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Soziale Identitäten, Religion und „Kulturchristen“

Es ging wie ein Frühlings-Rauschen durch religiös orientierte Medien in Deutschland. Besonders pointiert: „Religion ist für soziale Identitäten prägend“. Das ist zwar von der KONID-Forschungsgruppe auch so vorgegeben, aber in der differenzierten Betrachtung zeigt sich dann die relativ geringe Bedeutung der Religion, die auf Rangplatz 12 von 21 Identitäten rangiert.

Wie die Universität Luzern berichtet hat das Deutsch-Schweizer Forschungsprojekt „Konfigurationen individueller und kollektiver religiöser Identitäten und ihre zivilgesellschaftlichen Potentiale“ (KONID) erste Ergebnisse publiziert. Dabei steht KONID für den quantitativen Teil des interdisziplinären Forschungsverbundes „Soziale Gruppen und religiöse Identitäten in ziviler Gesellschaft (RESIC)“. (Der KONID-Bericht kann heruntergeladen werden.)

57 oder 39 Prozent?

In der Präsentation der Ergebnisse ergibt sich ein Widerspruch zwischen der Zusammenfassung und dem Bericht selber. In der Zusammenfassung heißt es: „In Deutschland ist die soziale Identität Religion für 57 Prozent der Bevölkerung wichtig. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung schätzt also die Zugehörigkeit zu ihrer Religion oder zur Kategorie ‚keine Religionszugehörigkeit‘ als wichtig ein.“ (S. 6)

Auch wenn verdeutlicht wird (S. 5), dass die „Wichtigkeit der sozialen Identität ‚Religionszugehörigkeit‘“ mit Hilfe einer sechsteiligen Skala von „äußerst wichtig / wichtig / eher wichtig / eher unwichtig / unwichtig / völlig unwichtig“ erfragt wurde, wurde diese sechsteilige Skala nicht – wie üblich – in 2 / 2 / 2 zusammengefasst (wichtig / unentschieden / unwichtig), sondern in zwei Kategorien dichotomisiert (wichtig / unwichtig). Das ging wie ein Frühlings-Rauschen durch religiös orientierten Medien in Deutschland. Besonders pointiert: „Religion ist für soziale Identitäten prägend“.

Im weiteren KONID-Bericht selber wird dann zum einen die 2 / 2 / 2 Gruppierung verwendet und zum anderen die relative Wichtigkeit der Religion innerhalb von insgesamt 21 sozialen Identitäten berichtet. Ergebnis (S. 15): „Die eigene Familienzugehörigkeit und die Zugehörigkeit zum Freundes- und Bekanntenkreis sind die mit Abstand wichtigsten sozialen Identitäten. Die Familie erzielt bei über 80 Prozent der Befragten eine hohe Wichtigkeit, der Freundeskreis bei fast 70 Prozent. Nur sehr wenige nehmen diese soziale Identität überhaupt nicht wichtig. Es folgen der Zivilstand, der neben ledig, getrennt oder verwitwet vor allem die Familienrollen Ehemann/Ehefrau, Vater, Mutter umfasst, und – sofern ausgeübt – das freiwillige bzw. ehrenamtliche Engagement. Dieser Befund unterstreicht die starke Bedeutung der Zivilgesellschaft für den Einzelnen, sofern sie oder er Teil von ihr ist. Auf diese Spitzengruppe sozialer Identitäten folgt ein Mittelfeld mit den sozialen Identitäten Europäer/in, Geschlecht, Beruf, Nationalität, Altersgruppe, Geburtsland und politische Haltung. Bei der Wichtigkeit erreichen sie in beiden Ländern Werte von über 40 bis 52 Prozent. Die übrigen sozialen Identitäten sind weniger wichtig. Es folgen mit geringem Abstand zuerst die Zugehörigkeit zur Nachbarschaft und dann die Religionszugehörigkeit. Die Schichtzugehörigkeit und die Konfessionszugehörigkeit – beides zentrale soziale Identitäten der klassischen Moderne – finden sich am unteren Ende der Wichtigkeitsskala.“

Der Zentralitätsskala folgend (Stefan Huber, 2008, S. 4: „Kerndimensionen der Religiosität: Intellekt, Ideologie (Glaube), öffentliche Praxis, private Praxis, Erfahrung, Konsequenzen im Alltag“) gibt es in Deutschland 15 Prozent Hoch-Religiöse, 49 Prozent (mehr oder minder) Religiöse und 36 Prozent Nicht-Religiöse.

„Kulturchristen“

Unter den Mitgliedern der Religionsgemeinschaften bezeichnen von den nichtreligiösen Kirchenmitgliedern 11 Prozent ihre soziale Identität Religion mit „wichtig“ bzw. „sehr wichtig“. Dazu schreiben die Autoren der KONID-Studie (S. 12): „Hier liegt ein religionsgeschichtlich vermutlich jüngeres Phänomen vor: Es gibt in stark säkularisierten Gesellschaften Menschen, die im Alltag keinerlei praktischen oder inhaltlichen Bezug zur Religion bzw. hier vor allem zum gelebten Christentum haben, gleichwohl sie ihre rein formale Zugehörigkeit als wichtigen Bezugspunkt ihrer sozialen Identität ansehen. Da dieses Phänomen vor allem die christlichen Großkirchen betrifft, kann man für diese Gruppe vielleicht am besten von ‚unreligiösen Kulturchristen‘ sprechen. Denkbar wäre, dass die Entstehung dieser Gruppe ein Reflex auf die im öffentlichen Diskurs sich verschärfenden Abgrenzungen entlang der Religionskategorien ‚Christentum‘ und ‚Islam‘ ist. Der zu vermutende Zusammenhang lautet dann zugespitzt: Der befürchteten ‚Islamisierung‘ halten die „unreligiösen Kulturchristen“ ein ostentativ behauptetes Christentum oder ‚christliches Abendland‘ entgegen, ohne dass dies für sie inhaltlich mit einem christlichen Glauben verbunden ist. Ein solcher Mechanismus entspricht der Logik von Ingroup- und Outgroup-Dynamiken zur Besserstellung der eigenen Gruppe, wie ihn die Theorie sozialer Identitäten postuliert. Die positive Bezugnahme auf die eigene Gruppe dient als Distinktionsmerkmal, um das eigene Selbstwertgefühl durch den Vergleich mit den zu ‚Anderen‘, ‚Fremden‘ oder ‚Feinden‘ erklärten selbst besser zu stellen.“

Konfessionsfreie

Die Religionsaffinität der KONID-Forscher zeigt sich nicht nur in der dichotomen Wichtigkeit von Religion in der Zusammenfassung sondern dann auch deutlich in der Feststellung zu den Menschen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören (S. 13): „Die größte Teilgruppe unter den Personen ohne Religionszugehörigkeit stellen erwartungsgemäß die Nichtreligiösen. Erstaunliche 38 Prozent (Deutschland) bzw. 31 Prozent (Schweiz) von ihnen betrachten die Tatsache ihrer Nichtzugehörigkeit als eine starke soziale Identität, das zeigen die KONID-Daten. Hier handelt es sich also um das Potential jenes harten Kerns der ‚Nones‘, die Religion grundsätzlich ablehnen.“

Harter Kern?

(CF)