Kirchenaustritte in Wien: Ein genauerer Blick
Die Landesstatistik Wiens gibt für die Kirchenaustritte nicht nur allgemeine Daten der Anzahl, sondern auch weitere Informationen über die Austrittsmonate und ob die Austretenden Männer oder Frauen sind. Mit diesen Daten lässt sich ein genauerer Blick erreichen, so dass ersichtlich wird, dass die katholischen Frauen sich ähnlich verhalten wie die Männer und der klassische Geschlechtsunterschied sich bei den Kirchenaustritten nicht darstellt.
Von Balázs Bárány
Datenquellen
Seit vielen Jahren sind wir im deutschen Sprachraum gewohnt, dass die großen Religionsgemeinschaften einmal im Jahr die Kirchenaustritte und sonstige Statistiken publizieren. In den letzten Jahren sind die Rekordzahlen bei den Austritten für diese Kirchen selten erfreulich gewesen. Die Kommunikation darüber und der Zeitpunkt der Veröffentlichung werden sicherlich strategisch vorbereitet. Hierbei entsteht ein Informationsvorsprung der Kirchen gegenüber der Öffentlichkeit.
Dabei finden Kirchenaustritte bei staatlichen oder kommunalen Stellen statt. Es spräche also nichts dagegen, dass diese Behörden die Statistiken offen und zeitnah kommunizieren. In Deutschland gibt es einige Städte und Bundesländer, die das tun; in Wien gibt die Landesstatistik Wien jährlich ein Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien aus, in der die Information auffindbar ist. Diese sind auf der Homepage der Statistik Wien abrufbar, zusammen mit regelmäßig aktualisierten Tabellen, die später ins meistens im Herbst erscheinende Jahrbuch eingehen.
Bisher betreffen die Zahlen das Vorjahr. Ideal wäre eine zeitnahe Publikation der Austrittszahlen auf dem sonst sehr umfangreichen Open-Data-Auftritt der Stadt Wien. Aber das ist vorerst ein Wunsch für die Zukunft.
Kirchenaustritte im Jahresverlauf
Eines der großen Hindernisse bei der regelmäßigen Beschäftigung mit den Austritten und der daraus resultierenden Änderung der Verteilung von Konfessionen in der Bevölkerung ist, dass unterjährige, zum Beispiel monatliche Daten schwer zu bekommen sind. Natürlich können die jährlichen Austritte (zum Beispiel das letzte Jahr oder der Mittelwert aus den letzten drei Jahren) durch 12 dividiert und so schätzungsweise monatlich fortgeführt werden, aber ohne weitere Information können wir nicht davon ausgehen, dass das valide ist. Es könnte ja sein, dass ein Großteil der Austritte am Ende des Jahres passiert, die Hochrechnung während des Jahres also zu hohe Zahlen ergäbe.
Dies kann zumindest für Wien aus den monatlichen Zahlen und ihrem Verlauf festgestellt werden. Und hier zeigt sich, dass die ersten Monate des Jahres die stärksten bei den Austritten sind. Nach dem ersten Quartal sind es bereits 30 %, mit Ende Mai ist fast die Hälfte der Summe des Jahres erreicht, und per Ende Juni deutlich mehr als die Hälfte.
Die meisten Austritte erfolgen aus der römisch-katholischen und den evangelischen Kirchen. Da in Österreich nur diese und wenige andere, kleinere Religionsgemeinschaften einen Kirchenbeitrag vorschreiben, spielt es für die AnhängerInnen anderer Religionen keine Rolle, ob sie „austreten“ oder nicht – sie sind ja auch nicht aktiv eingetreten. Deswegen gibt es praktisch keine Austritte z. B. aus der islamischen Religionsgesellschaft oder aus orthodoxen Kirchen.
Der Zeitraum inkludiert den Corona-Frühling 2020, in dem ab Mitte März bis etwa Ende Mai das öffentliche Leben praktisch still stand und Kirchenaustritte im April und Mai untypisch stark zurückgingen. Ohne Betrachtung des Jahres 2020 ist der Effekt noch stärker. Im folgenden Diagramm ist das Jahr 2020 mit enthalten.
Die kumulierte Darstellung der Austritte zeigt, dass sie nicht ganz linear, sondern am Anfang des Jahres etwas steiler und insbesondere im Sommer etwas flacher verlaufen, und dass die Kurve immer über der theoretischen, linearen Verlaufs-Geraden (1/12 der Austritte des Jahres pro Monat) bleibt.
Daraus folgt, dass mit dem bekannten Verlauf genauere Prognosen während des Jahresverlaufs gemacht werden können. Und da mehr als 20 % der Bevölkerung Österreichs in Wien lebt und mehr als 25 % der jährlichen Austritte in Wien stattfinden, ist es zumindest auch eine fundierte Annahme, dass die Kurve im Rest des Landes höchstwahrscheinlich nicht unter dem linearen Verlauf liegt.
Wir können also getrost jeweils am Quartalsende z. B. die durchschnittlichen Austritte der letzten Jahre, eventuell mit höherer Gewichtung des letzten Jahres, heranziehen und entsprechend dividieren, und bekommen eine gute Hochrechnung der Anzahl der Katholiken in Österreich.
Verteilung der Wiener Bevölkerung auf Bekenntnisse
In den neuesten Zahlen im Jahrbuch 2022, das Statistiken aus 2021 enthält, sind insgesamt etwa 40 Prozent christlich, katholisch etwas unter 30 Prozent. Von der muslimischen Bevölkerung gibt es leider keine genauen Zahlen im Jahrbuch, nur eine Schätzung von 200.000 Menschen, die von der Religionsgesellschaft selbst stammt (ähnlich wie die Zahlen der Orthodoxen), somit auch übertrieben sein kann. Insofern ist der genaue Anteil der Konfessionsfreien nicht bezifferbar, aber ihr Anteil war Ende 2021 laut den Zahlen des Jahrbuches bei knapp über 50 Prozent. Mitte 2023 kann man getrost davon ausgehen, dass allein aus den katholischen und evangelischen Kirchen genug Menschen ausgetreten sind, um eine sichere absolute Mehrheit der Konfessionsfreien in Wien zu ergeben.
Austritte nach Geschlecht
Es galt sehr lange als gesichertes Wissen, dass mehr Frauen als Männer religiös sind oder sich zumindest so verhalten. Und das trotz (oder wegen?) ihrer Unterdrückung und Diskriminierung durch große Religionsgesellschaften. Als Grund dafür wird die unterschiedliche Sozialisation genannt: Frauen werden mehr sozial orientiert und zu Konformität erzogen, sie suchen öfter Halt und Trost in einer größeren Gemeinschaft, und sie leben länger, wodurch sie auf eine solche Gemeinschaft auch länger angewiesen sind.
Im Statistischen Jahrbuch der Stadt Wien finden wir für die größte religiöse Gruppe, die römisch-katholische Kirche (knapp 30 % der Wiener Bevölkerung) eine Aufstellung der Angehörigen nach Geschlecht. In dieser Gruppe sind 45,3 % männlich und 54,7 % weiblich (von 73 Menschen ist das Geschlecht nicht bekannt). In der Gesamtbevölkerung ist die Verteilung 48,9 % männlich und 51,1 % weiblich, es stimmt also, dass es zumindest in der römisch-katholischen Kirche überproportional viele Frauen gibt.
Die Austritte aus der römisch-katholischen Kirche verteilen sich so: 47,5 % der Ausgetretenen waren im Jahr 2021 Männer, 52,5 % Frauen. 2022, dem Jahr der Rekord-Austritte aus der römisch-katholischen Kirche waren es allerdings 46,6 % Männer und 53,4 % Frauen. Das ist also noch unter dem Frauenanteil in der römisch-katholischen Bevölkerung, aber nicht mehr viel, und der Vergleich mit den Jahren davor zeigt, dass der Anteil langsam steigt. Der Kirchenaustritt wurde lange Zeit als gesellschaftlich unerwünschtes Verhalten angesehen, und Männer konnten sich damit eher durchsetzen. Die Zahlen zeigen aber, dass die soziale Akzeptanz steigt, und Frauen sich mittlerweile auch leichter damit tun.
Dies hat verschiedene Implikationen. Im religiös-konservativen Teil der Bevölkerung sind Frauen immer noch stärker in die Kindererziehung involviert als Männer. Eine sich beschleunigende Abwendung von der Kirche hat negative Auswirkungen auf die religiöse Sozialisierung der nächsten Generation. Gleichzeitig sind viele religiöse Einrichtungen auf ehrenamtliche Mitarbeit angewiesen, die auch zu einem größeren Teil von Frauen geleistet wird. Diese sind also bei einer sich beschleunigenden Abwendung der Frauen von der Religionsgesellschaft möglicherweise auch betroffen.
Eine Analyse aus den USA aus dem Jahr 2021 ergab, dass dort der Anteil der Konfessionsfreien unter jungen Frauen mittlerweile höher ist als unter Männern. Die Wahrnehmung des Christentums und von Religion allgemein wird durch die medial lautesten, einflussreichsten Vertreter etabliert, und das sind in den USA vielerorts die evangelikalen, christlich-nationalistischen Kirchen, die mit Gleichberechtigung, LGBTQ-Akzeptanz und dem Recht auf Schwangerschaftsabbruch auf Kriegsfuß stehen. Junge Frauen wissen genau, wer ihre Interessen repräsentiert und wer sie stattdessen einem Männlichkeitskult unterordnen will.
In Österreich ist die römisch-katholische Kirche mit Abstand die größte. Sie lässt Frauen zwar gerne für sich arbeiten, aber sonst ist sie mit Gleichberechtigung im Verkündigungsbereich, aber auch beim Schwangerschaftsabbruch und bei Verhütung ähnlich reaktionär und unbeweglich wie die Evangelikalen in den USA. Insofern ist es nicht überraschend, wenn immer mehr Frauen sich für immer von ihr verabschieden.
Schlussfolgerungen
Die detaillierten Statistiken der Stadt Wien zu einigen Aspekten der Religionsgesellschaften und den Austritten aus ihnen ermöglichen die genauere Analyse von Sachverhalten, die sonst nur mit sehr spärlichen, jährlichen Statistiken von den Kirchen untersucht werden können. So können einerseits während des Jahres monatsgenaue Prognosen errechnet werden, mit einer gewissen Sicherheit, dass der Jahresverlauf richtig eingeschätzt wird; andererseits sagt die Zusammensetzung der Austretenden nach Geschlecht oder Gender einiges übers soziale Umfeld aus, in dem diese Austritte passieren.