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Die Unterschätzung der Jugendweihezahlen

Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Jugendweihe als freireligiöse und freidenkerische „Jugendaufnahme“ in den freigeistigen Gemeinschaften Deutschlands üblich. Dabei blieben viele Bestandteile dieses Festes trotz wechselhafter Geschichte bis heute erhalten. Bereits in den vergangenen Jahren widmete sich Fowid diesem zentralen Element der humanistischen Ritual- und Feierkultur aus einer theoretischen wie auch aus einer empirischen Perspektive. Die vorliegende Analyse schließt an diese Ausarbeitung an und liefert auf Basis bisher nicht erschlossener Datenquellen ein umfassenderes Bild der Jugendweihe in Deutschland.

Von Tobias Wolfram

Eine erste Anlaufstelle für Daten und Zahlen zum Thema Jugendweihe ist die Jugendweihe Deutschland e.V., auf deren Seite man genaue Auflistungen der Anzahl von Jugendweihe-Teilnehmern finden kann. Diese vermitteln ein Bild des Wachstums in den Nachwendejahren, gefolgt von einem Einbruch der Teilnehmerzahlen in den Jahren nach der Jahrtausendwende, gefolgt von einer Konsolidierung auf niedrigerem Niveau nach einem Tiefpunkt 2007/2008.

Tatsächlich sind diese absoluten Zahlen jedoch nicht sonderlich aussagekräftig, da sie in Relation zur jeweiligen Geburtenstärke der entsprechenden Jahrgänge gesetzt werden müssen: Da die Jugendweihe im Alter von 14 Jahren begangen wird, könnten die absoluten Zahlen stetig sinken, selbst wenn der relative Anteil der Teilnehmer gleichbleibt, sofern nur von Jahr zu Jahr die absolute Menge 14-Jähriger Kinder abnimmt. Dies wird deutlich, wenn wir die Anzahl der Jugendweihlinge mit der Zahl der 14 Jahre zuvor geborenen Kinder vergleichen: Die Korrelation der Geburten pro Jahr von 1977-2003 mit den von der Jugendweihe Deutschland e.V. herausgegebenen Zahlen für den Zeitraum 1991-2017 liegt bei 0.75, wobei ein Wert von 1 einen perfekt positiven, ein Wert von 0 gar keinen und ein Wert von -1 einen perfekt negativen Zusammenhang beschreibt. Dass die Jugendweihe jedoch ein nach wie vor primär ostdeutsches Phänomen ist, zeigt die noch deutlich höhere Korrelation, wenn wir die Geburten pro Jahr auf die (ehemalige) DDR beschränken: Die Korrelation liegt bei extrem hohen 0.83. Die Stärke dieses Zusammenhangs fällt grafisch sofort ins Auge:

In Relation zur Bundesbevölkerung ist der Anteil der Schüler, welche sich für eine Jugendweihe über eine der Mitgliedsorganisationen der Jugendweihe Deutschland e.V. entscheiden, damit über die Jahre auf Grund der relativen Bevölkerungsabnahme der neuen Bundesländer im Vergleich zum Westen gesunken: Stieg der Anteil der Jugendweihlinge an der Gesamtmenge aller Kinder des Jahrgangs bis zur Jahrtausendwende auf mehr als 11 Prozent, so fiel er bis 2008 auf 3,5 Prozent. Dieser Wert erhöhte sich bis 2015 wieder und hat sich über die vergangenen Jahre bei ca. 5 Prozent eingependelt.

Jedoch ist anzunehmen, dass die Zahlen der Jugendweihe Deutschland e.V. die tatsächliche Menge an Jugendweihen in Deutschland nicht vollends abbilden: Neben den im Dachverband organisierten Gruppen richten seit 1989 inzwischen mehr als 21 Vereine in 14 Bundesländern Jugendweihefeiern aus, wie der Sächsische Verband für Jugendarbeit und Jugendweihe e. V., Jugendweihe Berlin/Brandenburg e. V., oder auch einfache Veranstaltungsbetriebe. An zweiter Stelle hinter Jugendweihe Deutschland steht der HVD mit seiner in der Tradition der Jugendweihe stehenden JugendFEIER, für welche separate Daten vorliegen:

Im Vergleich zu den Zahlen des Jugendweiheverbands sind Ähnlichkeiten und Unterschiede erkennbar: So steigt die Zahl der JugendFEIER-Teilnehmer bis 2002 (auf in absoluten Zahlen deutlich geringerem Niveau als beim Marktführer) stark an, um dann in den letzten Jahren der vergangenen Dekade ebenfalls starke Einbußen bzw. gar Reduktion der Teilnehmerzahl im Vergleich zur Hochzeit um 50 Prozent feststellen zu müssen. Bis in die Gegenwart findet jedoch eine Erholung von diesem Tiefpunkt und eine Konsolidierung auf einem neuen Höchststand statt.

Ähnliche Ergebnisse lassen sich für den dritten großen Anbieter am Markt, die Jugendweihe Berlin/Brandenburg e.V. festhalten. Allerdings bleibt das Wachstum, wie es der HVD über die letzten fünf Jahre beobachten kann, aus.

Im Vergleich zur Jugendweihe Deutschland e.V. verändert die Hinzunahme von HVD und Jugendweihe Berlin/Brandenburg e.V. das Gesamtbild allerdings nur unmerklich:

Gleichwohl tauchen die kleineren, selbstständigen Organisationen jedoch in diesen Zahlen nicht auf und separate Daten sind kaum verfügbar. Insofern ist selbst unter Hinzunahme der Angaben des HVD und der Jugendweihe Berlin/Brandenburg nur schwer zu sagen, wie viele Jugendliche tatsächlich an einer Jugendweihe oder Jugendfeier teilnehmen. Um diese „Dunkelziffer“ besser einschätzen zu können, braucht es eine repräsentative Bevölkerungsumfrage.

Eine Lösung für dieses Problem liefert die Studie „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten (AID:A)“  aus dem Jahr 2012: Hierbei handelt es sich um die einzige repräsentative Untersuchung jüngeren Datums, welche unter Anderem den prozentualen Anteil von Jugendweihlingen unter 2009 14-33-Jährigen umfasst. Hierdurch können Abschätzungen vorgenommen werden, wie viele Schüler tatsächlich Jahr für Jahr eine Jugendweihe ablegen, in dem wir die die Daten für jeden Jahrgang disaggregieren. Auf Grund der außerordentlichen Größe der Studie verfügen wir am Ende immer noch über 400-700 Individuen pro Jahr, sodass die Ergebnisse im Rahmen eines gewissen statistischen Fehlers (grafisch dargestellt ist das 95-Prozent-Konfidenzintervall) als repräsentativ angesehen werden können.

Hierbei ist klar zu erkennen, dass die Zahlen der beiden großen Verbände (mit Ausnahme des Jahres 1991, was durch die Wirren der Wende erklärt werden kann) bis nach der Jahrtausendwende sehr gut mit jenen übereinstimmen, die sich aus der AID:A-Befragung ergeben. In beiden Fällen fallen die Zahlen von 2002-2006 und stabilisieren sich bis zum Jahr 2009, von wo an ein leichter Aufwärtstrend festgestellt werden kann. Jedoch pendelt sich der Anteil der Jugendweihlinge laut AID:A auf einem nahezu doppelt so hohem Niveau ein, wie dies die Daten der Verbände nahelegen. Leider enden die vorliegenden Daten 2009 mit dem Auslaufen der AID:A-Befragung. Seitdem liegen keine neueren Untersuchungen vor, die uns darüber Auskunft geben könnten, wie sehr eine Angleichung der beiden Zeitreihen stattgefunden hat.

Gleichwohl können wir mit Hilfe statistischer Modellierung zumindest eine Abschätzung vornehmen, in welchem Bereich die Jugendweihe-Teilnehmerzahlen für die Jahre 2010-2017 liegen. Hierfür greifen wir auf eine Variante des linearen Regressionsmodells zurück, mit deren Hilfe wir aus den vorliegenden Zahlen der Jugendweiheverbände und der demographischen Entwicklung Ostdeutschlands über die letzte Dekade heraus eine Extrapolation des Anteils der Jugendweiheteilnehmer vornehmen können:

Auf dieser Basis ist davon auszugehen, dass auch in den zurückliegenden 8 Jahren die Zahl der Jugendweihlinge deutlich höher liegt, als die offiziellen Angaben der zentralen Verbände vermuten ließen: Insgesamt haben so seit dem Jahr 2004, also jenem Zeitpunkt, an dem die Daten der Verbände und die repräsentativen Angaben der Bevölkerungsumfrage AID:A zu divergieren begannen, ca. 1.007.000 Menschen an einer Jugendweihe oder Jugendfeier teilgenommen. Auf Basis der offiziellen Verbandsdaten käme man hingegen nur auf einen Wert von 640.000 Menschen. Der Anteil der Jugendweihlinge in diesem Zeitraum liegt somit eher bei 9,1 als den auf Basis der Verbandsdaten anzunehmenden 5,8 Prozent. Zusammen mit den vor dem Jahr 2004 verlässlichen und mit den AID:A-Daten übereinstimmenden Zahlen der drei größten Marktteilnehmer haben seit 1990 damit mehr als 1.850.000 Menschen die Entscheidung für die Jugendweihe/Jugendfeier getroffen, was 10,4 Prozent der in diesem Zeitraum in für eine Teilnahme in Frage kommenden Jugendlichen entspricht.