Kirchenaustritte in Augsburg und Braunschweig
Für die Entwicklung der Mitgliederzahlen der beiden christlichen Großkirchen und vor allem für das Verhältnis der Kirchenmitglieder zu ihren Kirchen werden u. a. die Daten der Kirchenaustritte als Indikator verwendet. Für zwei Großstädte im Norden und Süden – das traditionell katholisch dominierte Augsburg sowie das evangelisch dominierte Braunschweig – liegen dazu detaillierte Daten und Zeitreihen seit 2006 bzw. 2000 vor.
Vorbemerkung
1. Augsburg, 1.1. Stichworte, 1.2. Datenquellen, 1.3. Austritte insgesamt und nach Konfessionen, 1.4. Austritte von Frauen bzw. Männern, 1.5. Austritte nach Altersgruppen.2. Braunschweig, 2.1. Stichworte, 2.2. Datenquellen, 2.3. Austritte insgesamt und nach Konfessionen, 2.4. Austritte von Frauen bzw. Männern, 2.5. Kirchenmitglieder und Kirchenaustritte, 2.6. Austritte und Anteile an den Kirchenmitgliedern.
Vorbemerkung
In diesem Artikel geht es nur um die Kirchenaustritte, nicht um die Minus-Plus-Salden aus Kirchenaustritten, Kircheneintritten, Wiederaufnahmen – sofern diese Daten für Kommunen überhaupt vorliegen. Während die Salden für die Entwicklung von ‚Netto-Veränderungen‘ der Mitgliederzahl von Interesse sind, stehen die Kirchenaustritte als Indikator für die Abwendung der bisherigen Kirchenmitglieder von ihren Kirchen, die sich in den (nicht spontanen) Austritten vor Ort dokumentiert.
Die Beschränkung auf die Kirchenaustritte beruht auch auf den nicht vorhandenen Informationen über die Wechselbeziehungen zwischen Austritten und Eintritten (z. B. Austritt aus der evangelischen Kirche und Eintritt in die evangelische Kirche), ebenso wie die fehlende Kenntnis der formalen, quasi automatischen Kircheneintritte von Zuwanderern und vor allem die Informationen, was als „Kircheneintritte“ gezählt wird. Für Augsburg, das dazu detailliertere Informationen publiziert hat, sind 68 Prozent der Kircheneintritte bis unter zwei Jahre alt und 83 Prozent unter 18 Jahre. Mehr als zwei Drittel sind also Täuflinge (Taufe = Kircheneintritt) und von den unter 18-Jährigen werden ein Teil Taufen zur Vorbereitung der Firmung bzw. der Konfirmation sein. Diese Taufdaten werden gemeinhin gegen die Anzahl der Verstorbenen gerechnet und wenn es weniger Täuflinge sind, ist dieses ‚Taufdefizit‘ einer der Gründe für den Rückgang der Kirchenmitglieder. Mit Kirchenaustritten stehen sie in keinem direkten Zusammenhang.
1. Augsburg
1.1. Stichworte: Augsburg ist (Ende 2022) mit 298.994 Einwohnern nach München (1.558.330 Einwohner) und Nürnberg (541.103 Einwohner) die drittgrößte Metropole im Bundesland Bayern. Augsburg ist Universitätsstadt und Bischofssitz sowie historisch „Fuggerstadt“. Traditionell katholisch dominiert (1970: 72,7 Prozent römische Katholiken) verringerte sich ihre Anzahl und ihr Anteil kontinuierlich (1987: 65,2 Prozent, 2000: 53,2 Prozent) und beträgt seit 2004 weniger als die Hälfte (49,7 Prozent) der Einwohner. 2021 verringerte sich die Summe des Anteils der katholischen und evangelischen Kirchenmitglieder auf 48,6 Prozent der Bevölkerung und beläuft sich Ende 2022 auf 33,6 Prozent römische Katholiken und 12,3 Prozent EKD-Evangelische, zusammen 45,9 Prozent Kirchenmitglieder.
1.2. Datenquellen: Die Stadt Augsburg hat ungewöhnlich detailliert Daten und Zeitreihen des Standesamtes für den Kircheneintritt und Kirchenaustritt publiziert, so im Statistischen Jahrbuch 2016 für die Jahre 2006 – 2015 und im Statistischen Jahrbuch 2022 für die Jahre 2011-2021. Die Zahlen für 2022 liegen noch nicht vor. Genannt wird: Insgesamt und jeweils nach Konfession, Frauen/Männer, Altersgruppen, ‚Familienstatus‘.
1.3. Austritte insgesamt und nach Konfessionen: Im betrachteten Zeitraum (2006 – 2021) sind hat sich die Anzahl der Kirchenmitglieder um 32.869 Personen verringert. Aus dem Steuerverbund-Kirche-Staat (i. e. Kirchenaustritt aus der Körperschaft des öffentlichen Rechts) sind 28.924 Personen ausgetreten. Rein rechnerisch erklären diese Kirchenaustritte damit 88 Prozent des Mitgliederrückgangs.
Die Anzahl der Kirchenaustritte ist in den 16 Jahren in der Gesamttendenz steigend von 1.000 auf 3.000 im Jahr. Die größeren ‚Zacken‘ für die Anzahl der Kirchenaustritte bei den römischen Katholiken beruht schlicht darauf, dass sie die größere Anzahl stellen (2021: 10.423) als die EKD-Evangelischen (36.760).
Während die ‚Ausschläge‘ 2010 sowie 2019 und 2021 durch die Missbrauchsfälle bzw. den Umgang des Klerus damit zu tun hat, bezieht sich der ‚Ausschlag‘ 2014 wohl auf die Einführung der Kirchenkapitalertragssteuer, was sich dann auch bei den Kirchenaustritten in den Altersgruppen zeigen müsste.
Berechnet man die relativen Anteile der Konfessionen an den Austritten, so zeigt sich, dass die römischen Katholiken im Durchschnitt 67,8 Prozent der Austritte stellen, mit einer Schwankungsbreite von rund vier Prozentpunkten.
Die größte Abweichung nach oben (75 Prozent) ist im Laufe des Jahres 2010 – möglichweise als Reaktion auf das erstmalige Bekanntwerden von Missbrauchsfällen am katholischen Canisius-Kolleg in Berlin.
Bei den Kirchenaustritten hinsichtlich der Konfessionen haben die evangelischen EKD-Landeskirchen traditionell die höheren Austritte als die katholischen Bistümer. Das mag an einer stärkeren Kirchenbindung der römischen Katholiken liegen (Teilnahme an den Sakramenten und Priester als Mittler zwischen Gott und den Gläubigen). Bei den EKD-Evangelischen hat jeder Gläubige eine eigene Beziehung zu Gott und wenn die schwächer wird, ist es möglichweise einfacher zu gehen.
Dieses Phänomen zeigt sich auch in Augsburg, da dort der Anteil der römischen Katholiken (außer im Jahr 2010) bei den Kirchenaustritten geringer ist, als ihr höherer Anteil an den Kirchenmitgliedern.
1.4. Austritte von Frauen bzw. Männern: Bei den Kirchenaustritten gibt es die allgemeine Tendenz, dass Männer einen höheren Anteil an den Kirchenaustritten haben als die Frauen. Dieses Phänomen zeigt sich auch in Augsburg, wo von den Kirchenaustritten durchschnittlich (von 2006-2021) rund 56 Prozent Männer sind und 44 Prozent Frauen.
Dabei zeigt sich jedoch eine Entwicklung, dass sich die Abstände zwischen den Frauen und den Männern in den Jahren nach 2016 verringern. Waren es 2006 noch 12,4 Prozentpunkte mehr Männer als Frauen (56,2 vs. 43,8), so sind es 2021 nur noch 5,2 Prozentpunkte mehr Männer (52,6 vs. 47,4).
Diese Entwicklung wird noch differenzierter, wenn man die Verteilungen innerhalb der Konfessionen betrachtet. Gab es bei den Evangelischen 2006 eine ‚Geschlechterdifferenz‘ von 9,0 Prozentpunkten weniger Austritte von Frauen (45,5 vs. 54,5), so verringert sich diese (2021) nur geringfügig auf 7,0 Prozentpunkte (46,5 vs. 53,5 Prozent). Bei den römischen Katholiken wird dagegen der Abstand zwischen den Frauen Männer deutlich geringer. Waren es 2006 noch 14,2 Prozentpunkte Abstand (42,9 vs. 57,1) so waren – nachdem die Frauen 2012/2013 unter der 40-Prozent-Marke waren – es 2021 nur noch 4,5 Prozentpunkte Abstand (48,2 vs. 52,7)
Der seit 2016 stetige Anstieg des Frauenanteils unter den katholischen Kirchenaustritten verweist auf die verstärkte Artikulation von Frauen und Fraueninteressen innerhalb der katholischen Kirche (u.a. „Maria 2.0“). Eine Entwicklung der Frauen, die auch bereits für die katholische Kirche in Wien gezeigt wurde.
1.5. Austritte nach Altersgruppen: In den Kirchenaustritten nach Altersgruppen zeigen sich zwei Entwicklungen. Zum einen wird der Anteil der Jüngeren (18- bis unter 30-Jährigen) größer, zum anderen steigt die Anzahl und der Anteil der 60-Jahre-und-Älteren.
Die Annahme, dass es sich bei dem ‚Ausschlag‘ 2014 um die Reaktion auf die Einführung der Kirchenkapitalertragssteuer handelt, bestätigt sich darin, dass die 50-Jahre-und-Älteren maßgeblich daran beteiligt sind. Bei der Einführung der Kirchenkapitalertragssteuern handelte es sich darum, dass die Banken verpflichtet wurden, die Erträge aus den Kapitalanlagen (Guthaben, Aktien, etc.) ihrer kirchensteuerpflichtigen Kirchenmitglieder direkt abzuführen. Das empfanden vor allem Ältere, die diese Kapitalanlagen und deren Erträge als Rücklagen für die Kinder oder die eigene Altersversorgung betrachteten, als Übergriff der Kirchen auf diese bisher meist verborgen gebliebenen ‚Schätze‘.
Die angesprochenen Veränderungen im Zeitverlauf in den Altersgruppen zeigt sich dann auch bei der Untergliederungen nach Konfessionen
Sowohl bei den 18-unter-30-Jährigen steigt ihr Anteil sowohl bei den römischen Katholiken wie bei den EKD-Evangelischen. Bei den 60-Jahre-und-Älteren verläuft die Entwicklung ebenfalls parallel – auch bei dem ‚Kirchenkapitalertragssteuer-Protest‘ 2014. Der Anteil der älteren Katholikinnen und Katholiken bei den Austritten steigt jedoch 2021 sichtbar.
2. Braunschweig
2.1. Stichworte: Braunschweig, mit 253.167 Einwohnern (Ende 2022) die zweitgrößte Stadt in Niedersachsen nach der Landeshauptstadt Hannover (522.710 Einwohner). Große Geschichte („Heinrich der Löwe“), 2007: „Stadt der Wissenschaft“. Im Jahr 2016 sank die Anzahl der christlichen Kirchenmitglieder unter die 50-Prozent-Marke (49,57 Prozent).
2.2. Datenquellen: Die Stadt Braunschweig nennt in „Braunschweig in Zahlen 2022“ die Kirchenaustritte für die Jahre 2000-2021 und nach fowid-Anfrage für 2022. Als Daten zu den Kirchenaustritten liegen vor: Frauen, Männer sowie nach Konfessionen.
2.3. Austritte insgesamt und nach Konfessionen: Im Betrachtungszeitraum (2000-2022) hat sich die Anzahl der Kirchenmitglieder von 142.559 (59,36 Prozent) auf 107.427 (42,44 Prozent), d. h. um 35.132 Personen verringert. Im gleichen Zeitraum sind 36.018 Personen aus der Kirche ausgetreten. Rein rechnerisch übersteigen die Kirchenaustritte etwas den Mitgliederrückgang, was jedoch heißt, dass durch die anderen Faktoren der Mitgliederveränderung (Saldo Taufen/Verstorbene, Zuwanderung) keine weiteren Verringerungen verursacht wurden.
Eine Besonderheit der Auszählungen in Braunschweig ist, dass neben den Angehörigen der „evangelisch-lutherischen Kirche“ (EKD) auch die „Angehörigen anderer evangelischer Kirchengemeinschaften“ erfasst werden
Abgesehen von den hohen evangelischen Austrittszahlen 2001 – 2004 gibt es einen linearen Trend für den Anstieg der Austrittszahlen seit 2006, der 2022 auch den 2014-Wert („Kirchenkapitalertragsabgeltungssteuer“) übertrifft und die 2.500-Marke an Austritten übersteigt.
Besonders auffallend ist der Anstieg in der Anzahl der kleineren Zahl der „anderen Evangelischen“, der in den Jahren 2020-2022 sich geradezu ‚vervielfacht‘: Die Erosion – gemessen an den Austrittszahlen – steigt zwar langsam über die Jahre an, bleibt aber bis 2019 (mit 34 Austritten) im unteren zweistelligen Bereich. 2020 sind es dann 107, 2021 sind es 159 und 2022 dann 361 Austritte. Was diese Mitglieder kleiner evangelischer KdöR-Kirchen zum Austritt bringt ist jedoch - vermutlich aufgrund der relativ kleinen Anzahl – nicht bekannt.
2.4. Austritte von Frauen bzw. Männern: Im Gesamtverlauf ist die Anzahl der Frauen ähnlich groß wie die der Männer, wenn auch die Zahlen der Frauen etwas geringer sind. Im Durchschnitt der 23 Jahre haben die Frauen einen Anteil von 48,8 Prozent, mit parallelen Veränderungen. In sechs von 22 Jahren treten allerdings mehr Frauen als Männer aus.
Exkurs: Was in den Jahren 2001/2003 deutlich mehr Frauen zum Kirchenaustritt bewegt hat, ist mit großer Wahrscheinlichkeit zu benennen. 1999 hatte die Landessynode der Ev.-Luth. Landeskirche beschlossen, ein Besonderes Kirchgeld festzusetzen und zu vereinnahmen. 2000 gab es die ersten Zahlbescheide. Bei dem Besonderen Kirchgeld wird – bei einer gemeinsamen Steuerveranlagung – von nicht-erwerbstätigen Ehefrauen, die Kirchenmitglied sind und deren Ehemänner aus der Kirche ausgetreten sind, dieses Kirchgeld erhoben – mit Bezug auf das Einkommen des Ehemannes. Dagegen wurde geklagt und 2001 erklärte das Verwaltungsgericht Braunschweig dieses Besondere Kirchgeld für rechtmäßig und die Klage dagegen wurde abgewiesen. Diesem Besonderen Kirchgeld konnten Ehefrauen also nur entgehen, wenn sie ebenfalls aus der evangelischen Kirche austraten.
2014 sind gleich viele Frauen wie Männer (ältere Jahrgänge mit Vermögensrücklagen) über die Kirchenkapitalertragssteuer empört. Im Jahr 2022 sind es wiederum mehr Frauen (51,1 Prozent) als Männer.
Der generelle Trend geht dahin, dass Frauen und Männer am ‚gleichen Strang‘ ziehen und sich die Anzahl ihrer Austritte parallel zu einander erhöhen.
2.5. Kirchenmitglieder und Kirchenaustritte: Das Muster, dass sich bereits in Augsburg gezeigt hatte, wird auch in Braunschweig sichtbar. Die Evangelischen stellen bis auf wenige Jahre (2005, 2010 und 2021) höhere Anteile an den Kirchenaustritten, als es ihrem Anteil an den Kirchenmitgliedern entsprechen würde.
2.6. Austritte und Anteile an den Kirchenmitgliedern: Dass bei steigenden Austrittszahlen auch höhere Anteile an Kirchenmitgliedern austreten, ist anzunehmen.
Nach den ‚Unruhejahre-Jahren 2000-2003 (Einführung des Besonderen Kirchgeldes in der Ev.-Lutherischen Kirche) verbleibt der Anteil der Austritte bis 2012 jedoch unter einem Prozent, um dann ab 2013 recht kontinuierlich anzusteigen, von 1,04 / 1,10 Prozent (2014) (und dem ‚Spitzenjahr 2014: Kirchenkapitalertragssteuer) bis zu 1,91 Prozent (Evgl.) und 2,61 Prozent (Röm.-katholisch) im Jahr 2022.
Auch wenn es zu erwarten war, dass die römischen Katholiken in den Jahren 2021 und 2022 höhere Anteile als die evangelischen Lutheraner aufweisen, so ist doch immer wieder erstaunlich, dass auch die evangelischen Anteile 2022 ansteigen. Man könnte beinahe von einer ‚Ökumene der Kirchenaustritte‘ sprechen. Deren gemeinsamer Anstieg seit 2013 deutet darauf hin, dass bei den Mitgliedern beider Kirchen etwas grundsätzlich ‚im Argen‘ liegt.
Betrachtet man jedoch die hohen evangelischen Austrittsanteile in den Jahren 2001-2003 (Besonderes Kirchgeld) und die ‚Zacken‘ beider Kirchen in den Austrittsanteilen 2014 (Kirchenkapitalertragssteuer), so entsteht der Eindruck, dass die evangelischen Kirchenmitglieder von Geld-Themen stärker beeindruckt werden, als von den moralischen Probleme der katholischen Kirche, auf die Katholiken ab 2017 stärker reagieren und 2021/2022 – was ungewöhnlich ist – ihre evangelischen Glaubensschwestern und -brüder in den Anteilen der Austritte übertreffen.
Carsten Frerk