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„Christen in Deutschland“

Im Allgemeinen gibt es bei manchen Menschen starke Vorbehalte gegen Statistik ‒ sie sei zu ‚trocken‘, alles nur Zahlen, zu lebensfremd, u. a. m. ‒ aber Statistik kann auch durchaus amüsante Seiten haben, da sie Geschichten aus der realen Welt abbildet, die den Betrachter erheitern können. Das gilt nicht nur für die „Christen in Deutschland“ sondern auch für andere Religionen in Deutschland, die Bündnisse organisieren, Gemeinsamkeiten und das/den „Eine(n)“ entdecken oder für sich reklamieren.

Ein Kommentar von Carsten Frerk

Über die wechselseitigen Schwankungen in den Zählungen von Katholiken in Deutschland ist bereits berichtet worden. Manchmal haben die Diözesen das Sagen in der Zählweise, manchmal das Statistikreferat der Deutschen Bischofskonferenz, bis man sich (1996) auf einen Kompromiss einigte und öffentlich Ruhe herrscht.

In diesem Beitrag liegt der Augenmerk zum einen auf die Bemühungen der EKD, über Mitgliederzahlen Größe zu erzeugen, und zum anderen auf der Perspektive, dass auch diese Bemühungen schon bereits überholt wurden und werden.

Evangelisches „Christentum in Deutschland“

Vor rund vierzig Jahren war es im lutherischen Hamburg nicht möglich, dass ein reformierter Christ Taufpate für ein lutherisch zu taufendes Kind sein konnte, da er/sie einem anderem Glaubensbekenntnis angehöre. Für 2010 und in den Folgejahren schreibt Präses Nikolaus Schneider (als amtierender Vorsitzender der EKD) dagegen: „Durch die Zugehörigkeit zu Christus gehören wir als Kirchen und als Christinnen und Christen durch die Zeiten hindurch weltweit und konfessionsübergreifend zusammen.“

Darin drückt sich aus, dass die Mitgliederzahlen sinken und die evangelische Kirche notgedrungen ‚einen größeren Kreis‘ zieht ‒ für alle „Christen in Deutschland“.

Traditionell wurden in der jährlichen „Statistik über Äußerungen des kirchlichen Lebens in den Gliedkirchen der EKD im Jahr …“ nur für interne Zwecke die Zahlen für die Mitglieder der EKD-Landeskirchen publiziert. Ab 2009 wird dann (auf Seite 30) auch eine Übersicht zu „Religionszugehörigkeit in Deutschland“ als Tortendiagramm publiziert:

Dort werden neun Gruppen gebildet, darunter fünf christliche: Evangelische Kirche (EKD), Römisch-Katholische Kirche, Freikirchen, Orthodoxe, andere christliche Kirchen, Muslime, Konfessionslose, Juden, Buddhisten sowie Hindus.

Anders in den EKD-Broschüren „Zahlen und Fakten zum kirchlichen Leben“.

Dort wird (feststellbar seit 2002) für 2010 eine Darstellung „Christen in Deutschland“ publiziert:

Jahr für Jahr wird diese Zusammenstellung wiederholt und variiert, hier für 2016:

Trägt man diese jährlichen Auflistungen zusammen, ergibt sich die folgende Übersicht:

In den Jahre 2002 bis 2004 gibt es – wider besseres Wissen – nur ein Religionsquartett aus Evangelische Kirche, Römische Katholiken, Orthodoxe und andere christlichen Kirchen.

Dabei ist „Evangelische Kirche in Deutschland“ bereits ein Aggregat aus derzeit 20 lutherischen, unierten und reformierten Kirchen in Deutschland. Das Selbstverständnis der Gliedkirchen ist im Bekenntnis ausgeprägt und so nannte der seinerzeitige Bevollmächtigte des Rats der EKD bei der Bundesregierung und der EU, Bischof Hartmut Löwe, die EKD (1998) einen geduldeten Dachverband, konkret: „eine zugige Baracke“… „für’s politisch Grobe“. (vgl. Frerk: Kirchenrepublik, S. 41)

Aus dieser Darstellung eines Religionsquartetts scheren 2005 die selbstbewussten Evangelischen Freikirchen aus – die in allen Volkszählungen extra gezählt und genannt werden: Es besteht bis 2010 ein Religionsquintett. Im Jahr 2010 wird offensichtlich, dass die Zahl der „Christen in Deutschland“ im folgenden Jahr unter die 50 Mio.-Mitglieder-Marke absinken wird. Da ist dann die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) behilflich, die durch das christliche Deutschland streift und doch tatsächlich fündig wird: (Geschätzte) 500.000 „Angehörige neuer christlicher Gemeinschaftsbildungen und der Neuapostolischen Kirche“, die, warum auch immer, vorher übersehen worden waren. Damit entsteht das bis jetzt genannte christliche Religionssextett.

Zu den absoluten Zahlen

Für das Religionsquartett (2002 – 2004) werden – mit Hinblick auf Fehlertoleranzen – angemessene Angaben mit Abrundungen auf 1.000 Mitglieder genannt. Ab 2005 beginnen neun Jahre der Untugend mit der Nennung von präzisen Zahlen bis auf die Einerstelle genau – bis auf die Orthodoxen, für die weiterhin auf Tausend abgerundete Mitgliederzahlen genannt werden. Ab 2015 hört dann der Unsinn mit den präzisen Einerstellen wieder auf und es wird wieder abgerundet.

In den EKD-Übersichten gibt es keine weiteren Angaben, woher diese Zahlen stammen und so ist die Verdoppelung der Mitglieder “anderer christlichen Kirchen“ von 2012 auf 2013 ohne Erläuterung und ebenso, wo denn die EZW die geschätzten 500.000 Angehörigen „anderer Gemeinschaften“ aufgestöbert hat. Wenn in der Fußnote die Neuapostolische Kirche genannt wird ‒ die nach eigenen Angaben derzeit rund 340.000 Mitglieder hat und als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt ist – dann ist das verwunderlich. Und da eine Schätzung von 500.000 doch sehr wie grob ‚über den Daumen gepeilt‘ aussieht, wird dann in den Folgejahren diese Schätzungen auf 492.000 bzw. 498.000 ‚korrigiert‘.

in den 15 Jahren von 2002 bis 2017 verlieren die Kirchen der „Christen in Deutschland“ aufgrund dieser Angaben rund 7 Mio. Mitglieder, d. h. im Jahresmittel rund 466.000 Angehörige. Das wären als Vergleich (bezogen auf die Einwohnerzahlen 2014) in diesen 15 Jahren die gesamten Einwohner der Bundesländer Bremen, Saarland, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Thüringen verschwunden.

Zu den Anteilen

In Anteilen verlieren die EKD-Landeskirchen pro Jahr im Schnitt rund 0,4 Prozentpunkte ihrer Mitglieder, die römischen Katholiken rund 0,3 Prozentpunkte, d. h. in den nächsten rund fünf Jahren (bis 2024) sinkt die Zahl der Mitglieder der beiden großen Amtskirchen unter die 50-Prozent-Marke der Bevölkerung, um 2030/2031 sind die „Christen in Deutschland“ insgesamt in der Minderheit – allerdings nicht wegen der Muslime, sondern aufgrund der Selbstsäkularisierung der christlichen Kirchenmitglieder und dem Anstieg des Anteils der Konfessionsfreien.

Allerdings könnte die EKD wieder ihre EZW bitten, sich auf die Suche zu begeben, um das Minderheitsdatum für das „Christentum in Deutschland“ noch etwas hinauszuschieben. Dazu, als sachdienlicher Hinweis: In der Gruppe der Konfessionsfreien befinden sich auch Religiöse, die an einen persönlichen Gott glauben, und von denen sich 4,2 Millionen laut Zensus 2011 als Christen verstehen. Das könnte wieder ein paar Prozentpunkte mehr für die „Christen in Deutschland“ bringen und das Minderheitenjahr für alle Christen um rund zehn Jahre weiter hinausschieben.

Erstmalig wurden diese „Zahlen und Fakten“ 2004 veröffentlicht (mit Zahlen für 2002). Zu den Zahlen von 2002 bis 2011 heißt es mit einer gewissen sprachlichen Realitätsverleugnung: „Ende [Jahreszahl] sind in Deutschland etwa zwei Drittel der Bevölkerung Christen.“ Eigentlich gibt es ja keine Diskussion darüber, wie viel „zwei Drittel“ sind (66,6 Prozent) und für 2002 mag man das noch akzeptieren (65,7 Prozent), aber 2011 sind es nur noch 61,5 Prozent Christen und das sind wahrlich nicht „etwa zwei Drittel“. 2012, mit dem Suchen und Finden von bisher übersehenen 500.000 Christen steigt der Anteil dann auf 62 Prozent und im Text heißt es: „Ende 2012 gehört der weitaus größte Teil der Bevölkerung – rund 62 Prozent – einer christlichen Kirche an.“ Ab 2015 heißt es dann für die weiteren Jahre „rund 60 Prozent“, auch wenn der Anteil der von der EKD gezählten Christen sich (für 2017) auf 57,3 Prozent beläuft.

Der/Das Eine / Die Religiösen

Dieses Bemühen, die „Christen in Deutschland“ als möglichst große Gruppe zu definieren – wobei die Unterschiede so groß sind, dass die Kirchen sich noch nicht einmal über die Bedeutung eines dünnen Gebäcks einigen kann, das aus Wasser, Mehl und Stärke gebacken wird ‒, wird sich spätestens dann auf die Gruppe „Religiöse in Deutschland“ erweitern, wenn die „Christen in Deutschland“ nicht mehr in der Mehrheit sind. Ansätze dazu sind bereits vorhanden.

- Im Konzept der begrenzten christlichen „Ökumene“ steht noch das Ökumenische Forum in der Hafencity Hamburg mit 21 christlichen Mitgliedskirchen. Die Planung hatte bereits im Februar 2000 begonnen. Da blieb man noch auf den christlichen Kontext und die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Hamburg beschränkt.

Was darüber hinaus dann zusätzlich zum Christentum alles zusammenkommt, ist beispielhaft in der Zusammenstellung „Religionen in Deutschland“ zu sehen, in der 105 verschiedene Religionsgemeinschaften aufgelistet werden, plus die Konfessionsfreien.

Schon allein die Tatsache, dass 105 Religionsgemeinschaften genannt werden, zeigt, dass die Idee einer einzig und allein exklusiven Wahrheit aus einer Zeit stammt, als man noch nicht über den ‚Tellerrand‘ seiner eigenen Religion hinausschauen konnte oder wollte.

Als Zwischenbemerkung: Auch hier geht es im Detail um offensichtliche Unstimmigkeiten. Während von BAMF und REMID  die Zahl der Muslime in Deutschland mit 4,4 bis 4,7 Mio. angegeben wird, ergibt die Summe der 11 genannten islamischen Religionsgemeinschaften (Sunniten, Aleviten, Schiiten, Alawiten, Amadiyya, Sufis, Salafisten, Ismailiten, Zaiditen, Ibaditen und Lahore-Amadiyya) eine Gesamtzahl von 3,5 Mio. (3.501.880).

Ungeachtet dessen sind die Bestrebungen, die „Religiösen“ gegenüber den „Ungläubigen“ abzugrenzen, immer deutlicher.

- In Berlin wird in diesen Tagen mit der Errichtung des „House of One“ begonnen: „Juden, Christen und Muslime bauen gemeinsam ein Haus, unter dessen Dach sich eine Synagoge, eine Kirche und eine Moschee befinden.“ Ein unentschlossenes Konzept. Warum heißt es „House of One“, wenn sich darin drei unterschiedliche Gotteshäuser befinden? Dreieinigkeit?

- Da war man 2013 in Hamburg auf der Internationalen Gartenschau schon etwas weiter gewesen: „So ist beispielsweise in der ‚Welt der Religionen‘  ein interreligiöser Garten entstanden, den die fünf großen Glaubensgemeinschaften – Judentum, Islam, Christentum, Buddhismus und Hinduismus – seit 2008 gemeinsam gestaltet haben.“ (Fläche: rund 6.000 qm, Brutto-Baukosten 595.000 Euro.) Entsprechend dem Konzept  steht im Zentrum ein großer Brunnen. „Aus dem Brunnen werden fünf Wasserläufe gespeist, die über eine Findlingsfläche in Richtung der fünf angrenzenden Einzelgärten rinnen. […] Der Übertritt aus der Mitte in die verschiedenen Gartensphären erfolgt als bewusste Entscheidung und Überschreitung einer Schwelle. Die Gärten des Islam, des Christentum und des Hinduismus besitzen jeweils ein Tor, durch das man in die einzelnen Gartenräume gelangt.“

Das Wasser der getrennten Gärten aus einer gemeinsamen Quelle. Mehr Symbolik geht kaum.

Und in der Bevölkerung Deutschlands sind es (2004) beinahe die Hälfte der Befragten (45 Prozent), die auf die Frage: „Glauben Christen, Juden und Muslime an denselben Gott?“, mit „Ja“ antworten.