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Konfessionsfreie in Estland

Estland gehört - zusammen mit der Tschechischen Republik – zu den Staaten Europas mit den höchsten Anteilen an Konfessionsfreien, d. h. mit rund 60-70 Prozent ihrer Bürger, die bekunden, keiner Religionsgemeinschaft zugehörig zu sein. Sichtweisen, dass diese Konfessionsfreiheit für Estland die negative Folge ihrer 50 Jahre als Sowjetrepublik sei (1940-1991), lassen sich zweifach widerlegen.

1. Datenquellen
2. Konfessionsfreie in Estland und Europa, 2000 - 2021
3. Religionszugehörigkeiten in Estland nach Frauen/Männern und Altersgruppen, 2021
4. Religionszugehörigkeiten in Estland nach Altersgruppen, 2021
5. Religionszugehörigkeiten in Estland nach ethnischen Nationalitäten, 2021
6. Konfessionsfreiheit und Sowjetunion
7. Fazit

1. Datenquellen

Die Hauptdatenquelle sind die Ergebnisse der Volks- und Wohnungszählung (Zensus) von 2021. Zur Methodik schreibt das Amt für Statistik Estlands, dass fast die Hälfte der Bevölkerung befragt wurde, für die Religionsfragen erst ab dem 15. Lebensjahr.

„Die Volks- und Wohnungszählung von 2021 basierte in erster Linie auf Registern, aber Daten zu bestimmten selbst eingeschätzten Indikatoren wie Religion, gesprochene Dialekte und Gesundheitszustand wurden auch durch eine Stichprobenerhebung erhoben. Fast die Hälfte der estnischen Bevölkerung nahm an der Erhebung teil, und die Ergebnisse sind auf die gesamte Bevölkerung übertragbar.
Alle Personen ab 15 Jahren wurden nach ihrer Religionszugehörigkeit befragt. Die Beantwortung von Fragen zu den Überzeugungen der Befragten (einschließlich der Religion) war freiwillig. Die Befragten wurden zunächst gefragt, ob sie einer bestimmten Religion angehören. Wenn die Antwort „ja“ lautete, wurden sie aufgefordert, diese Religion zu nennen.“

Als Vergleich wurden noch die Ergebnisse der „European Values Study“ und der “Swiss Metadatabase of Religious Affiliation in Europe (SMRE)” für Estland ausgewertet.

2. Konfessionsfeie in Estland und Europa

In den Zensus-Daten für 2000, 2011 und 2021 zeigt sich, dass der Anteil der Konfessionsfreien steigt, während der Anteil der Zugehörigen zu einer Religionsgemeinschaft gleichgeblieben ist.

Der Anstieg der Konfessionsfreien 2011 ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass die Befragten, die 2000 keine Antwort auf die Frage nach ihrer Religionszugehörigkeit gegeben hatten, ab 2011 nicht mehr berücksichtigt wurden. (Vgl. Tabelle 1, im Anschluss des Textes). Fasst man nach dieser Logik die Konfessionsfreien und diejenigen, die keine Antwort gegeben haben, in einer Gruppe zusammen, ergeben sich gleichbleibend 71 Prozent Konfessionsfreie und 29 Prozent Religionszugehörige.

Diese Verteilungen entsprechen auch den Angaben in der „Swiss Metadatabase of Religious Affiliation in Europe (SMRE)”, die für Estland einen durchschnittlichen Wert (für die Jahre 2006-2015) von rund 70 Prozent (68,8 Prozent) zuschreibt. (Tabelle 2.1. und 2.2.)

Dem entsprechen auch die Werte in den European Value Studies von 1990 – 2017/2021 (Tabelle 2.3.)


3. Religionszugehörigkeiten in Estland nach Frauen/Männern, 2021

Der Anteil der Frauen in Estland beträgt 53 Prozent gegenüber 47 Prozent Männern. In den Religionszugehörigkeiten sind die Frauen (mit 60 Prozent) überrepräsentiert, während sie bei den Konfessionsfreien zwar leicht unterrepräsentiert aber gleichauf mit den Männern sind. (Tabelle 3)


4. Religionszugehörigkeiten in Estland nach Altersgruppen, 2021

Die Altersverteilungen zeigen, dass es einen ausgeprägten Anstieg der Altersgruppen bei den Religiösen gibt: Von den 65-und -älter-Jährigen sind 43 Prozent religiös, von den jungen Erwachsenen (15-29 Jahre) nur 14 Prozent. Entsprechend besteht eine Ausprägung: je jünger desto Konfessionsfreier. (Tabelle 4.1. und 4.2.)

„Der durchschnittliche Lutheraner ist 62 Jahre alt, wobei bis zu 50 Prozent der Lutheraner älter als 64 Jahre sind. Der durchschnittliche orthodoxe Christ ist 55 Jahre alt.“ (Statistics Estonia)

5. Religionszugehörigkeiten in Estland nach ethnischen Nationalitäten, 2021

Eine Auswertung nach den ethnischen Nationalitäten der Bevölkerung Estlands bezüglich ihrer Religion zeigt, dass die Esten selber den höchsten Anteil an Konfessionsfreien stellen. (Tabelle 5.1., 5.2.)

„Im Vergleich zu anderen großen ethnischen Gruppen, die in diesem Land leben, sind die Esten die am wenigsten religiös gebundene Ethnie – nur 17 % von ihnen geben an, einer Religion anzugehören, während sogar 71 % nicht gläubig sind. Zum Vergleich: Bei der letzten Volkszählung von 2011 gaben 19 % der ethnischen Esten an, einer Religion anzugehören. Der Anteil der Religionszugehörigen ist unter den Slawen höher – 65 % unter Weißrussen, 56 % unter Ukrainern und 54 % unter Russen. Zum Vergleich: 19 % der Esten und 51 % der Russen hatten 2011 eine Religionszugehörigkeit.
Die Orthodoxie ist die wichtigste Religion der Slawen in Estland: 50 % der Russen, 47 % der Ukrainer und 58 % der Weißrussen gehören ihr an. Das Luthertum ist die am weitesten verbreitete Religion unter den ethnischen Esten. 11 % von ihnen bekennen sich zum Luthertum, während 3 % orthodoxe Christen sind.“ (Statistics Estonia)

Diese Unterschiede werden in einer Darstellung von Wikipedia (englisch) für 2011 verdeutlicht.


6. Konfessionsfreiheit und Sowjetunion

Über die Entwicklung der Konfessionsfreiheit in Estland gibt es verschiedene Ansichten. Zumindest sind die Autoren auf evangelisch.de und des Gustav-Adolf-Werks sich darin einig, dass der Anteil der Nicht-Kirchlichen bei 72 Prozent bzw. 58 Prozent „Areligiöse“ besteht. Die christliche Religion des lutherischen Protestantismus sei den Esten durch die Oberschicht der „Deutsch-Balten“ aufgezwungen worden.

Die hohe Konfessionsfreiheit als Spätfolge der sowjetischen Herrschaft zu interpretieren (1940-1991 war Estland eine Sowjetrepublik innerhalb der UdSSR), wie es gelegentlich anklingt (Wikipedia) oder ausdrücklich so dargestellt wird (Deutschlandfunk), übersieht zum einen, dass in den beiden anderen der drei Baltischen Staaten andere Verhältnisse bestehen: In Lettland leben 76,4 Prozent organisierte Christen (rund die Hälfte davon sind evangelisch-lutherisch) und in Litauen sind 77 Prozent der Bevölkerung römisch-katholisch.

Zum anderen zeigt die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung in Estland und ihrer Religionszugehörigkeiten, dass die Esten selber den höchsten Anteil an Konfessionsfreien stellen. (Tabelle 5.3.)

Die ethnischen Russen, Ukrainer und Belarussen, die „Slawen“ – so das Statistikamt Estlands –, sind dagegen überwiegend religiös und orthodox. Insofern könnte man sagen, dass überwiegend die „Russen“ die Religiösen in Estland sind. Diese Gruppe stellt 27 Prozent der Bevölkerung in Estland,  aber 52 Prozent der Religiösen.

6. Fazit

Estland kann als Beispiel genannt werden, dass sich eine Bevölkerung gegen ihre Christianisierung zur Wehr gesetzt hat. Auch wenn aus evangelischer Perspektive ausgeführt wird, dass das Luthertum das Land geprägt habe, wird gleichzeitig anerkannt, dass es den Esten gewaltsam aufgezwungen wurde: (evangelisch.de)

„Der christliche Glaube wurde ihnen mit Gewalt aufgezwungen. Dies taten schon die ersten Christianisierer unter Bischof Adalbert von Bremen und die Ritter des Deutschen Ordens.
Sie kamen im 13. Jahrhundert und gründeten im Baltikum den Deutschenordensstaat. Nicht anders ging es nach der Reformation zu.“

Es wäre eine weitergehende Recherche, der Frage nachzugehen, inwiefern diese „Schwertmissionen“ zwar mit einer „Zwangschristianisierung“ formal „erfolgreich“ waren, die Betroffenen ggf. aber nicht überzeugten. Das Prinzip des: „Wer nicht glaubt, wird daran glauben müssen“ – das Motto bereits der Sachsenkriege Karls des Großen –, war auch für die spätere christliche Unterwerfung des Baltikums bestimmend. Als Element der kleinen Herrschaftselite hat es für die Mehrheit der einfachen Esten vermutlich keine Überzeugungskraft gewonnen. Insofern gibt es eine Ähnlichkeit mit dem inhaltlichen Bedeutungsverlust der protestantischen Kirche in Schweden. Das wäre zu klären.

Carsten Frerk.

- Tabellen

(Im Anhang befindet sich eine excel-Datei mit den auslesbaren Daten der Tabellen und Grafiken).