Sie sind hier

Konfessionsfreie im Iran

fowid-Notiz: Die offizielle Regierungsangabe zu den Religionszugehörigkeiten im Iran besagt, dass 99,4 Prozent der Iraner Muslime seien. Die niederländische GAMAAN Forschungsgruppe hat nun einen „Umfragebericht über die Einstellung der Iraner zur Religion“ publiziert. Die Umfrageergebnisse vermitteln ein differenziertes Bild zur Religion und den Alltagsgewohnheiten der Iraner, die im deutlichen Gegensatz zu den offiziellen Angaben stehen. Muslime sind demnach nur 37 Prozent der Iraner.

In der offiziellen Darstellung der Religionszugehörigkeiten im Iran durch die staatliche Statistikbehörde (zum Zensus 2006 und 2011) gibt es im Iran 99,4 Prozent Muslime.

Die staatliche Publikation steht unter dem Geleitwort: “IN THE NAME OF ALLAH, THE COMPASSIONATE, THE MERCIFUL. Verily, He has counted all creatures and He knows their exact number. Holy Quran Sura Maryam, Verse 94”. ( „IM NAMEN ALLAHS, DES MITFÜHLENDEN, DES BARMHERZIGEN. Wahrlich, Er hat alle Geschöpfe gezählt und Er kennt ihre genaue Zahl. Heiliger Koran Sure Maryam, Vers 94“.) Zu der Art der Frage nach der Religionszugehörigkeit werden keine Angaben gemacht.

Die niederländische GAMAAN Forschungsgruppe (GAMAAN – The Group for Analyzing and Measuring Attitudes in IRAN) hat einen „Umfragebericht über die Einstellung der Iraner zur Religion“ publiziert (der bisher – vollständig - nur in Farsi vorliegt). Federführende Wissenschaftler sind Ammar Maleki, Assistenzprofessor für Politikwissenschaft, Tilberg University und Pouyan Tamimi Arab, Assistenzprofessor für Religiöse Anthropologie, Universität Utrecht, Niederlande.

Diese Umfrage bringt Ergebnisse, die sich von den offiziellen Darstellungen deutlich unterscheiden.

Die Online-Umfrage „Einstellungen der Iraner zur Religion“ wurde in 15 Tagen im Juni 2020 durchgeführt. Mehr als 50.000 Befragte nahmen an dieser Umfrage teil und etwa 90 Prozent der Befragten stammten aus dem Iran. Die Ergebnisse dieses Berichts spiegeln die Ansichten von im Iran lebenden Lesern über 19 Jahren wider (entspricht 85 Prozent der Erwachsenen im Iran) und können mit einem Konfidenzniveau von 95 Prozent und einer Fehlerquote von 5 Prozent auf diese Bevölkerung übertragen werden.

In der Studie selber heißt es: Die Ergebnisse dieser Umfrage zeigen, dass 32 Prozent der Gesellschaft sich als „schiitische Muslime“ betrachten, 9 Prozent sich als Atheisten, 8 Prozent als Spiritualisten, 7,5 Prozent als Zoroastrianer, 7 Prozent als Agnostiker und 4,5 Prozent als sunnitische Muslime bezeichnen. Es gibt auch Tendenzen zur Mystik (Sufismus), Humanismus, Christentum und Bahá’í sowie andere Tendenzen in der iranischen Gesellschaft. Etwa 22 Prozent der Gesellschaft sehen sich keiner dieser Tendenzen nahe, sind konfessionsfrei.

Etwa die Hälfte der Bevölkerung gab an, von der Religiosität zum Leben ohne Religion übergegangen zu sein. Andererseits hat sich der Glaube von 41 Prozent der Menschen in der Gesellschaft an Religion oder Atheismus in ihrem Leben nicht wesentlich geändert. Außerdem haben sich etwa 6 Prozent der Bevölkerung von einer religiösen Ausrichtung zu einer anderen gewandelt.

60 Prozent der Bevölkerung geben an, nicht (mehr) zu beten. Im Gegensatz dazu gaben etwa 40 Prozent der Bevölkerung an, abwechselnd zu beten, und von dieser Menge gaben mehr als 27 Prozent der Bevölkerung an, fünfmal am Tag zu beten.

Die Ergebnisse der Umfrage zeigen, dass etwa 61 Prozent der Bevölkerung in den Familien in „theistischen und religiösen“ Familien und 32 Prozent der Gesellschaft in „theistischen, aber nicht religiösen“ Familien aufwachsen. Weniger als 3 Prozent der Bevölkerung sind in „atheistischen“ oder „antireligiösen“ Familien aufgewachsen.

Laut der Umfrage meinen 68 Prozent der Bevölkerung, dass religiöse Entscheidungen nicht die Norm in der Gesetzgebung sein sollten, selbst wenn religiöse Menschen eine Mehrheit im Parlament haben. Andererseits glauben etwa 15 Prozent der Gesellschaft, dass die Gesetze in jedem Fall den religiösen Regeln entsprechen sollten.

Laut der Umfrage glauben 71 Prozent der Bevölkerung, dass religiöse Institutionen sich selbst finanzieren sollten. Andererseits glauben 10 Prozent, dass religiöse Institutionen aller Religionen staatliche Hilfe erhalten sollten, und 3,5 Prozent der Gesellschaft glauben, dass nur islamische Institutionen von staatlicher Hilfe profitieren sollten.

57 Prozent der Bevölkerung sind dagegen, ihren Kindern in Schulen Religionsunterricht zu geben. Etwa 54 Prozent stimmen jedoch zu, dass ihre Kinder in der Schule über die Überzeugungen verschiedener Religionen unterrichtet werden sollten.

Mehr als 73 Prozent der Bevölkerung sind gegen den obligatorischen Hijab. Im Gegensatz dazu betonen etwa 12 Prozent der Gesellschaft die Notwendigkeit, Hijab (das Haar zu bedecken), in der Öffentlichkeit zu beachten. Andererseits glauben 58 Prozent der Gesellschaft überhaupt nicht an Hijab.

Ungefähr 37 Prozent der Iraner trinken trotz Einschränkungen regelmäßig oder gelegentlich Alkohol. Andererseits gaben 55 Prozent der Bevölkerung an, keinen Alkohol zu trinken. Ungefähr 8 Prozent der Bevölkerung konsumieren keinen Alkohol, da es unmöglich ist, ihn zu kaufen (mangelnder Zugang oder fehlendes Geld).

Bereits 2012 hatte die ZEIT über die Religions-Situation berichtet („Als Atheist im Gottesstaat“). Die politische und rechtliche Situation der Religionen ist offiziell eindeutig. Atheisten und nicht registrierte Religionen werden nicht anerkannt und für Apostasie droht die Todesstrafe.

„Anders als die registrierten religiösen Minderheiten des Landes – Juden, Christen und Zoroastrier – werden Atheisten und Anhänger anderer Religionen wie die Bahai von der Islamischen Republik nicht anerkannt. Wer als Muslim erfasst ist und sich vom Glauben abwendet, dem droht nach dem in Iran geltenden Scharia-Recht die Todesstrafe wegen Apostasie, des Abfalls vom Islam.“

Als Atheist müsse man ein Doppelleben führen, berichtet ein junger Student und Atheist, der eine Facebook-Gruppe „Iranische Atheisten und Agnostiker“ gegründet hat, die 2012 bereits 27.000 „Gefällt mir“ Angaben hatte, aktuell (06. September 2020) gefällt es 193.849 Personen.

„Seine Beobachtung ist, dass sich die iranische Gesellschaft allmählich säkularisiert. ‚Wir befinden uns in einer Zeit, die man mit Europa während der Renaissance vergleichen kann‘, sagt Mantegh. Zwar hätten viele Iraner noch immer einen moderaten, von persisch-islamischer Folklore geprägten Glauben. Aber das klerikale Regime habe mit seinen strikten Verhaltensregeln bei vielen Menschen das Gegenteil einer tieffrommen Gesinnung erreicht, nämlich Ungläubigkeit.“

Diese Sichtweise wird auch von einem Iranistik-Wissenschaftler an der Universität Göttingen bestätigt, für den es nicht überraschend ist, dass viele nun gar nicht an Gott glauben.

„Auch Philip G. Kreyenbroek, Professor für Iranistik an der Universität Göttingen, meint, die vom Staat propagierte Version des Islam habe die meisten Iraner der Religion entfremdet . ‚Bis zur Revolution wussten wenige etwas von den Inhalten des Islams‘, sagt er. Das Ajatollah-Regime definierte, wie er verstanden werden sollte. Doch schon als der Islam während des Iran-Irak-Kriegs in den achtziger Jahren als eine Religion des Opferns und des Leidens präsentiert wurde, und immer rigidere Verhaltensregeln wie der Kopftuchzwang für Frauen eingeführt wurden, hätten die ersten Iraner sich von ihm distanziert, sagt Kreyenbroek. ‚Manche Menschen suchten ihren spirituellen Ausweg im Zoroastrismus und im Buddhismus. Dass viele nun gar nicht mehr an Gott glauben und sich als Atheisten bekennen, ist zwar neu, aber nicht überraschend.‘“

Und der junge Student und seine atheistischen Kommilitonen haben einen bitteren Spruch entwickelt.

„Oft trifft Ebrahimi sich mit anderen atheistischen Kommilitonen seiner Universität, um zu diskutieren – über Wissenschaft, Religion und Politik. ‚Wir haben einen Spruch: Wenn du dem Islam beitrittst, schneiden sie dir die Vorhaut ab. Wenn du ihn wieder verlassen willst, schneiden sie dir den Kopf ab.‘ Ebrahimi sagt es im Scherz. In Iran bleibt es ernst.“

(CF)