband organisierte Freidenkerumzüge und Ausstellungen, etwa in Berlin, die den Protest der Kirchen hervorriefen. Schon 1932 beantragte die NSDAP-Fraktion im Preußischen Landtag, den Deutschen Freidenkerverband zu verbieten.

Der Reichspräsident sah sich aufgrund der durch Demonstrationen und Umzüge ausgelösten ver­schärften Diskussionen über Freidenkertum und religiösen Atheismus veranlasst, am 28. März 1931 eine „Verordnung des Reichspräsidenten zur Bekämpfung politischer Auseinandersetzungen“ zu erlassen (RGBl 1931 I, 79-81), die sich nicht allein, aber auch auf die Freidenker bezog.

Im Frühjahr 1931 hatten sich besonders die Vertreter der Kirchen gegen, wie sie es nannten, „Gott­losenbewegungen“ gewandt. So sagte der damalige Generalsuperintendent der Kurmark und spä­tere Bischof Otto Dibelius in einer Predigt unter anderem, die Gottlosenbewegung zerstöre „die Volksgemeinschaft an der Wurzel“, sie sei Produkt des Auslandes und darauf aus, „alles ewig Gül­tige in den Schmutz zu treten“. Wenn ihr der Durchbruch gelinge, bedeute dies „das Ende der Deutschen Kultur“3.

Dibelius legte besonderen Wert auf die Feststellung, bei der Gottlosenbewegung handele es sich um russischen Kulturexport. Deutsche seien „solcher Gemeinheiten“ nicht fähig. In der politischen Diskussion wurden Atheismus und Kommunismus gleichgesetzt , z.B. im Deutschen Reichstag.4 In der 46. Sitzung des Reichstages wurde über das Zitat des Zentrumsabgeordneten Prälat Schreiber diskutiert, die Gottlosenbewegung führe zur „Untergrabung des Staatsbewusstseins und der gesell­schaftlichen Ordnung“, woraus dieser die Forderung seiner Fraktion abgeleitet hatte, „dass die destruktiven Äußerungen des Bolschewismus von der Deutschen Volksseele ferngehalten werden“ müssten.5

In derselben Sitzung erklärte der Abgeordnete von Thüngen, christlich-nationale Landvolkpartei, dass es höchste Zeit sei, dass die zuständigen Stellen, insbesondere das Reichsministerium des Innern, gegen die Agitation gegen die Kirche aufs Schärfste einschreiten.

Die Folge davon war offenbar die genannte Verordnung des Reichspräsidenten zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen, die sich z.B. auch gegen „Personenfahrten auf Lastwagen“ wandte, die als „Osterfahrten“ der Freidenker genutzt wurden und mit denen man die propagandistisch aufbereitete Kritik an Religion und Kirchen in der Landagitation einsetzen konnte. In der Mitteilung der Begründung zum Erlass der Notverordnung erklärte der Innenminister dem Deutschen Evange­lischen Kirchenausschuß, dem Vorsitzenden der Fuldaer und Freisinger Bischofskonferenz und der Arbeitsgemeinschaft der jüdischen Landesverbände des Deutschen Reiches: „Die unerhörten Be­schimpfungen“ in der Religionsgemeinschaft habe die Reichsregierung zu ihrem Schlussschritt bewegt. Aufgelöst wurde am 3.5.1932 der seit 1929 existierende und der KPD nahe stehende Ver­band proletarischer Freidenker Deutschlands (VpFD; bis 1931 unter dem Namen Zentralstelle proletarischer Freidenker).

Der Deutsche Freidenker-Verband gehörte stets zu den gemäßigten Kräften in der Freidenker- und „Gottlosenbewegung“, wurde jedoch von den Kirchen und den rechten Parteien in ihren Maßnah­men zur Bekämpfung des Freidenkertums im wesentlichen gleichbehandelt.

NS-Verfolgung des freien Geistes

Der Deutsche Freidenker-Verband gehörte zu den Kräften, gegen die Adolf Hitler in seiner Regie­rungserklärung erklärte, dass er „die politische und moralische Entgiftung“ des öffentlichen Lebens erzwingen wolle.6 Dieser Gleichklang in der Einschätzung der Freigeistigen durch Kirchen und Nazis als gesellschaftliches Gift war schon in der Endphase der Weimarer Republik weit verbreitet.

So lud Reichskanzler Wirth am 30. Mai 1932 Vertreter des deutsch-evangelischen Kirchenaus­schusses und der Fuldaer Bischofskonferenz zu einer Unterredung für den 12. Juni in das Ministe­rium ein. Zur Begründung hieß es, da sich die Angriffe der Gottlosenbewegung gegen Staat und Kirche gleichermaßen richteten, sei eine Koordinierung der Abwehrmaßnahmen wichtig; darüber wolle man verhandeln.

An der Gesprächsrunde nahmen hochrangige Vertreter der evangelischen und katholischen Kirche und seitens der Reichsregierung neben Reichskanzler Wirth Staatssekretär Zweigert, Ministerialdi­rektor Menzel, Oberregierungsrat Conrad, Ministerialrätin Weber und zahlreiche weitere Beamte teil.7

Die Leitfrage dieser Konferenz war, was der Staat „zum Schutz der christlichen Religion im Deut­schen Volk“ tun könne. Die Kirchenvertreter betonten in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit äußerster Diskretion, damit der Freidenkerbewegung kein neuer Agitationsstoff geliefert werde. Jeder Anschein sei zu vermeiden, als gebe die Kirche ihre Freiheit auf und handele „als ein Organ des Staates“, sagte der evangelische Vertreter Kapler.

Zu den Überlegungen, wie dem sozialistischen Freidenkertum, also dem Deutschen Freidenkerver­band, beizukommen sei, erklärte der Vertreter des Volksvereines für das katholische Deutschland, Konrad Algermissen, die sozialdemokratischen Freidenker seien wegen ihrer maßvollen und deswegen „erfolgreicheren“ Propaganda für wesentlich gefährlicher anzusehen als die kommunistische Gottlosenbewegung.8 Der Reichskanzler wurde aus Kirchenkreisen kritisiert, keine freie Hand gegen das sozialdemokratische Freidenkertum zu haben, da er Rücksicht auf den sozialdemokrati­schen Koalitionspartner nehmen müsse. Die Kirche aber dürfe keinen Unterschied machen und müsse beide Richtungen bekämpfen.

Auf dieser Konferenz sagte Reichskanzler Wirth den Kirchen Finanzhilfen zu, die aus Gründen der zu wahrenden Vertraulichkeit unter dem Stichwort „Bekämpfung radikaler Strömungen“ zu beantra­gen seien. Diese Gelder stammten aus dem Republikschutzfond des Ministeriums. Den Kirchenver­tretern wurde erklärt, dass sie bei Beantragung der Hilfsgelder und innerhalb des sonstigen sich darauf beziehenden Schriftverkehrs den Zweck zu verschlüsseln hätten („Bekämpfung radikaler Strömungen“; der Terminus „Freidenkertum“ sollte ganz vermieden und an seiner Stelle aus­schließlich der Begriff „Gottlosenbewegung“ benutzt werden.

Allein aus diesen Darlegungen ergibt sich, welch wichtige und große politische Bedeutung der kulturpolitischen Arbeit des Deutschen Freidenkerverbandes, für Freidenkertum und Atheismus einzutreten, hatte. Wegen dieser politischen und weltanschaulichen Tätigkeit wurde der Verband von kirchlicher und politisch rechter Seite schon in der Weimarer Republik bekämpft. Dabei lassen sich politisch und weltanschaulich wegen des engen und inneren Zusammenhanges begrifflich nicht trennen. Der Verein hatte sich mit der Satzung von 1930 ein allumfasssendes weltanschauli­ches und politisches Ziel gesetzt, das erst in der Demokratie der Weimarer Republik realisierbar erschien.

Nachdem bei den Berliner Stadtverordnetenwahlen vom 12.03.1933 bei einer Wahlbeteiligung von 75,9 % die NSDAP ihr Wahlziel der absoluten Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung weit verfehlt hatte, setzte drei Tage später, am 15.03.1933, der preußische Innenminister, der National­sozialist Hermann Göring, einen Staatskommissar ein und den Magistrat ab. Zum Staatskommissar wurde der Führer der nationalsozialistischen Stadtverordnetenfraktion der Stadt Berlin, Julius Lip-pert, ernannt, der von Göring den Auftrag erhielt, „als Staatskommissar zur besonderen Verwen­dung (z.b.V.) die Stadt Berlin im Sinne der nationalsozialistischen Revolution gleichzuschalten und zu säubern“.

An demselben Tag, zwei Tage nach seiner Ernennung, an dem der NS-Kommissar für Berlin die Entlassung aller jüdischen Ärzte aus den Berliner Krankenhäusern verfügte, um der „ärmeren Be­völkerung garantieren zu können, von deutsch-stämmigen, auf christlich-nationalem Boden stehen­den Ärzten behandelt“ zu werden, besetzt die SA das Verbandshaus des Deutschen Freidenker­verbandes, jenes Verbandes, der gerade gegen die „christlich-nationalen Bestrebungen“ eingetre­ten war.

Allein diese Intensität des Vorgehens macht deutlich, für wie wichtig die Nationalsozialisten der deutschen Hauptstadt die in ihren diktatorischen Augen gefährliche, die Demokratie fördernde Organisation des Deutschen Freidenkerverbandes hielten.

Wegen der politischen und weltanschaulichen Zielsetzungen der Vereinigung wurde wenige Tage später ein Staatskommissar über den Verband insgesamt so eingesetzt, wie es kurz vorher für die Stadt Berlin geschehen war. Die Zahl der Betroffenen von dieser Maßnahme war verglichen mit dem Schritt gegen die Demokratie in der deutschen Hauptstadt minimal, die Qualität des NS-Unrechts, das hier gegen den demokratischen Verband ausgeübt wurde, war gleich: Die Demokra­ten durften nicht mehr handeln, der nationalsozialistische Kommissar konnte diktatorisch Willkür ausüben, der eine in der Stadt, der andere im Verband.

Aus Sicht des NS-Unrechtsstaates konsequent wurde dann in bürokratisch nachzuvollziehender Weise am 10.05.1933 dem Verband die weitere Verfolgung politischer und antireligiöser Bestre­bungen untersagt. Das Vermögen des Vereins wurde diesem durch Enteignung verfolgungsbedingt entzogen. Über eine Restitution wird gegenwärtig noch vor dem Verwaltungsgericht gestritten.

Einen Unterschied zwischen den vor dem Reichsdeputationsschluss von 1803 enteigneten christli­chen Kirchen und der 1933 enteigneten Organisation der Humanisten gibt es freilich: Die Vermö­genswerte der Humanisten waren überschaubar klein und allein durch Spenden und Beiträge er­worben. Die Staatsleistungen an die Kirchen werden wohl in Deutschland permanent weitergehen.

Auch Europa hilft nicht

Hoffnungen jedenfalls, im zusammenwachsenden Europa würde der deutsche Sonderweg privile­gierter Kirchenzuwendungen enden, sind vorerst zerstoben: In der Schlussakte der Beschlüsse von Amsterdam, in denen die Europäische Union im wesentlichen gefestigt wurde, haben die Mitglied­staaten der EU am 20.10.97 festgeschrieben, dass der Status, den Kirchen und religiöse Vereini­gungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten genießen, nicht beeinträchtigt werden solle.

Dieses soll Ausfluss der „Erkenntnis“ gewesen sein, dass die Europäische Union die Kernpunkte nationaler Identität respektieren und nicht beseitigen wollte, als in Artikel 1 Absatz 1 des Vertrages über die Europäische Union vom 07.02.92 in der Fassung vom 01.01.95 festgestellt wurde: „Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten“, so sagt es jedenfalls von Campenhausen in seinem Beitrag Offene Fragen im Verhältnis von Staat und Kirche am Ende des 20. Jahrhunderts und führt zur Begründung an: „Es besteht kein Zweifel, dass gerade das Staatskirchenrecht zum Urbestand staatlicher Ordnung in Deutschland gehört“. Seit dem Augsburger Religionsfrieden über den Westfälischen Frieden und den Reichsdeputationshauptschluss sei dies „eine wesentliche Voraussetzung für das Zusammenleben der großen Konfessionen in Deutschland gewesen“.

Und weil das Bundesverfassungsgericht diese Regelungen „durch seine Rechtsprechung dieses Systems in Einzelheiten ziseliert, bestätigt und legitimiert“ hat, wird das wohl auch so bleiben. - Der unbeeinträchtigte Privilegiengenuss der Kirchen geht weiter. Einige bleiben gleicher.

Anmerkungen

1) Vgl. Manfred Isemeyer: Freireligiöse und Feuerbestattung. In: „Kein Jenseits ist, kein Auferst’n“. Berlin 1998, S.72-90.
2) Nachweise zur Vereinsgeschichte bei Jochen-Christoph Kaiser: Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik. Stuttgart 1981, S.137 u.a.
3) So zitiert bei Kaiser: Arbeiterbewegung, S.298, aus EPD Nr. 22 vom 17.03.1931: „Die Gottlosenpropaganda und der Deutsche Staat. Ein Appell in ernster Stunde“.
4) Vgl. Verhandlungen des Reichstages 5. WP 1930, 5. Ausschuss, 45. Sitzung vom 19.02.1931.
5) Vgl. Verhandlungen des Reichstages 05. WP 46. Sitzung, S. 611.
6) Verhandlungen des Reichstages, 8. WP 1933 Band 457, S.25-32.
7) Vgl. Kaiser: Arbeiterbewegung, S. 308f, Anm. 133.
8) Vgl. Konrad Algermissen: Die Gottlosenbewegung in der Gegenwart und ihre Überwindung. Hannover 1933.

Literatur

Das Bonner Grundgesetz, Kommentar von v. Mangoldt und Klein, Bd. 3. Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, von Münch-Kunig, 3. Aufl. 1996.
Axel Frhr. von Campenhausen: Offene Fragen im Verhältnis von Staat und Kirche am Ende des 20. Jahrhunderts. In: Das Staat-Kirche-Verhältnis in Deutschland an der Schwelle zum 21. Jahr­hundert. Münster 2000 (Essener Gespräche, 34); vgl Rezension in diesem Heft.
Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Bd. V, hg. von Klaus Stern, München 2000.
Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, hg. von Bänder-Meihofer-Vogel.
Chronik der Stadt Bonn, Hg.: Hanrenberg, 1988.
Schlaglichter der Weltgeschichte, hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung. Kleine deutsche Verfassungsgeschichte, Zippelius, München 1994.

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Aus: humanismus aktuell, Heft 9 (2001), S. 21-28.