Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
Als „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ wird eine bestimmte Gruppe von Strafrechtsparagraphen bezeichnet, die bis 1974 als „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“ bekannt war. Die entsprechenden Vorschriften stellen historisch gesehen ein breites Spektrum an Verhaltensweisen unter Strafe, sie sind Ausdruck des weltanschaulichen Zeitgeists und der Rechtslage dieser Jahre. So wirken manche dieser Verbote aus moderner Perspektive archaisch und autoritär, andere wiederum wurden im Laufe der Zeit nachgeschärft. Ein Großteil dieser Paragraphengruppe findet sich entsprechend bereits im 1871 erlassenen Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich.
Von Adrian Beck
Die vorliegende Untersuchung wertet die Polizeilichen Kriminalstatistiken (PKS) zwischen 1953 und 2019 aus, um eine Übersicht über die Anzahl erfasster und gelöster Fälle im Hinblick auf einzelne Delikte zu bieten. Hierbei sind zwei Dinge zu beachten:
a) Die PKS zählt die Anzahl der polizeilich eröffneten Fälle sowie die Aufklärungsquote. Aussagen über die Anzahl ver- oder abgeurteilter Personen lassen sich der Polizeilichen Kriminalstatistik nicht entnehmen.
b) Die PKS schlüsselt ihren Datensatz nicht immer nach Paragraphen des Strafgesetzbuchs auf, sondern nach Straftatengruppen. Hin und wieder wird die Zusammensetzung dieser Straftatengruppen angepasst, sodass ein Vergleich der Anzahl erfasster Fälle über Zeit nicht immer reibungslos möglich ist.
Für die vorliegende Untersuchung wurden vier Straftatbestände aus der Gruppe der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ausgewählt:
§ 175 Sex zwischen Männern
§ 176 Sexueller Missbrauch von Kindern
§§ 177, 178 Vergewaltigung
§§ 180,181 Kuppelei
Ergänzend dazu fasst diese Untersuchung auch die §§ 218 und 219 ins Auge, die den Schwangerschaftsabbruch sowie die Werbung für ebendiesen unter Strafe stellen. Während der Schwangerschaftsabbruch formaljuristisch nicht zu den sogenannten „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ (vormals: „Sittlichkeitsverbrechen“) gehört, sind die §§ 218 und 219 für die vorliegende Untersuchung dennoch von Interesse.
Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Schwangerschaftsabbruch, analog zu einvernehmlichen Orgien und homosexuellen Handlungen, ein „opferloses Verbrechen“ darstellt. Die strafrechtliche Kriminalisierung eines Schwangerschaftsabbruchs wird nicht durch die Existenz einer geschädigten Person, die die Kompensation einer Verletzung der eigenen Rechte einklagt, legitimiert, sondern durch einen übergeordneten gesellschaftlichen moralischen Kodex.
Ziel der Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs war und ist – und auch hier gleichen sich die Begründungen für die Kriminalisierung von Abtreibung und männlicher Homosexualität – eine Lenkwirkung zu erzielen. Insofern, als dass der übergeordnete gesellschaftliche moralische Kodex ein intersubjektives Produkt des jeweiligen Zeitgeists ist, ließe sich der Straftatbestand des Schwangerschaftsabbruchs aus rechtsphilosophischer Perspektive durchaus als Vergehen wider die „Sittlichkeit“ (der jeweiligen Zeit) begreifen. Die seit Jahren immer lauter werdenden Forderungen, Abtreibungen nicht über das Straf-, sondern das Zivilrecht zu regeln, können als Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Neubewertung der moralischen Integrität reproduktiver Rechte verstanden werden.
§175 – Sex zwischen Männern
Bis 1994 wurden homosexuelle Männer unter § 175 strafrechtlich verfolgt. Insgesamt wurden in diesem Zeitraum 143.829 Ermittlungsverfahren eingeleitet, von denen 94,8 Prozent (136.347 Fälle) als aufgeklärt in die Statistik eingingen.
Die Strafrechtsreform der Großen Koalition im Jahr 1969 war die erste Überarbeitung des § 175 seit dessen Einführung zu Zeiten des Deutschen Kaiserreichs. Das Totalverbot homosexueller Handlungen zwischen Männern wurde aufgehoben und ein Schutzalter von 21 Jahren etabliert. Die Änderung jedoch führte zu einigen rechtlichen Kuriositäten: Waren beide Männer über 21 Jahre alt, war die Romanze straffrei. War einer über und einer unter 21 Jahre alt, so machte sich nur der Ältere strafbar. Waren beide zwischen 18 und 21 Jahren alt, machten sich beide strafbar.
Eine markante Zäsur bildet auch die 1973 erlassene Vierte Strafrechtsreform, die sich in einem rapiden Absturz der Fallzahlen widerspiegelt. Das Schutzalter wurde auf 18 Jahre abgesenkt, wodurch einzig der Sex mit Minderjährigen als Straftatbestand in § 175 verblieb. Das Schutzalter bei heterosexuellen Beziehungen liegt zu diesem Zeitpunkt bei 14 Jahren. Begründet wurde diese Differenz mit dem Argument, dass männliche Jugendliche in ihrer Entwicklung davor geschützt werden müssten, mit dem Konzept der Homosexualität in Kontakt zu kommen, um so etwaigen „Prägungen“ vorzubeugen. (Vgl. Bundestagsdrucksache VI/1552, pp. 9.)
88 Prozent (126.677) aller erfassten Fälle männlicher Homosexualität sind vor dem Jahr 1974 zu verorten. Zwischen 1974 und 1994 wurden lediglich 17.152 Fälle strafrechtlich relevanter homosexueller Handlungen erfasst. Im Jahr 1994 strich der Deutsche Bundestag § 175 ersatzlos und legte ein einheitliches Schutzalter von 14 Jahren für sexuelle Handlungen fest.
§176 – Sexueller Missbrauch von Kindern
Die Definition des „Kindes“ nach § 176 StGB richtet sich nach dem Schutzalter. Von einigen Sonderkonstellationen wie dem Missbrauch von Schutzbefohlenen abgesehen, liegt dieses für heterosexuelle Beziehungen seit 1953 bei 14 Jahren. Hierbei ist zu beachten, dass bis 1994 auch der § 175 Anwendung finden konnte, insofern die am Sexualakt Beteiligten alle männlich waren, vergleiche hierzu die oben skizzierte Entwicklung des Schutzalters im Kontext homosexueller Beziehungen.
Über den Gesamtzeitraum zwischen 1953 und 2019 schwankt die Anzahl erfasster Fälle stets zwischen 10.000 und 19.000 pro Jahr, wobei insgesamt ein leichter Abwärtstrend zu beobachten ist. Berücksichtigt man jedoch das Bevölkerungswachstum der Bundesrepublik in dieser Zeitspanne und bildet eine Häufigkeitsziffer, zeigt sich eine signifikante Reduktion der Prävalenz des sexuellen Missbrauchs von Kindern.
Während die Aufklärungsquoten in den 1950er-Jahren mit durchschnittlich über 80 Prozent relativ hoch sind, sinken sie bis zum Jahr 1986 auf einen historischen Tiefstand von lediglich 59,75 Prozent. Daraufhin steigen sie sukzessive an und liegen in den 2010er-Jahren bei durchschnittlich etwa 85 Prozent.
§177, 178 – Notzucht / Vergewaltigung
Zwischen 1953 und 1973 spricht die Kriminologie von der sogenannten „Notzucht“, die im Rahmen der Vierten Strafrechtsreform 1973 schließlich in „Vergewaltigung“ umbenannt wird.
Die vorliegenden Zahlen beziehen sich auf die aktuellen § 177 Abs. 2, 3 und 4 sowie § 178 StGB, also die Straftatbestände Vergewaltigung, schwere sexuelle Nötigung sowie Vergewaltigung/sexuelle Nötigung mit Todesfolge. Einfache sexuelle Nötigungen nach § 177 Abs. 1 und 5 StGB sind nicht erfasst. Ermittlungsverfahren nach dem § 178 in seiner Fassung vor 1973 (= einfache sexuelle Nötigung) sind ebenfalls nicht abgebildet.
Von unüberschätzbarer Bedeutung im Kontext der §§ 177 und 178 ist das Jahr 1997. Um dies herauszustellen, sei hier der § 177 Abs. 1 in seiner vom 24. November 1973 bis zum 5. Juli 1997 gültigen Fassung zitiert:
„Wer eine Frau mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben zum außerehelichen Beischlaf mit ihm oder einem Dritten nötigt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft.“ (Hervorhebung durch den Autor)
Diese Formulierung macht deutlich, dass zwei Gruppen von Menschen im juristischen Sinne nicht vergewaltigt werden konnten: Ehefrauen, wenn der Übergriff vom ihnen rechtmäßig angetrauten Ehemann begangen wurde, und Männer im Allgemeinen. Vor dem Jahr 1997 war eine innereheliche Vergewaltigung lediglich als einfache sexuelle Nötigung strafbar. Das zu schützende Rechtsgut war nicht die sexuelle Selbstbestimmung oder körperliche Autonomie des Individuums, sondern die „sexuelle Reinheit“ unverheirateter Frauen.
Analog zu diesen Entwicklungen steigt die Zahl erfasster Fälle ab 1997 rasant an. In den zehn Jahren zwischen 1987 und 1996 wurden 57.606 Ermittlungsverfahren eingeleitet, in den folgenden zehn Jahren waren es bereits 79.968, was einer Steigerung von 38,8 Prozent entspricht.
Natürlich bietet die PKS keinen Nachweis für die Kausalität zwischen der Ausweitung des § 177 und den gestiegenen Fallzahlen. Zweifellos spielt hier auch das mit der Wiedervereinigung verbundene Bevölkerungswachstum eine Rolle. Unter Berücksichtigung der Tatsache allerdings, wie groß der Kreis an Personen ist, die von der Änderung betroffen sind – alle Männer und alle Ehefrauen machen zusammengenommen bereits eine prozentuale Majorität der Gesamtbevölkerung aus –, erscheint es unrealistisch, in dieser Ausweitung des § 177 nicht zumindest eine partielle Begründung für den beachtlichen Anstieg erfasster Fälle zu verorten.
Abschließend sei an dieser Stelle erwähnt, dass die historischen Aufklärungsquoten für Delikte nach §§ 177 und 178 im Vergleich mit manch anderen hier abgehandelten Straftatbeständen relativ niedrig sind. Erst im Jahr 1996 wird erstmals eine AQ von über 75 Prozent erzielt, seit 2001 liegt die Aufklärungsquote konstant bei über 80 Prozent. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass zwischen 1953 und 1996 statistisch gesehen mehr als jede vierte Vergewaltigung unaufgeklärt blieb. Die substantielle Verbesserung der Aufklärungsquoten in den späteren 1990ern und früheren 2000ern ist als Konsequenz einer massiv verbesserten Forensik, beispielsweise der Zulassung von DNA-Spuren als Beweismaterial, zu bewerten. (Zur Einordnung: Das Bundeskriminalamt begann im Jahr 1998 mit dem Aufbau einer zentralen Datenbank, in der Genmaterial von Straffälligen und ggf. Beschuldigten gespeichert wird.)
§180, 181 – Kuppelei
Der Straftatbestand der Kuppelei bezeichnete das absichtliche Zusammenbringen zweier oder mehr Personen zum Zwecke außerehelicher sexueller Kontakte. Unter Strafe stand dabei nicht nur das „Verkuppeln“ anderer, sondern auch das Praktizieren von Polyamorie und anderen offenen Beziehungsformen. Ein Ehemann, der mit seiner Frau an einem einvernehmlichen Dreier teilnahm, machte sich der schweren Kuppelei schuldig.
Die kulturelle Hegemonie der heterosexuellen Zwei-Personen-Ehe als einzig legitimem Ort für Sexualität kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass der angrenzende § 181a den Straftatbestand der Zuhälterei umfasst. Analog zu § 177 war Kern der strafrechtlichen Relevanz nicht Aufklärung und Einvernehmen, sondern die soziologische Struktur, innerhalb der der Sex stattfand.
Entsprechend differenziert die polizeiliche Kriminalstatistik zwischen 1953 und 1962 nicht zwischen Kuppelei und Zuhälterei. In diesem Zeitraum wurden 71.185 Fälle nach den §§ 180, 181 sowie 181a erfasst. Zwischen 1963 und 1973 liefert die Polizeiliche Kriminalstatistik die Fallzahlen getrennt, woraus sich eine Summe von 30.169 erfassten Delikten nach den Paragraphen 180 sowie 181 ergibt.
Da die beiden Zeiträume nahezu identisch lang sind, lässt diese Diskrepanz darauf schließen, dass ein nicht geringer Teil der zwischen 1953 und 1962 erfassten Fälle dem Straftatbestand der Zuhälterei zuzurechnen sein könnte, nicht dem der Kuppelei. Mit der Vierten Strafrechtsreform von 1973 entfällt die Strafbarkeit der Kuppelei, in § 180 StGB wird künftig die „Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger“ unter Strafe gestellt.
§218, 219 – Schwangerschaftsabbruch
Die PKS subsummiert die §§ 218, 218a, 219, 219a und 219b unter die gleiche Straftatengruppe. Die vorliegende Statistik beinhaltet also sowohl Fälle, in denen Schwangerschaftsabbrüche angezeigt wurden, als auch solche, in denen Beihilfe zu und/oder Werbung für einen Schwangerschaftsabbruch angezeigt wurde.
Zwischen 1953 und 2013 wurden 70.391 Ermittlungsverfahren wegen der bezeichneten Straftaten eröffnet. 63.811 davon gingen als aufgeklärt in die Statistik ein, was einer durchschnittlichen Aufklärungsquote von 90,65 Prozent entspricht. Ab 2014 liefert die PKS keine verwertbaren Zahlen zu diesem Sachverhalt mehr.
In der Zeitreihe zeigt sich eine kontinuierliche Reduktion der Fallzahlen, nie wieder wurden so viele Fälle nach §§ 218 und 219 erfasst wie zu Beginn der statistischen Erhebung anno 1953. Bemerkenswert ist, dass in den 1950er-Jahren zu keinem Zeitpunkt weniger als 4.000 Fälle pro Jahr erfasst wurden, die AQ pendelt um die 90%. Bereits in den 1960er-Jahren hat sich das Fallaufkommen nahezu halbiert, während die Aufklärungsquoten stagnieren.
Mit weiter sinkenden Fallzahlen steigen die Aufklärungsquoten in den 1970er- und 1980er-Jahren auf durchschnittlich etwa 95 Prozent. Zu diesem Zeitpunkt werden nur noch einige hundert Fälle pro Jahr erfasst, teilweise sogar nur ein paar Dutzend. Dies hängt mit den über die Zeit gewachsenen Ausnahmeregelungen zusammen, die Schwangerschaftsabbrüche unter bestimmten Voraussetzungen straffrei stellen.
Der Tiefpunkt ist schließlich in den 1990ern und frühen 2000ern erreicht: In keinem Jahr wurden mehr als 91 Fälle wegen Schwangerschaftsabbrüchen eröffnet. (Die Jahre 1991 und 1992 müssen gesondert betrachtet werden, da es hier auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zu einer statistisch signifikanten Übererfassung kam.) Mit dem Jahr 2004 kehrt sich dieser Trend um, es lässt sich ein leichter Anstieg der Fallzahlen beobachten.
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Die Daten aus der PKS, die den Grafiken zugrundeliegen, können in der auslesbaren Excel-Datei (im Anhang) nachgesehen werden.