Wirtschaftliche Entwicklung und Säkularisierung
Ist Wirtschaftswachstum eine Triebkraft von Säkularisierung und Atheismus? In einem allgemeineren Sinne wird nicht selten wirtschaftliche Entwicklung als Allheilmittel im Kampf gegen den religiösen Fundamentalismus und Fanatismus in Teilen Subsahara-Afrikas und der islamischen Welt angesehen. Erst vor kurzem diskutierten wir das berühmte Marx-Zitat von Religion als „Opium des Volkes“ im Kontext der Expansion des Sozialsystems und fanden Belege für eine partielle funktionale Austauschbarkeit von Religion und Wohlfahrtsstaat. Doch auch wenn empirische Untersuchungen starke Zusammenhänge zwischen Religiosität und wirtschaftlichem Wandel feststellen leiden sie meist unter einem Mangel von Daten: Zu oft beschränken sich die vorhandenen Zeitreihen auf wenige Jahrzehnte der jüngeren Geschichte in Staaten der westlichen Welt. Korrelation kann nicht von Kausalität getrennt werden und die Generalisierbarkeit der Ergebnisse ist nicht klar. Mit einem innovativen Ansatz durchbrechen Damian J. Ruck und Kollegen dieses Dilemma.
Von Tobias Wolfram
Bereits die Urväter der modernen Soziologie, Durkheim und Weber stellten die Frage nach der Kausalität des evidenten Zusammenhangs von Religion und Wirtschaftswachstum: Während Durkheim die zunehmende Ersetzung ursprünglich religiöser Funktionen im sozialen Gefüge durch den technologischen und sozio-ökonomischen Fortschritt konstatierte, sprach Weber in seiner berühmten Analyse der Bedeutung der protestantischen Arbeitsethik für die Entstehung des Kapitalismus von einer gegenteiligen Kausalität, in der ein bestimmtes religiös geprägtes Weltbild überhaupt erst die Basis schuf, welches den Sieg des Marktes als dominierender Institution der Moderne ermöglichte.
Vorgehen
Ruck und Kollegen greifen zur empirischen Beantwortung dieser Frage auf einen umfassenden, selbst konstruierten Datensatz zurück, in dem sie Daten über den Bildungsgrad der Bevölkerung, das Brutto-Inlands-Produkt pro Kopf und den Grad der Säkularisierung für annähernd 100 Länder durch das 20. Jahrhundert hindurch kombinieren und diese Variablen statistisch analysieren. (Daten, Materialien und umfangreiche methodische Erläuterungen veröffentlichten sie unter „Religious change preceded economic change in the 20th century“ im Wissenschaftsmagazin Sciences Advances.)
Während Daten zu Bildungsgrad und BIP noch mit je nach Region und Zeit variierendem Aufwand durch Wirtschaftshistoriker in Erfahrung gebracht werden können, machen sich die Autoren zur Erfassung des Säkularisierungsgrads die relativ hohe Konstanz von individuellen Werteeinstellungen nach dem Ende der Adoleszenz im Zeitverlauf zu Nutze: Sie greifen auf Daten des World Value Survey (WVS) zurück, welches seit 25 Jahren global Teilnehmer aller Altersklassen zu ihren Werteeinstellungen befragt. Unter der Annahme, dass sich die Werteeinstellungen eines heute 80-jährigen seit 60 oder mehr Jahren nicht mehr wesentlich verändert haben, können sie diese als Annäherung der Werte des jeweiligen Landes vor 60 oder mehr Jahren betrachten. Mit Rückgriff auf die ältesten Teilnehmer der ersten Welle des WVS ergibt sich somit eine Zeitreihe von Werteentwicklungen, die bis in die frühen Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurückreicht. Mit Hilfe von faktoranalytischen Verfahren bilden die Autoren dann einen gewichteten Index mehrerer Fragen des WVS, wie z.B. „Wie wichtig ist Religion in Ihrem Leben?”, “Wie wichtig ist Gott in Ihrem Leben?“, “Sehen Sie sich als religiöse Person?”, etc. Auf gleichem Wege bilden sie zusätzlich einen Faktor für Toleranz normabweichenden Verhaltens (Homosexualität, Abtreibung, Scheidung, Prostitution, Suizid, Euthanasie, jedoch explizit nicht Zugehörigkeit zu fremder Ethnie oder Nation), also eines liberalen Individualismus, der in der weiteren Untersuchung ebenfalls von Bedeutung ist.
Wie gehen die Autoren in ihrer statistischen Untersuchung vor? Es ist schwer Kausalität nachzuweisen (oder auch nur philosophisch eindeutig zu definieren) doch kann man sie gleichzeitig relativ leicht pragmatisch widerlegen: Wenn gezeigt werden kann, dass eine Entwicklung in Variable X zu einem bestimmten Zeitpunkt den späteren Trend einer Variable Y vorhersagen kann, garantiert das zwar nicht, dass X Y kausal bedingt, aber es schließt zumindest aus, dass Y X bedingt. In unserem konkreten Beispiel kann also der Beweis, dass ein Anstieg des Säkularisierungsgrads eines Landes im Jahre 1980 mit einem Anstieg der wirtschaftlichen Entwicklung einige Jahre später (und nicht andersherum) einhergeht, idealtypisch als Beleg gegen die These angesehen werden, dass Wirtschaftswachstum Säkularisierung bedingt.
Aufbauend auf diesem Gedanken konstruieren Ruck und Kollegen mehrere hierarchische lineare Regressionsmodelle, mit deren Hilfe sie einerseits testen inwieweit Säkularisierung zu einem früheren Zeitpunkt BIP 20 Jahre in der Zukunft vorhersagt und andererseits inwieweit das Gegenteil der Fall ist. Sie kontrollieren dabei auf den Effekt des Bildungsniveaus, Säkularität und BIP zwanzig Jahre zuvor und mit Hilfe sog. Random Effects auf landes- und kulturspezifische Effekte (letzteres operationalisiert durch Zugehörigkeit einzelner Staaten zu verschiedenen Sprachfamilien).
Befunde
Die Ergebnisse sind (auch nach verschiedenen Robustheitstests, bei denen einzelne Schritte der statistischen Analyse variiert werden, in denen die Wissenschaftler mehrere, ähnlich valide Möglichkeiten des Vorgehens gehabt haben) eindeutig: So existiert ein extrem starker Zusammenhang zwischen dem BIP und dem BIP und Säkularitätsgrad 20 Jahre zuvor. Beide Effekte sind statistisch hochsignifikant und können zusammen mit dem ebenfalls sehr signifikanten landesspezifischen Effekt 90 Prozent der Varianz im BIP erklären. Auch unter Kontrolle des Bildungsniveaus 20 Jahre zuvor ändert sich hieran nichts. Anders sieht es hingegen mit dem Effekt des oben erwähnten Toleranz-Faktors aus: Wird dieser ins Modell eingeführt, verschwindet der Einfluss des Säkularisierungsgrads vollständig (!). Dies spricht dagegen, dass Säkularisierung die treibende Kraft wirtschaftlicher Entwicklung ist, bedeutet aber gleichzeitig auch nicht, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und liberaler-individualistischer Toleranz besteht. Möglicherweise bedingt ein dritter, nicht im Modell berücksichtigter Faktor sowohl BIP als auch Toleranz.
Versuchen wir dagegen, Säkularisierung durch das frühere BIP zu erklären, ist der Effekt nahezu nicht vorhanden. Interessanterweise beeinflusst auch das Bildungsniveau 20 Jahre zuvor den späteren Säkularisierungsgrad nicht signifikant. Einzig relevant sind der landesspezifische und der kulturspezifische Effekt, sowie der Säkularisierungsgrad 20 Jahre zuvor. Gemeinsam erklären diese 99 Prozent der Varianz der späteren Säkularisierung und können sie somit nahezu perfekt vorhersagen. Annähernd ein Drittel davon entfällt allerdings auf die landes- und kulturspezifischen Effekte. Auch die Inklusion der Toleranzvariable ändert daran nichts – diese hat ebenfalls keinen signifikanten Einfluss.
Schwächen
Gleichsam sollen aber auch Schwächen der vorliegenden Untersuchung nicht außer Acht gelassen werden: So betonen die Autoren selbst die Schwierigkeit der Extrapolation von vergangenen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts in die Zukunft, da diese Periode historisch ohne Vergleich sei (gleichwohl man dies über nahezu jedes Jahrhundert zu sagen vermag) und religiöse Modernisierungen gelegentlich in sehr kurzer Zeit stattfinden (so der Rückgang in Unterstützung von weiblicher Genitalverstümmelung in gewissen Kulturkreisen). Weiterhin besteht die Möglichkeit, dass ihre Rekonstruktion früherer Wertevorstellungen verzerrte Ergebnisse liefert. Dies könnte unter Anderem dann der Fall sein, wenn Menschen mit religiöseren bzw. konservativeren Wertevorstellungen (oder jene, denen es gerade an einer solchen Weltanschauung fehlt) systematisch eine höhere Wahrscheinlichkeit hätten, sehr alt zu werden. Dann würde der Grad an Säkularisierung in früheren Jahrzehnten systematisch über- oder unterschätzt. Aus einer technischen Perspektive ist zudem nicht vollkommen klar, weshalb die Autoren augenscheinlich kein Modell getestet haben, welches alle Prädiktoren (also Toleranz, Säkularisierung, BIP und Bildung) in ein Modell integriert, sondern stets nur auf drei von vier Variablen zurückgreift. Schlussendlich könnten Statistiker oder Ökonometriker die Verwendung des Random-Effects-Modells kritisieren, da dieses im vorliegenden Fall auf der impliziten Annahme basiert, dass keine Korrelation zwischen kultur- und landesspezifischen Faktoren einerseits und den Prädiktoren (Toleranz, Säkularisierung, BIP und Bildung 20 Jahre zuvor) besteht, sondern nur mit den abhängigen Variablen (Säkularisierung und BIP in der Gegenwart). Dies ist hochgradig fragwürdig, gleichwohl die Alternative (ein Fixed-Effects-Modell) bei der notgedrungen geringen Zahl von vorliegenden Beobachtungen seine eigenen Probleme besitzt. Diese Abwägung hätten Ruck und Kollegen zumindest begründen können. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass diese Kritikpunkte die grundsätzliche Aussage der Arbeit negieren können.
Fazit
Insgesamt lässt sich somit festhalten, dass die bisherigen Säkularisierungstrends der westlichen Welt den Analysen Rucks und Kollegen folgend nur mit Vorsicht auf andere Kulturkreise übertragbar sind: Weder die viel gepriesene wirtschaftliche Entwicklung noch das Bildungsniveau eines Landes oder seine Toleranz sind signifikante Prädiktoren seines Säkularisierungsgrades in den darauffolgenden zwei Dekaden. Demgegenüber scheinen kulturelle und landesspezifische Faktoren eine nicht zu unterschätzende Rolle zu spielen. Auch wenn die Ergebnisse auf Grund gewisser (teils schwer vermeidbarer) methodischer Schwierigkeiten nur als erste Indikation gedeutet werden sollten, stehen sie nicht allein und gehen konform mit Daten von PEW zur Entwicklung der Weltreligionen in den kommenden Jahrzehnten wie auch verschiedenen Säkularisierungsskeptikern, z. B. dem Demographen Eric Kaufman oder dem Evolutionspsychologen Lee Ellis. Dies schafft insbesondere mit Blick auf differentielle Fertilitätsraten unterschiedlicher Kulturkreise ein negatives Bild, wie die Zukunft des globalen Säkularismus aussehen mag.