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Freidenkerbewegung

Ein Überblick über die Geschichte der Freidenker in Deutschland. Sie begann mit den Dissidenten des Mittelalters, die, freiere Religiosität erstrebend, in der Renaissance die Reformation in Gang brachten. 1573 taucht erstmalig der Begriff „Dissident“ auf und nach 1648 hießen alle tolerierten Religionsgemeinschaften außerhalb der Konfessionalität so, bis die Bezeichnung am Ende des 19. Jahrhunderts auf die Freidenker übertragen wurde. Diese übernahmen den Begriff als Selbstbezeichnung, so auch religionslose Atheisten und ethische Humanisten.

Von Horst Groschopp

Dissidenten

Wer im Mittelalter außerhalb der Kirche stand, wurde zu einem Aussätzigen, denn Exkommunikation bedeutete die Reichsacht. Abweichler von den katholischen Dogmen galten als Häretiker. Diese brachten, freiere Religiosität erstrebend, in der Renaissance die Reformation in Gang. Der Augsburger Religionsfrieden von 1555 gestand Religionsfreiheit/Toleranz zu, aber nur den Landesherren und deren Familien.

Christliche Sondergruppen bezeichnete man seit dem Frieden von Warschau (pax dissidentium) 1573 als ‘Dissidenten‘ (Groschopp 2011), mit Anklang an die englischen ‘Dissenters‘, abgeleitet von dissidio (getrennt sein). Darunter fielen zunächst alle anerkannten polnischen Nichtkatholiken – Lutheraner, Reformierte, (orthodoxe) Griechen, Armenier –, aber nicht die Wiedertäufer, Sozinianer und Quäker.

Der Begriff ging mit dem Westfälischen Frieden von 1648 in die Amtssprache ein. ‘Dissidenten‘ hießen nun die nächsten fast 300 Jahre alle tolerierten Religionsgemeinschaften außerhalb der Konfessionalität (Katholiken, Protestanten) und des Judentums (Synagogengemeinschaften). Die Fürsten behielten das Recht, ‘abgespaltene‘ Gemeinschaften zu akzeptieren oder zu verbieten.

Erlaubt wurden in der folgenden Zeit die Herrnhuter, die Altlutheraner, die Mennoniten und Baptisten, denen nach Brauch und Gesetz im 19. Jahrhundert gewisse Korporationsrechte zustanden. Weiter zählten darunter zu Beginn des 20. Jahrhunderts Methodisten, Irvingianer (Apostolische Gemeinden), Quäker, Deutschkatholiken, Freireligiöse Gemeinden, die Hermannsburger Freikirche und die renitente Kirche Niederhessens. Diese hatten sich auf Basis der Vereinsgesetze gebildet, entbehrten aber der Rechtsfähigkeit. Alle mussten registriert sein und durften keine staatsfeindlichen Interessen verfolgen.

Eine Abkehr von jeder kirchlichen oder kirchenähnlichen Organisation war bis zur Weimarer Verfassung 1919 nie vorgesehen – auch nicht im Austrittsgesetz von 1873, in dem erstmals juristisch nicht nur ‘abgetrennte‘ religiöse Gemeinschaften als Dissidenten eingestuft wurden, sondern auch diejenigen (§ 16), die „noch [sic!] keiner vom Staate genehmigten Religionsgesellschaft angehören“ (Pfender 1930, S. 31). Man ging davon aus, dass weiterhin alle Menschen religiös organisiert sind. Massenhafte persönliche Religionslosigkeit ist im Wesentlichen ein Produkt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Zunächst wurde das Christentum im ‘Kulturkampf‘ (1872-1887) formal Freiwilligkeitskirche, „denn weder Kirche noch Staat konnten den Einzelnen zum Bleiben in der Kirche zwingen.“ (Pfender 1930, S. 32) Damit wurde die Gruppe der ‘Dissidenten‘ größer, der Begriff rechtsüblich und auf Freidenker übertragen. Diese übernahmen den Begriff als Selbstbezeichnung, so auch religionslose Atheisten und ethische Humanisten, was freie Religiöse veranlasste, sich davon zu distanzieren und Körperschaftsrechte anzustreben, wie sie die Kirchen besaßen, was ihnen weitgehend nach 1919 gelang.[1]

In Deutschland gab es 1914 bei einer Einwohnerzahl von 65 Millionen etwa 250.000 rechtlich definierte ‘Dissidenten‘, darunter etwa 80-100.000 ‘Konfessionslose‘. Annähernd 20-25.000 von ihnen waren in freidenkerischen Vereinen organisiert. Die größten Gruppen stellten die Monisten (6.750), die Freidenker (6.000), die proletarischen Freidenker (5.000) und die ‘Mutterschützer‘ (3.500). Aus den Selbstauskünften dieser Organisationen errechnen sich zwar 32.000 Mitglieder, doch ist von etwa 10-20 Prozent Doppel- bzw. Mehrfachmitgliedschaften auszugehen. Sie wirkten vor allem im Rheinland und in Westfalen, in Hessen-Nassau, im Großherzogtum Hessen, in Baden, Württemberg, Hannover, in der preußischen Provinz Sachsen (heute Sachsen-Anhalt) und im Land Sachsen, in den thüringischen Staaten und in Schlesien – und vor allem in den großen Städten Berlin, Bremen, Frankfurt am Main, Hamburg, Jena, München und Nürnberg sowie mit Abstrichen Breslau, Dresden, Düsseldorf, Leipzig und Stuttgart als Zentren.

Am 30. November 1920 erging ein neues Gesetz über den Austritt aus Religionsgesellschaften und am 15. Juli 1921 erfolgte die Festlegung der Religionsmündigkeit im Reich einheitlich auf das vollendete 14. Lebensjahr. Damit wurde der Begriff des Dissidenten endgültig fraglich. Er blieb aber gültig, bis ihn die Nationalsozialisten abschafften, auch um Freidenker, deren Organisationen schon verboten waren, als Personen verwaltungsrechtlich zu befragen, zu kennzeichnen und zu denunzieren. Eingeführt wurde die Allgemeinformel von der ‘Gottgläubigkeit‘. Ein Erlass des Reichsinnenministeriums bestimmte am 26. November 1936, dass „zukünftig in ‘öffentlichen Listen, Vordrucken und Urkunden auf Grund ihrer Erklärung zu unterscheiden sind: 1. Angehörige einer Religionsgemeinschaft oder einer Weltanschauungsgemeinschaft; 2. Gottgläubige; 3. Gottlose“ (NS-Monatshefte 8, 1937, S. 61 f., zitiert nach Schmitz-Berning 2000, S. 282). ‘Gottgläubig‘ ersetzte bis 1945 die Worte ‘konfessionslos‘ und ‘Dissident‘.

Freidenker

Erst durch die Freigabe des Zweifels verschwand die allgemeinste Ursache der Freidenkerei. Sie hat Friedrich Nietzsche 1880/81 so benannt, zeitgleich zur Gründung der ‘Brüsseler-Freidenker-Internationale‘ und des ‘Deutschen Freidenkerbundes‘, was ihm wohl unbekannt blieb: Es würden diejenigen zu Freidenkern, denen „schon ein Ausdenken und Aussprechen von verbotenen Dingen … Befriedigung gibt (Nietzsche 1971, S. 29). Deshalb sind es zunächst „immer wieder Einzelpersonen, die als Freidenker auftreten“ (Wild 1979, S. 262).

Das Spektrum ihrer Ideen ist breit gefächert. Bereits das 1759 erschienene ‘Freydenker-Lexicon‘ von Johann Anton Trinius nennt „Atheisten, Naturalisten, Deisten, grobe Indifferentisten, Sceptiker und dergleichen Leute“.[2] An Leib und Leben bedroht, äußerten sich Freidenker stets grundsätzlich, lebensweltlich und umfassend. Hinsichtlich der Beziehungen zum Humanismus sind diese frühen Zeugnisse nicht untersucht.

Das Wort ‘Freidenker‘ kommt aus dem Englischen. „William Molyneux … bezeichnete in einem Brief an J[ohn] Locke am 6. April 1697 den Verfasser des um eine vernunftgemäße, widerspruchsfreie Erklärung des Christentums bemühten Buches ‘Christianity not mysterious‘, John Toland …, als einen ‘candid freethinker‘ […]. Es kam zur Gründung einer kurzlebigen Wochenschrift ‘The Free-Thinker‘ ([…] um 1711), die das Ziel verfolgte, den Unterschied zwischen Religion und Aberglauben in das Bewußtsein der Öffentlichkeit zu rücken.“ (Mehlhausen 1983, S. 489) Toland übernahm die Bezeichnung als Ehrentitel (Algermissen 1960, S. 318).

John Anthony Collins, ein Schüler von Locke, führte schließlich 1713 in seinem Werk A Discource of Freethinking, occasioned by the Rise and Growth of a Sect call’d Freethinkers den Begriff ein und brachte ihn mit einer sektenhaften Gemeinschaft in Verbindung, die Verstandesübungen pflegte. Freies Denken zeichnet sich seitdem dadurch aus, dass es „sich durch die Evidenz der Sache und nicht durch eine Autorität bestimmen läßt“ (Gawlik 1972, Spalte 1062).

1715 fand die erste wörtliche Übertragung ins Deutsche durch Gottfried Wilhelm Leibniz (Mehlhausen 1983, S. 490) statt. 1734 versuchte dann Johann Ernst Philippi in Göttingen eine Zeitschrift unter dem Titel ‘Der Freidenker‘ herauszugeben. Ebenso wenig erfolgreich war der gleichnamige Versuch von Johann Anton Janson von Waasberghe 1741/42 in Danzig. Gotthold Ephraim Lessing nannte ein frühes Lustspiel 1749 ‘Der Freygeist‘ – bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts eine synonyme Selbstbezeichnung der Freidenker.

Wahrscheinlich setzte sich die Bezeichnung ‘Freidenker‘ durch, weil der Begriff eine gewisse Distanz ausdrückte zu den bis auf die frühchristlich-antike Gnosis zurückreichenden Frei-Geist-Sekten-Bewegungen. Die modernen Freidenker wollten sich sogar von jeder religiösen Tradition lösen, auch von den Freireligiösen Gemeinden. Wörtliche Übersetzungen aus dem Englischen (‘freethinker‘) bestärkten diese Richtung. Zudem waren viele amerikanische Freidenker deutsche Emigranten. Ihre Texte wurden oft rückübersetzt.

Andere sahen sich als Monisten. Der Begriff des Monismus, ‘Einheitslehre‘, geht auf Christian Wolf zurück, der ihn 1721 in der zweiten Auflage seines Buches ‘Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit‘ einführte. ‘Monismus‘ bezeichnet seitdem Weltanschauungen und philosophische Systeme, die sich von dualistischen bzw. pluralistischen unterscheiden.

Seitdem Ernst Haeckel und Wilhelm Ostwald 1906 den ‘Deutschen Monistenbund‘ schufen, wird Monismus in der Freidenkerei weitgehend mit naturwissenschaftlichen Denkrichtungen gleichgesetzt, welche die Totalität auf ein einziges Erklärungsprinzip zurückzuführen versuchen, bei Haeckel die ‘kosmische Einheit‘, bei Ostwald die ‘Energie‘, neuerdings die ‘Evolution‘. Moderne Naturalisten berufen sich heute ausdrücklich auf den ‘evolutionären Humanismus‘ (Huxley 1964; Schmidt-Salomon 2005).

Freidenkerbewegung

Die deutsche freidenkerische Bewegung entstand aus zwei gesellschaftlichen Bedürfnissen, die sich bündelten und zu unterschiedlichen Organisationsformen führten – bis heute im Spektrum von atheistisch, freigeistig, freireligiös, agnostisch oder humanistisch. Da ist zum einen der Wunsch nach Freiheit des öffentlichen Nachdenkens; zum anderen gibt es immer wieder diverse Interessen von Dissidenten hinsichtlich Bildung, Ritualen. Unter feudalen, vordemokratischen Herrschaftsformen war die Freidenkerbewegung vor allem kirchenkritisch, oft kirchenfeindlich. Es entwickelte sich daraus eine bis heute anhaltende Tendenz der Religionskritik, sodass im öffentlichen Leben diese mit ‘Freidenkerei‘ identifiziert wird, was innerreligiösen Zweifel weitgehend in den Bereich der Häresie verweist.

Aus der ursprünglichen Forderung nach Freiheit in der Religion wurde besonders nach Erscheinen Werkes von Charles Darwin ‘Über die Entstehung der Arten‘ 1859 ein Abschied von der Religion. Alle nun entstehenden Organisationen haben Nachfolger bis in die Gegenwart – und sei es als Restbestände. Parallel wurde aus libertärer freier Religiosität um 1900 ein kämpferisches sozialistisches Freidenkertum. Der politische und soziale Druck, unter dem die Dissidenten standen, beförderte 1906 die Gründung des ‘Weimarer Kartells‘ als ‘Zusammenschluß selbständiger Gesellschaften‘, die der (heute würde man ihn so nennen) Islamwissenschaftler Max Henning (1861-1927) kurz vor Kriegsausbruch dokumentierte (Henning 1914; Groschopp 2011, S. 48 ff.). In der Novemberrevolution kamen Freidenker, so der Berliner Sozialdemokrat Adolph Hoffmann (1858-1930), kurzzeitig in Ministerverantwortung und unternahmen radikale Schritte, das Staat-Kirche-Verhältnis zu reformieren und im Bildungswesen Schule und Religion zu trennen (Groschopp 2009a).

Die Freidenkergeschichte bis zum Ersten Weltkrieg ist gut erforscht (Wunderer 1980a; Kaiser 1981; Simon-Ritz 1997; Groschopp 2011), weniger die Weimarer Republik (Kaiser 1981; Heimann/Walter 1993), fast gar nicht Entwicklungen in beiden Teilen Deutschlands ab dem Kalten Krieg 1948 (Groschopp/Müller 2013).

Die ‘klassische‘ Freidenkerbewegung kam mit Beginn des 21. Jahrhunderts und der Entstehung des ‘neuen Atheismus‘ – weitgehend ein Medienereignis – an ihr Ende (Groschopp 2009b). Die sie ursprünglich produzierenden Umstände (mangelhafte Trennung von Gesellschaft und Religion bzw. Kirche und Staat) wandelten sich radikal. Die sie stützenden politischen Sondermilieus lösten sich auf (im 19. Jahrhundert der Liberalismus; im 20. Jahrhundert der Sozialismus). Die ihre Organisationen befördernden sozialen Kräfte, die Bevölkerungsgruppe der ‘Konfessionsfreien‘, die nicht den wenigstens formal verbindenden Rechtsstatus der ‘Dissidenten‘ hat, vergrößerte sich zwar auf derzeit 36 Prozent, aber ein gemeinsames Subjekt bildet sie nicht.

Durch Humanisierung, Religionsfreiheit und Religionskritik bekam die Autonomie der persönlichen Wahl einer Weltanschauung gesellschaftliche und staatliche Anerkennung und Weltanschauungsparteien wurden Vergangenheit. Auf dem Feld der Kulturpolitik ist der Staat-Kirche-Konflikt nicht mehr der bestimmende. Es scheint, dass sich der Bereich ‘Religion‘ immer mehr unter den einer weit gefassten Kultur subsumiert (Fritsche 2015; Groschopp 2013). Es stellen sich darin die Ziele der vollständigen Trennung von Kirche und Staat sowie Religion und Bildung auf neue Weise, vor allem sind die Wege dahin weiter umstritten. Sie reichen von einem strengen Laizismus bis zum Prinzip der Gleichbehandlung von Religionsgesellschaften und Weltanschauungsgemeinschaften (Hummitzsch 2013).

Annäherungen an Humanismus

Die deutsche Freidenkerbewegung, wie sie sich zwischen 1881 und 1933 in ihren wesentlichen Zügen und in der Weimarer Republik sogar als Massenorganisation mit mehr als einer halben Million Mitgliedern präsentierte (im Nationalsozialismus verboten), stand dem Humanismus umso ferner, je mehr sie sich zur Arbeiterbewegung rechnete, wo Karl Marx 1844 den Kommunismus als wahren Humanismus postuliert hatte (Engels/Marx 1958, S. 7; Groschopp 2013a, S. 61-65) und Sozialismus als Weltanschauung galt, die Religion durch Sozialismus ersetzt (Prüfer 2002). In dem Maße, wie sich die Arbeiterbewegung in den 1920er Jahren spaltete, zerfaserten sich auch die Freidenker.

Humanismus im Namen einer Organisation ist, abgesehen von der Selbstbezeichnung von Ortsverbänden der ethischen Kulturgesellschaft um 1900 als ‘Humanistengemeinden‘, neueren Datums. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es international zu einer Öffnung des Freidenkertums zum Humanismus (‘Internationale Humanistische und Ethische Union‘, IHEU 1952). Dieser wurde noch vorrangig als ein Instrument der Säkularisierung verstanden. Erst zum Ende des 20. Jahrhunderts, parallel zur neu einsetzenden Humanismusforschung und dazu teilweise Verbindung suchend, öffnete sich das Verständnis von Humanismus. Organisationen nahmen diesen Namen an (‘Humanistische Union‘ 1961, ‘Humanistischer Verband‘ 1993, ‘Humanistische Akademie‘ 1997; seitdem zahlreiche Vereine und Stiftungen).

Die ‚Humanistengemeinden‘ der ‚Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur‘ stellen in dieser Geschichte nicht nur eine Ausnahme dar (Schramm 2012; Groschopp 2014), sondern markieren einen Neubeginn. Felix Adler (Adler 1892) gründete 1876 in New York die ‘Society of Ethical Culture‘ und brachte die Idee einer liberalen Sozialreform, getragen von humanistischer Ethik, die über den Klassen, Rassen, Religionen und Parteien steht, an der wissenschaftlich gearbeitet wird und die in Schulen gelehrt werden soll, Anfang der 1892 Jahre nach Deutschland und beeinflusste hier Wilhelm Foerster und Ferdinand Tönnies und in Österreich Friedrich Jodl. Dieser liberale und ethische Humanismus wurde in den USA auch ‘Humanismus der Juden‘ genannt (Hiorth 1996, S. 21-25). Die von Adler initiierte ethische Kulturbewegung (Groschopp 2011, S. 149-169, 243-278) war zunächst praktisch orientiert.

Noch in den 1920er Jahren gab es in den USA ein auf John Mackinnon Robertson und auf das Jahr 1891 zurückgehendes, philosophisch begründetes Konzept, das Humanismus als eine zivile Religion sah. Es findet sich auch bei Arthur Hazard Dakin und Curtis W. Reese (Robertson 1891; Dakin 2010). Doch der Ende der 1940er Jahre in den USA aufkommende, weitgehend atheistisch sich darstellende ‘säkulare Humanismus‘ bekämpfte diese Richtung erfolgreich wegen ihrer Religionsnähe.

Die positive Hinwendung zum Humanismus ab Mitte der 1930er Jahre war Folge des Antifaschismus, die eine politische Front gegen den praktischen wie geistigen Antihumanismus schaffen wollte (Berendsohn 1946; Groschopp 2013a, S. 81-158). Der ‘säkulare Humanismus‘ griff in Zeiten des Kalten Krieges nicht auf diese Tradition zurück. Er wurde antikommunistisch, gerade weil sich im Antikolonialismus in den frühen 1950ern Tendenzen zu einem ‘säkularen Humanismus‘ verstärkt hatten (Macamo 2009). Rezipiert wurde in der Folge ein ‘radikaler Humanismus‘, der auf Manabendra Nath Roy zurückgeht (Chattopadhyaya 2009). Dieser hatte Anfang der 1930er Jahre die antifaschistischen Wochenschriften ‘Radical Humanist‘ und ‘Humanist Way‘ gegründet, weshalb auch Vertreter der antistalinistischen Linken die humanistische Idee aufgriffen, etwa Erich Fromm (Funk 1984).

In den 1950er Jahren kam es in der westdeutschen Freidenkerei zu einigen Vorschlägen, Humanismus als Begriff und Programm einzuführen, so erfolglos 1956 beim ‘Deutschen Monistenbund‘. Im August 1961 entstand die ‘Humanistische Union‘ als kulturpolitische Vereinigung und heutige Bürgerrechtsorganisation mit dem Schwerpunkt des Einsatzes für die Menschenrechte. Im Juli 1973 bis Ende 1991 gab der 1859 gegründete ‘Bund Freireligiöser Gemeinden Deutschlands‘ seiner Verbandszeitschrift den Namen ‘Der Humanist‘ (ab 1992: ‘Wege ohne Dogma‘). 1988 erfolgte die Umbenennung der ‘Freireligiösen Landesgemeinschaft Niedersachsen‘ in ‘Freie Humanisten Niedersachsen‘, weitgehend ein Ergebnis der engen Bindung an die IHEU.

Ab 1990 wandten sich Freidenker verstärkt dem Humanismus zu (Groschopp 2016), durchaus in Kontakt mit einigen reformbereiten Neugründungen aus dem 1989 in der DDR entstandenen kurzlebigen ‘Verband der Freidenker‘ (Groschopp/Müller 2013). In den Bezirken Berlin, Halle und Potsdam wandten sich diese während der ‘Wendezeit‘ der konzeptionellen Anwendung eines praktischen Humanismus zu. Sie wurden Anfang 1993 zu Mitbegründern des ‘Humanistischen Verbandes Deutschlands‘.

Auch hier dominierte noch der ‘säkulare Humanismus‘. Er erreichte die sich neu orientierenden deutschen Freidenker 1990 in der Interpretation von Finngeir Hiorth, der in einem Vortrag im November 1989 auf dem Kongress der ‘Weltunion der Freidenker‘ in Belgien die in der IHEU vorfindliche säkularistische Tendenz verstärken wollte und dessen Grundsatztext die Berliner Freidenkerzeitschrift ‘diesseits‘ veröffentlichte (Hiorth 1990). Debatten in der ‘Humanistischen Akademie‘ stellten im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts den Begriff des ‘säkularen Humanismus‘ in seiner Geschichte vor (Junginger 2013) und zugleich zunehmend in Frage).

Parallel dazu entfaltete sich im Umfeld der ‘Giordano-Bruno-Stiftung‘ eine neue, moderne Freidenkerbewegung. ‘Humanismus‘ wurde hier weitgehend identisch mit einem rationalistischen Naturalismus, dem auf der politischen Ebene nicht nur die Trennung von Kirche und Staat entsprach, sondern in einer radikalen Konsequenz auch die Separation von Gesellschaft und Religion. Der eigene Humanismus wird als wissenschaftlich begründet angesehen und vom religiösen Humanismus streng unterschieden (Schmidt-Salomon 2005; Kurtz 1998).

Seitdem gibt es verschiedene Versuche, Humanismus in dieser Tradition fortzuschreiben, ihn zu erneuern oder zu verwerfen. Die Diskussionen sind in den Publikationen der drei Publikationsreihen der ‘Humanistischen Akademien‘ nachvollziehbar. Die Debatten haben inzwischen zu kritischen Reaktionen aus kirchlicher (Fincke 2004; Hempelmann 2011; Baab 2013), neuerdings auch muslimischer Sicht (Korchide 2015) geführt, die erfreulicherweise zum Dialog ermuntern.

Anmerkungen
[1] Insofern sich diese Verbände ab 1993 dem ‘Humanistischen Verband Deutschlands‘ (HVD) anschlossen, sind auch in dessen Reihen ‘Körperschaften des Öffentlichen Rechts‘ (KdÖR), teilweise sogar ausgestattet mit (im Verhältnis zu den Kirchen bescheiden dotierten) Staatsverträgen (Württemberg, Niedersachsen). Ausführlich vgl. Groschopp 2016.
[2] Trinius zitiert bei Wild 1979, S. 254 f.

Literatur

  • Adler, Felix (1892): Rede, gehalten in einer Versammlung im Victoria-Lyceum zu Berlin am 7. Mai 1892. In: Die ethische Bewegung in Deutschland. Vorbereitende Mitteilungen eines Kreises gleichgesinnter Männer und Frauen zu Berlin. 2., vermehrte Auflage. Berlin.
  • Algermissen, Konrad (1960): Freidenker. In: Josef Höfer/Karl Rahner (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. 2. Auflage. Bd. 4. Freiburg.
  • Baab, Florian (2013): Was ist Humanismus? Geschichte des Begriffes, Gegenkonzepte, säkulare Humanismen heute. Regensburg.
  • Berendsohn, Walter A. (1946): Die humanistische Front. Einführung in die deutsche Emigranten-Literatur. Erster Teil. Von 1933 bis zum Kriegsausbruch 1939. Nachwort. Zürich.
  • Chattopadhyaya, Umesh (2009): Indischer Humanismus. In: Rüsen/Laas 2009, S. 134-144.
  • Dakin, Arthur R. (2010): Man the Measure. An Essay on Humanism as Religion (1939). Whitefish, Montana.
  • Engels, Friedrich/Marx, Karl (1958): Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer & Consorten. Vorrede (1844). In: MEW Bd. 2, S. 3-224.
  • Fincke, Andreas (Hrsg.) (2004): Woran glaubt, wer nicht glaubt? Lebens- und Weltbilder von Freidenkern, Konfessionslosen und Atheisten in Selbstaussagen. Berlin.
  • Fritsche, Thomas (2015): Der Kulturbegriff im Religionsverfassungsrecht. Berlin.Funk, Rainer (1984): Erich Fromm. Radikaler Humanismus – humanistische Radikalität. In: Josef Speck (Hrsg.): Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart. Bd. 6. Göttingen, S. 78-112.
  • Gawlick, Günter (1972): Freidenker. In: Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Darmstadt.
  • Groschopp, Horst (2011): Dissidenten. Freidenker und Kultur in Deutschland (1997). Marburg.
  • Groschopp, Horst (2009a) (Hrsg.): „Los von der Kirche!“ Adolph Hoffmann und die Staat-Kirche-Trennung in Deuitschland. Berlin.
  • Groschopp, Horst (2009b) (Hrsg.): Humanismus und ‘neuer Atheismus‘. In: Ha 23.
  • Groschopp, Horst/Müller, Eckhard (2013): Letzter Versuch einer Offensive. Der Verband der Freidenker der DDR (1988-1990). Ein dokumentarisches Lesebuch. Aschaffenburg.
  • Groschopp, Horst (2013a): Der ganze Mensch. Die DDR und der Humanismus. Ein Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte. Marburg.
  • Groschopp, Horst (Hrsg.) (2013b): Humanismus – Laizismus – Geschichtskultur. Berlin.
  • Groschopp, Horst (2013c): „Laizismus und Kultur“. In: Groschopp 2013b, S. 18-33.
  • Groschopp, Horst (2014): Die drei berühmten Foersters und die ethische Kultur. Humanismus in Berlin um 1900. In: Horst Groschopp (Hrsg.): Humanismus und Humanisierung. Aschaffenburg, S. 157-173.
  • Groschopp, Horst (2016): Pro Humanismus. Eine zeitgeschichtliche Kulturstudie. Mit einer Dokumentation. Aschaffenburg.
  • Heimann, Siegfried/Walter, Franz (1993): Religiöse Sozialisten und Freidenker in der Weimarer Republik. Bonn.
  • Hempelmann, Reinhard (2011) (Hrsg.): Dialog und Auseinandersetzung mit Atheisten und Humanisten. Berlin.
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  • Hiorth, Finngeir (1990): Freidenkertum und säkularer Humanismus. In: diesseits, H. 10, S. 9-11; H. 12, S. 13 f.
  • Hiorth, Finngeir (1996): Humanismus – genau betrachtet. Eine Einführung. Neustadt am Rübenberge.
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  • Wunderer, Hartmann (1980b): Arbeitervereine und Arbeiterparteien. Kultur- und Massenorganisationen in der Arbeiterbewegung (1890-1933). Frankfurt am Main, New York.

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Quelle: Horst Groschopp: Freidenkerbewegung. In: Hubert Cancik/Horst Groschopp/Frieder Otto Wolf: Humanismus: Grundbegriffe. Berlin/Boston 2016, S.159-168.