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Tischgebet und Alltag

Um die Veränderungen in der gelebten Religion zu verdeutlichen, kann man auf jährlich erhobene Daten wie die Häufigkeiten des Gottesdienstbesuchs zurückgreifen. Aber ebenso auf andere Daten, die zwar seltener erhoben werden, aber sehr aussagefähig sind und sich auf den gelebten individuellen religiösen Alltag beziehen, wie die Häufigkeit des Tischgebets. Ein zentrales Ritual für die affektive religiöse Sozialisation von Kindern.

2012 kannten laut einer TNS Infratest-Umfrage und einem Bericht des pro-medienmagazins („Fast alle Deutschen kennen ‚Vaterunser‘“) 86 Prozent der Befragten das Tischgebet „Komm, Herr Jesus sei unser Gast, …“. Wie auf einem „christlichen Gebetswürfel“ geschrieben steht, gibt es mehrere übliche Tischgebete, z. B.

  1. O Gott, von dem wir alles haben, wir preisen dich für deine Gaben. Du speisest uns, weil du uns liebst, so segne auch, was du uns gibst. Amen.
  2. Alle guten Gaben, alles, was wir haben, kommt, o Gott, von dir. Wir danken dir dafür. Amen.
  3. Jedes Tierlein hat sein Essen, jedes Blümlein trinkt von dir. Hast auch uns hier nicht vergessen, lieber Gott, wir danken dir. Amen.
  4. Über Felder, Stadt und Land hältst du segnend deine Hand, sättigst alle, Groß und Klein. Gott. ich will dir dankbar sein. Amen.
  5. Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen.
  6. Reichlich war der Tisch gedeckt und es hat uns gut geschmeckt. Was wir haben, kommt von dir, lieber Gott, wir danken dir. Amen.

Fünf davon werden vor dem Essen gesprochen, eins nach dem Essen. Die Möglichkeiten sind jedoch viel weiter gefächert, wie es in: „Die schönsten Tischgebete für Kinder“ ausführlich und mit Beispielen erläutert wird, z. B. „Jedes Tierlein hat sein Essen, / jedes Blümlein trinkt von Dir, / hast auch meiner nicht vergessen, / lieber Gott, ich danke Dir!“ oder für ‚Eilige‘: „Für Speis‘ und Trank / dir Gott sei Dank!“ Das in konfessionsneutralen Kindergärten gern gesprochene – und alle fassen sich an die Hände: „Piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb – guten Appetit“ hat nicht die Intention eines Tischgebets, obwohl es dieses eigentlich ersetzt.

Zum „Stichwort Tischgebet“ heißt es beim domradio, dass es Segen und Dank zugleich sei.

„Das Tischgebet ist ein Segen über die Speisen sowie ein Dankgebet zu Gott, das zu Beginn und zuweilen auch noch einmal nach Beendigung einer Mahlzeit gesprochen oder gesungen wird. Das christliche Tischgebet hat seine Wurzeln in den Bracha des Judentums: Gepriesen bist du, Herr unser Gott, Schöpfer der Welt. Du schenkst uns das Brot, die Frucht der Erde und der menschlichen Arbeit.“

Diese Tischgebete sind als Rituale ein wesentlicher Teil der religiösen Sozialisation von Kindern, d.h. dem Erlernen und Verinnerlichen von Religion und Glauben. So schreibt Dorothee Christine Mann in Ihrer Dissertation „Gebet im Religionsunterricht –mehr als ein Ritual. Zur religionspädagogischen Bedeutung eines liturgischen Ansatzes in der Grundschule“ (2020) welche affektive Bedeutung es hat.

„Nur sofern die Familien religiös sozialisiert sind, lernen Kinder religiöse Praxis in der Familie unter anderem durch liturgische Elemente kennen, dies geschieht dann in der Regel noch bevor das Kind diese verstehen kann. Es nimmt am Tischgebet, am gemeinsamen Singen oder am Abendgebet teil, ohne dessen Sinn zu erfragen. Wird dieses zunächst affektiv motivierte Geschehen nicht später kognitiv bejaht, kommt es zu einem Bruch, und die Praxis wird aufgegeben. Dasselbe geschieht mit der Beteiligung am Gottesdienst oder Religions-unterricht. In der säkularisierten Gesellschaft wächst die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen ohne liturgische Elemente auf, da sie weder zu Hause noch im Gottesdienst diese kennenlernen können.“ (S. 183)

Und ebenso ist es die Bedeutung der Nachahmung einer Handlung, aus der heraus eine religiöse Haltung entsteht und das Kind in die Religion der Eltern hineinwächst.

„Das Mitvollziehen von Handlungen ist ein wichtiger Zugang zur religiösen Haltung. Die Handlung kann als Ursprung der Haltung gesehen werden, da Kinder Haltungen nur aus konkretem Verhalten heraus erkennen können. Die Liebe der Eltern beispielsweise wird dem Kind nur im konkreten Erfahren von unmittelbarer Zuwendung oder von Handlungen bewusst. Die Haltung des Glaubens sollte sich in Handlungsvollzügen und damit vor allem in Ritualen und Gewohnheiten konkretisieren. Wenn Kinder Verhaltensweisen nachahmen oder mitvollziehen, sind diese Vollzüge ‚eingebettet in ein emotional klimatisiertes Gruppenverhalten.‘ Der Vorgang, in dem das Kind die Gruppennorm übernimmt, wird von positiven Emotionen begleitet, die sich wiederum verstärkend auswirken. Am Beispiel des Tischgebets zeigt sich, dass es in der Regel unnötig ist, das Kind dazu anzuhalten. Ab einem gewissen Zeitpunkt ahmt es begeistert das Verhalten der übrigen Familienmitglieder nach, was natürlich entwicklungspsychologisch gesehen mit Beginn des Trotzalters in Widerstand über-gehen kann.“ (S. 140/141)

Es geht also – von außen her betrachtet – um die Übernahme von Ritualen und Sprache, in denen sich Glaube darstellt. Im Tischgebet wird dabei einer nie erlebten Entität gedankt, die dafür gesorgt hat, dass das Essen auf dem Tisch steht. Ein irrationaler Vorgang, denn in der ‚Erzeuger-Einkauf-Zubereitungskette‘ kommt keine entsprechende Entität vor. Es ist also entweder der Rückbezug auf die Situation eines Bauern, der für seine Ernteerträge auf das dazu passende Wetter angewiesen ist und – getreu der Ansicht „Auf hoher See und in der Landwirtschaft ist man fest in Gottes Hand“ – in der Anthropomorphisierung von Naturgewalten wie Wind und Wetter zu Göttern, dann dankbar ist, dass dieser Gott dafür gesorgt hat, dass es eine gute Ernte gab und somit das Essen auf den Tisch kommen kann. Oder es ist das Erleben von persönlicher, materieller Armut, wenn man beten-bitten-betteln muss, um Nahrungsmittel zum Überleben zu bekommen. Und wenn dann die wohltätigen Organisationen religiös konnotiert sind (Caritas, Diakonie) dann macht es seinen Sinn, ihrem Gott zu danken, im Sinne des „Not lehrt beten“. Ein Zusammenhang, der sich weltweit darstellen lässt, wie in dieser PEW-Studie über Gebetshäufigkeit.

Der Aspekt der bäuerlichen Gebetshaltung wird in einer IfD-Umfrage aus dem Jahr 1965 berichtet, dass an den Tischen der deutschen Bauern (mit 65 Prozent) am häufigsten ein Tischgebet gesprochen wird, gefolgt von den Beamten.

„An den Tischen der deutschen Bauern (65 Prozent) und Beamten (61) wird am meisten gebetet, bei den Angestellten (41) und Arbeitern (43) am wenigstens. Nach einer Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie sprechen 29 Prozent der erwachsenen Bundesbürger regelmäßig und 16 Prozent gelegentlich ein Tischgebet. 64 Prozent der Katholiken und 33 Prozent der Protestanten danken Gott durch Andachten für Speis und Trank.“

Die Entwicklung des Rückgangs der Häufigkeit von Tischgebeten ist durchgehend. Sie erfolgt in zweifacher Hinsicht. Zum einen verringern sich über die Jahre die Befragten, die sich an ein Tischgebet in ihrer Kindheit erinnern (von 62 auf 41 Prozent), zum anderen verringert sich die jeweils aktuelle Häufigkeit des Tischgebets (von 29 auf 9 Prozent).

Fasst man die ungenaue Angabe „Manchmal“ mit dem „Ja“ zusammen, so hat sich der Anteil der regelmäßigen wie gelegentlich praktizierten Tischgebete (1965) von knapp der Hälfte (46 Prozent) auf (2017) ein Viertel (25 Prozent) verringert.

Dem entspricht, dass (2009: „Ins Bett ohne Gebet“) nur noch vier von zehn (39 Prozent) der Kirchenmitglieder dafür sind, mit Kindern ein tägliches Gute-Nacht- oder Tischgebet zu sprechen.

Insofern ist es zum einen ein gesamtgesellschaftlicher Vorgang der sich verringernden Praxis religiöser Rituale im privaten Bereich, zum anderen die parallel dazu fortschreitende individuelle (kognitive) Distanzierung dazu.

1999 erfolgte eine Umfrage, die sich der Frage des Tischgebets aus einer anderen Perspektive näherte, der Frage, was „heute“ in der Erziehung den Kindern an Tischmanieren beizubringen sei. bzw. auf welche man unbedingt achten solle. Von den vorgelegten 14 Aspekten finden zwei die geringste Zustimmung: Zum einen der Zwang, dass ein Kind das zu essen habe, was auf den Tisch kommt (19 Prozent) und zum anderen „Tischgebet vor der Mahlzeit“ (13 Prozent).

Andere Umfragen bestätigen den Trend in der Praxis des Tischgebets. Im Dezember 2011 waren es laut einer EMNID-Umfrage nur noch sechs Prozent, die täglich ein Tischgebet sprechen. Das entspricht den Ergebnissen einer Umfrage der GfK-Marktforschung-Nürnberg „Aus für Kirchgang und Tischgebet?“ (ebenfalls 2011), dass nur noch acht Prozent „vor dem Essen mit der Familie oder dem Partner ein Gebet sprechen.“ EMNID stellt 2013 noch sechs Prozent fest.

Davon abgesehen wird in Deutschland häufig gebetet. Laut einer EMNID/KANTAR Umfrage (September 2021) für chrismon „Wann Menschen beten“ sind es nur 39 Prozent, die sagen „Ich bete nie“. Dagegen beten 41 Prozent entweder bei einem Kirchenbesuch, oder 40 Prozent, die sich um andere Sorgen machen, und 38 Prozent bzw. 37 Prozent, wenn sie in Not sind bzw. an Verstorbene denken. „Vor dem Essen“ sind es 14 Prozent der Befragten.

Betrachtet man sich die Merkmale der überdurchschnittlichen Anteile von Tischgebeten, so sind es Frauen, Ältere, die Befragten in Kleinstädten (5 bis unter 20.000 Einwohner), Befragte mit mehr als 4 Personen im Haushalt und Schüler. Daraus könnte man das Bild der christlichen Familie mit Schulkindern entwickeln, die in Kleinstädten mit der (Groß-)Mutter noch am ehesten religiöse Rituale wie das Tischgebet leben.

Eine Umfrage im März 2021 (zum Weltgebetstag) von YouGov/Statista „Jeder fünfte Deutsche hat noch nie gebetet“ kommt zum einen zum Ergebnis, dass 13 Prozent der Befragten mehrmals/einmal täglich beten (34 Prozent der 38 Prozent Gläubigen, die auf die Gesamtheit umgerechnet 13 Prozent ergeben). Das könnte sich auch um Tischgebete handeln. Zum anderen werden aber für die Frage „Wofür die Deutschen beten“ 11 Möglichkeiten als Liste vorgegeben und neben den üblichen Gründen (wie Beerdigung, Gottesdienst, Angehörige in Not, u. a. m.) auch Glücksspiel und Sportereignisse gelistet. Das Tischgebet wird als Möglichkeit nicht mehr genannt.

Hinsichtlich der Abkehr von der Religion – die sich auch im Tischgebet darstellt –, schreibt der Parteienforscher Franz Walter (in einer Betrachtung zum Katholikentag 2006) über den „Zerfall des katholischen Lagers“ seit den 1960er Jahren: „Das zweifelhafte Comeback der Kirche“.

„Je weniger die katholische Kirche gesellschaftlich bedroht war, desto weniger wichtig war der Zusammenhalt der Katholiken - desto mehr zerfiel das katholische Lager. Allmählich verschwanden die katholischen Rituale aus dem Alltag der Menschen: die Feier des Namenstages, das Tischgebet, das Fastengebot, die Ohrenbeichte, der Marienkult. Entscheidend hinzu kam, dass die katholische Hierarchie ihre Autorität in Fragen der Moral und Sexualethik ganz und gar verlor.“

Carsten Frerk.