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Religiöse Vielfalt als Bedrohung?

Fowid-Statistikbeobachter: Umfragen und Statistik sind langweilig!? Sie fragen und reproduzieren nur das, was wir sowieso schon wissen!? Wer das meint, kennt den Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung nicht. Der kreiert durchaus aus Altbekanntem neue Realitäten. Medienwirksam. Oder wie es frühere Erfahrungen belegen, wird eine Realität erzeugt, die als solche nicht vorhanden ist. Das muss man können sowie wollen und mit der Autorität einer angesehenen Stiftung verbreiten.

Ende Mai 2023 rauschten die Überschriften durch die konservativen und religiösen nationalen Medien. Die WELT war einen Tag voran und legte vor – ihr lagen die Ergebnisse der Bertelsmann-Studie „exklusiv“ vor –, während die KNA (Katholische Nachrichtenagentur) und andere Geneigte einen Tag später folgten.

Ein Dittel der Bürger hält religiöse Vielfalt für ‚Bedrohung‘“ (WELT), „Religiöse Vielfalt für Drittel der Deutschen „Bedrohung“ (Österreich: ORF), „Studie: Drittel der Deutschen hält religiöse Vielfalt für ‚Bedrohung‘“ (katholisch.de), „Ein Drittel hält religiöse Vielfalt für Bedrohung: Eine Kluft in der Bevölkerung“ (domradio), „Studie: Ein Drittel hält religiöse Vielfalt für „Bedrohung“ (Qantara) und: „Religionsmonitor 2023: Religiöse Vielfalt macht Menschen Angst“ (Bayerischer Rundfunk).

Grundlage für diese Meldungen ist die Publikation der Studie der Bertelsmann-Stiftung von Marcel Müke, Ulf Tranow, Annette Schnabel und Yasemin El-Menouar: „Zusammenleben in religiöser Vielfalt. Warum Pluralität gestaltet werden muss“ (Die Studie und eine Projektnachricht), die im Kontext des Religionsmonitors 2023 der Stiftung entstanden sind.

Innerhalb dieser Umfrage/Publikation gibt es eine Frage: „Wie nehmen Sie die zunehmende Vielfalt religiöser Gruppen wahr?“

Das ist nun arg unspezifisch: „Vielfalt religiöser Gruppen“? Auch wenn es bereits eingangs der Studie heißt: „Deutschland ist divers“, so entspricht das nicht der Realität, denn mit der Vielfalt kann nur der Islam gemeint sein. Was in früheren Umfragen des Religionsmonitors auch so unmissverständlich benannt wurde („Islam?“) wird nun verwuschelt? Gleichzeitig wird die Antwortmöglichkeit dichotomisiert auf die Antwortmöglichkeiten „Bedrohung“, „Bereicherung“.

Beides sind sehr emotionale Sichtweisen. „Bedrohung“ geht Richtung AfD und noch weiter rechts, als ob die Taliban bald im Garten stehen, „Bereicherung“ geht in Richtung fundamentalistische Grüne bis zu islamischen Verbänden, die sich so selbstbezogen sehen, obwohl die mit der Bereicherung Beschenkten das selber nicht unbedingt so betrachten. Für alle, die mit diesen beiden Bewertungen nicht übereinstimmen, gibt es noch die bemerkenswert größte Gruppe des „weder noch“.

Und darauf basieren die medialen Schlagzeilen. Diese ‚Skandalisierung“ liegt aber auch in der Verantwortlichkeit des Religionsmonitors, denn dieses Bedrohungspotential wird vom Religionsmonitor auch durchaus selbst gesehen (S. 7):

„Die Religionsfreiheit gerät dort an ihre Grenzen, wo sie mit Einstellungen und Handlungen verbunden ist, die die Freiheit selbst infrage stellen. Das gilt besonders für fundamentalistische religiöse Bewegungen, die zweifelsohne auch Teil der neuen religiösen Pluralität sind. So haben in Frankreich salafistische Lesarten des Islams vor allem unter jungen Erwachsenen an Attraktivität gewonnen (Roy 2006). In den postkommunistischen Ländern Mittel und Osteuropas wiederum ist ein überdurchschnittliches religiöses Wachstum und eine Rückkehr der Kirchen auf die politische Bühne zu beobachten, was ebenfalls mit antidemokratischen Haltungen einhergeht.“

Und ebenso (S. 11/12) wo es heißt, dass die „Negativschlagzeilen orientierte Berichterstattung oder emotional aufgeladene öffentliche Debatten die Wahrnehmung religiöser Vielfalt als Bedrohung befördern.“

„Allerdings wirkt sich religiöses Wissen nicht immer positiv auf die Haltungen zu religiöser Vielfalt aus. Mit zunehmendem Umfang an Wissen wächst nicht nur der Anteil der Befragten, der in religiöser Vielfalt eine Bereicherung sieht, sondern auch der Anteil derer, die sie als bedrohlich wahrnehmen. Das heißt, mit dem subjektiven Wissen nimmt auch die Polarisierung in Hinblick auf religiöse Vielfalt zu. Offenbar ist das, was vermeintlich oder begründet gewusst wird, entscheidend dafür, wie die religiöse Landschaft bewertet wird.
Eine wichtige Wissensquelle sind für viele Menschen die (sozialen) Medien. Hier können eine vor allem an Negativschlagzeilen orientierte Berichterstattung oder emotional aufgeladene öffentliche Debatten die Wahrnehmung religiöser Vielfalt als Bedrohung befördern – vor allem wenn als Korrektiv die persönliche Alltagserfahrung fehlt.“

Gegenüber den Ergebnissen von früheren Umfragen des Religionsmonitors könnte man diese Ergebnisse auch positiver sehen. Aus den Ergebnissen des Religionsmonitors 2019 titelte der SPIEGEL vor vier Jahren: „Hälfte der Bevölkerung empfindet den Islam als Bedrohung“.

„Die Hälfte der Befragten empfindet den Islam als Bedrohung. In Ostdeutschland, wo wenig Muslime leben, fallen die Vorbehalte stärker aus als im Westen. So wollen laut Erhebung 30 Prozent im Osten und 16 Prozent im Westen keine Muslime als Nachbarn. […]
Die recht weit verbreitete Islamskepsis sei aber nicht unbedingt mit Islamfeindlichkeit gleichzusetzen, betonte Stiftungsexpertin Yasemin El-Menouar in Gütersloh. Diese sei allerdings definitiv vorhanden bei 13 Prozent der Bevölkerung, welche die Zuwanderung von Muslimen stoppen wollten.“

Und 2015 hieß es: „Islam-Studie: Muslime integrieren sich, Deutsche schotten sich ab“.

„57 Prozent der nicht-islamischen Befragten halten den Islam für „sehr bedrohlich“ oder „bedrohlich“. Das Resultat basiert auf Interviews des Meinungsforschungsinstituts TNS Emnid von Ende November. Im Jahr 2012 waren es noch 53 Prozent. […]
Für die Muslime in Deutschland bedeutet dieses Stimmungsbild vor allem eines - Ausgrenzung. Sie leiden zunehmend unter dem negativen Bild, das durch Terrorgruppen wie „al-Qaida“ oder den „Islamischen Staat“ beeinflusst wird.“

Die Thematik und Programmatik dieser Ausgabe des Religionsmonitors lautet „So gelingt religiöse Vielfalt: durch Kontakt zueinander“. Begründung: „Deutschland ist heute religiös divers. Damit das Miteinander gelingt, brauchen die religiösen Gruppen differenziertes Wissen und eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe.“

Diese vorgeblich größere religiöse Diversität, die nur durch die bereits seit langen bekannten Denominationen innerhalb der ‚Religionsfamilien‘ begründet wird, hat eine Begleitung von christlichen Theologen, die genau das auch fordern: „Philosoph bestreitet Relevanzverlust von Religionen in der Demokratie“ (Sonntagsblatt), „Theologe sieht Religion bei Wissenschaft hoch im Kurs: ‚Fester Bestandteil des menschlichen Lebens‘“ (domradio), und: „Theologe Lauster: Religion stärker ins öffentliche Leben holen“ (Sonntagsblatt).

Die Einleitung der Vielfalts-Studie beginnt mit den ersten Sätzen wie ein Glaubensbekenntnis:

„Religion ist in Europa und auch in Deutschland keineswegs auf dem Rückzug. Vielmehr verändert sich die religiöse Landschaft tiefgreifend.“

Das ist angesichts des stetigen Rückgangs der Kirchenmitglieder, die Ende 2022 noch 47,4 Prozent in Deutschland darstellen, eine ‚starke Sichtweise‘. Das wird dann mit einer (fragwürdigen) PEW-Studie aus dem Jahr 2015 begründet.

Zwei weitere Aspekte fallen zudem auf:

1. Die Publikation nennt sich „Religionsmonitor 2023“. Tatsächlich sind die Daten jedoch im Juni/Juli 2022, also im Frühsommer 2022 erhoben worden. Das hat eine ähnliche Logik, als ob ein Apfelbauer, der 2022 seine Äpfel geerntet hat, sie im Frühjahr 2023 als „neue Ernte des Jahres“ anpreist.

2. Das Sample, d. h. die Zusammensetzung der Befragten hat ein deutliches Defizit bei den Konfessionsfreien und den „Christen“, was sich zu Gunsten der kleineren Religionsgemeinschaften darstellt.

Unter dem Stichwort „Zuordnung zu einer Religionsgemeinschaft“ (S.16/17) heißt es dazu:

„In der Erhebung für den Religionsmonitor haben wir zunächst zwischen individuellem Zugehörigkeitsgefühl und formeller Mitgliedschaft nicht getrennt und die Teilnehmer:innen gefragt, welcher Religionsgemeinschaft sie angehören oder sich zugehörig fühlen. Die Hälfte der Befragten ordnet sich einer christlichen Religionsgemeinschaft zu, 8,5 Prozent einer islamischen und 0,3 Prozent dem Judentum. Hinduismus (1,3 Prozent) und Buddhismus (0,9 Prozent) weisen sogar etwas mehr Anhänger:innen auf als das Judentum. Ein gutes Drittel (35,9 Prozent) sieht sich gar keiner Glaubensgemeinschaft zugehörig.
Diese Verteilung entspricht im Groben anderen Erhebungen, etwa der Untersuchung der Forschergruppe Weltanschauungen in Deutschland (2022b)“

Abgesehen von der falschen Bezeichnung von fowid als „Forschergruppe“ bezieht sich diese Angabe „im Groben“ auf einen früheren fowid-Artikel „Religionszugehörigkeit der Bevölkerung 1970 – 2011“, der 2015 publiziert wurde und nur noch im Web-Archive zu finden ist. Die vom Religionsmonitor bezogene fowid-Referenz bezieht sich somit auf die Daten von 2011. Das ist zumindest erstaunlich, da die Umfrage zum Religionsmonitor 2023 im Juni/Juli 2022 stattfanden und dann die Anteile für Ende 2021 angemessen gewesen wären. Dort sind die Anteile aber deutlich anders: Konfessionsfreie sind dort mit 41,9 (statt mit 35,9 Prozent) genannt und die „Christen“ haben einen Anteil von 54,8 (statt 50,0 Prozent).

Betrachtet man die „Innere Vielfalt“ – mit der die Thematik der ganzen Studie begründet wird – so werden die Denominationen des Christentums mit genau 50 Prozent erfasst.

Rechnet man diese 50 Prozent auf die Bevölkerung um, so sind es 22,3 Prozent römische Katholiken sowie 21,8 Prozent EKD-Evangelische, zusammen 44,1 Prozent. Die Orthodoxen (1,9 Prozent) und die evangelischen Freikirchen (1,2 Prozent) sind 3,1 Prozent weitere Christen. Es bleibt die Frage, was macht man mit den 4,6 bzw. 2,3 Prozent Christen „ohne Konfession“? Nach fowid-Auffassung würde man sie bei den konfessionsgebundenen Christen herausnehmen und den Konfessionsfreien zuordnen. Das Gleiche würde wohl auch für die Muslime „ohne Glaubensrichtung“ gelten müssen.

Rechnet man die beiden konfessionsfreien Gruppen aus den Christen heraus (2,3 Prozent der Bevölkerung) und ebenfalls bei den Muslimen (1,5 Prozent der Bevölkerung), so wird die Gruppe der Konfessionsfreien (im Religionsmonitor „keine Religionsgemeinschaft“ genannt) um 3,8 Prozentpunkte größer und beläuft sich dann auf 35,9 + 3,8 = 39,7 Prozent. Das ‚vereinigte Christentum aller Denominationen‘ hätte dann jedoch nur noch einen Anteil von 47,3 der Bevölkerung.

Vergleichbare Rechenkünste zeigte der Religionsmonitor bereits im Dezember 2007 (vor Weihachten), als es hieß: Märchenstunde bei Bertelsmann: „70 Prozent der Bundesbürger sind religiös“ und die WELT titelte: „Gott bewegt die Deutschen und die Welt“.

„Eine umfassende Studie zur Religiosität widerlegt die Annahme, dass der Glauben in Deutschland in die Bedeutungslosigkeit abrutscht. Besonders gläubig sind hierzulande die Katholiken. Im internationalen Vergleich zeigt sich: Das religiöseste Land der Erde liegt in Afrika.
Die Deutschen sind religiöser als bislang angenommen. Religion ist für 70 Prozent der deutschen Bevölkerung über 18 Jahren bedeutsam. Fast jeder fünfte Deutsche ist sogar tiefreligiös.“

Petra Daheim hat sich das seinerzeit genauer angesehen und kommentierte, wie auch Gottlose „religiös“ werden:

„Bertelsmann schickt indes nicht die drei Weisen aus dem Morgenland zur Datenerhebung, sondern bereitet fünf Fragen vor, die in einem Religionsmonitor zur Messung des Grades der Religiosität geeignet erscheinen.
So geschieht denn auch das Wunder, dass bereits die erste Frage („Wie oft denken Sie über religiöse Themen nach?“) jeden interessierten Atheisten der sich mittels Lektüre der Kriminalgeschichte des Christentums in religiösen Fragen fortbildet, zum Hochreligiösen mutieren lässt. Ganze 5 Punkte bringt die ehrliche Antwort ein. Respekt ihr Bertelsmännchen, dass habt ihr aber geschickt eingefädelt.
Bei Frage zwei („Wie stark glauben Sie daran, dass es Gott oder etwas Göttliches gibt?“) kann man dann auch als Atheist mit gutem Gewissen für sein „gar nicht“ nur einen Punkt für „nicht religiös“ einstreichen.
Bei Frage drei (Wie häufig nehmen Sie an Gottesdiensten …. oder religiösen Handlungen teil?“) kommt man als Gottloser ins Überlegen. Die Beerdigungsfeier für die verstorbene alten Tante in der Kirche – war das nun ein Gottesdienst? Mmh, zumindest eine religiöse Feier. Und wenn ich am 24.12. abends wieder den Opa mit seinem Rollstuhl in die Kirche fahre und dann dort bei ihm bleibe – dann ist das eindeutig die Teilnahme an einem Gottesdienst. Also Antwort: „selten / wenig“, das bringt 2 Punkte.
Bei Frage vier („Wie häufig beten Sie? Wie häufig meditieren Sie?“) meldet sich bei dem einen oder anderen Religionslosen das schlechte Gewissen: „Wie ist das denn mit autogenem Training? Gilt das auch als Meditation?“ Der Jahreszeit und Fußkälte angemessen beantwortet man also diese Frage mit „gelegentlich“ und kassiert 3 Punkte.
Die letzte Frage („Wie oft erleben Sie Situationen, in denen Sie das Gefühl haben, dass Gott oder etwas Göttliches in Ihr Leben eingreift? Wie oft erleben Sie Situationen, in denen Sie das Gefühl haben, mit Allem Eins zu sein?“) lässt die Geschicklichkeit der Test-Ersteller dann richtig erstrahlen.
Nein, natürlich hat man nicht das Gefühl, dass ein göttliches Wesen irgendwie eingreift, aber selbstverständlich ist das Gefühl mit „Allem Eins zu sein“ ein ständiger Begleiter: (Auf dem Klo, in der Badewanne, im Orgasmus, im Vollrausch etc. etc.) Also „ziemlich / oft“ angegeben und noch schnell 4 Punkte addiert und fertig ist der Test.
Und siehe da Hurra, Hurra, der Gottlose erhält 15 Punkte und ist richtig ‚religiös‘, ein echter Schenkelklopfer. Und: ‚Religiös‘ wäre man auch ohne kalte Füße (mit 12 Punkten) gewesen.
Also, bei allem was Recht ist, aber diese Erhebung unterbietet sogar das Niveau von Persönlichkeitstests der Marke ‚Wie treu sind Sie?‘ in Frau im Spiegel. Doch Hauptsache ist ja, dass bei Bertelsmann die richtige Vorfreude aufs Fest einkehrt. Da will man nicht so nickelig sein.“

Carsten Frerk