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Konfessionsfreie in Ungarn

Die „Verteidiger des christlichen Abendlandes“ in Ungarn haben auch das Problem, dass die Zahl der Christen im Land immer geringer wird - 2011 noch bei 54,2 Prozent -, aktuell vermutlich unter 50 Prozent. Es liegt vor allem im Rückgang des Anteils der römischen Katholiken, der von 1992 auf 2011 um 30 Prozentpunkte (von 67,8 auf 37,1 Prozent) zurückging und einem entsprechenden Anstieg der Konfessionsfreien auf 45,1 Prozent.

Von Carsten Frerk.

In der offiziellen Religionsstatistik des Zentralen Statistikamtes Ungarns (auf englisch) sind die Ergebnisse der Volkszählungen von 1920, 1930, 1941, 1949 sowie 1992, 1998, 2001 und 2011 dargestellt. 1960, 1970 und 1980 hat es zwar auch Volkszählungen gegeben, in denen jedoch – nach Auskunft des Zentralen Statistikamts von Ungarn - nicht nach der Religionszugehörigkeit gefragt worden war.

Insofern sind drei Phasen zu unterscheiden. Zum einen die Jahre 1920 bis 1949, die christlich monopolisiert sind. Allerdings ist zu konstatieren, dass die römisch-katholische Kirche - mit rund zwei Dritteln - zwar die größte der Religionsgemeinschaften ist, aber die reformierten Calvinisten - mit gut einem Fünftel – ebenfalls keine unbedeutende Rolle spielen. Zum zweiten liegen für die „sozialistischen Jahre“ (1950 – 1990) keinerlei empirische Daten vor – wobei sich jedoch zum Beginn der dritten Phase (1992) die Anteile ähnlich wie 1949 darstellen, allerdings mit dem Unterschied, dass es nun 7 Prozent sind (oder 726.000 Personen), für die eine Religionszugehörigkeit nicht festgestellt wurde.

Für diese dritte, noch aktuelle Phase, gibt dann eindeutige Tendenzen, aber auch Unklarheiten. Eindeutig erscheint, dass die christlichen Denominationen – dabei vor allem die römischen Katholiken – absolut und in ihren Anteilen verlieren. Von 1992 bis 1996 verdreifacht sich die Anzahl der Ungarn, für die in den Volkszählungen keine Religionszugehörigkeit festgestellt wurde (von 726.000 auf 2,1 Mio.). 2001 wird eine differenzierende „Keine Religion“-Kategorie eingeführt und die vormals Nicht-Religiösen teilen sich in etwa hälftig. 2011 wird eine weitere Kategorie angeboten („Atheist“), die aber nicht stark belegt ist (147.000 oder 1,5 Prozent). Und ebenfalls in 2011 hat sich der Anteil der Katholiken stark verringert (von 51,9 auf 37,1 Prozent), ebenso wie die Reformierten (von 15,9 auf 11,6 Prozent). Gleichzeitig wurde die Fragestellung verändert, der Anteil der „nicht festgestellten Religion/keine Angabe“ stiegt erheblich an (von 10,8 auf 27,2 Prozent).

Zur Fragestellung schreibt Secularhungary: „Absicht dabei ist, religiöse Menschen / Gläubige ohne Zugehörigkeit in die Rubrik ‚keine Verbindung‘ zu setzen und die Atheisten getrennt zu zählen. Doch streng genommen ist ‚Atheist‘ nicht die richtige Antwort auf die gestellte Frage, besonders wenn man bedenkt, dass es keine Atheistengemeinschaft im Land gibt.(‚Agnostiker‘ war keine mögliche Antwort). Die genaue Frage lautete: ‚Was für einer Religionsgemeinschaft, Konfession fühlen Sie sich zugehörig?‘ (‚Melyik vallási közösséghez, felekezethez Erzi tartozónak Magat?‘), das heißt, die Daten beziehen sich auf die konfessionelle Zugehörigkeit zu Gemeinschaften, nicht aber auf den Glauben selber. Die ‚sprachlich natürliche‘ Antwort für Atheisten, Agnostiker, Nicht-Gläubige und Nicht-konfessionell-Gläubige ist ‚keine Verbindung‘.“

Konfessionsfreie?

Ist es sinnvoll, die drei Kategorien der „Nicht-Religiösen“ („Keine Religion“, Atheisten“ und „Religion nicht festgestellt/keine Angabe“) zu einer Kategorie der Konfessionsfreien zusammenzufassen?

Dafür sprechen zwei Untersuchungen. Die eine ist von Miklós Tomka: Religiöser Wandel in Ungarn, der (im Zusammenhang mit der katholischen Kirche) Umfragen in Ungarn realisiert hat, in denen er die Kategorie „Konfessionslose“ verwendet.

Die weltanschauliche Selbsteinstufung unterscheidet die Christen deutlich von den Konfessionslosen.

Die andere Bewertung stammt von dem Religionssoziologen Antonius Liedhegener und seiner Arbeitsgruppe im „Swiss Metadatabase of Religious Affiliation in Europe“ (SMRE), der für Ungarn eine Dreiteilung mit „Christen / andere Religionen / keine Religionszugehörigkeit“ vornimmt, wobei in der dritten Gruppe (45,3 Prozent) die drei angesprochenen Kategorien zusammengefasst werden.

In einer Übersichtskarte zur jeweils größten religiös/weltanschaulichen Gruppe des Landes werden zudem die „Nicht-Verbundenen“ für Ungarn als größte Gruppe angesehen (vor den Katholiken und den Protestanten).

Relativiert wird diese Zusammenfassung durch eine andere Beobachtung: Bei den Zahlenangaben zur jüdischen Bevölkerung bestehen in den Volkszählungen anscheinend Unstimmigkeiten. In der Übersicht des Zentralen Statistikbüros wurden 1920 und 1930 jeweils 473.000 bzw. 445.000 Juden gezählt. Nach anderen Quellen waren es (1914) rund eine Million. Ebenso wird in der Volkszählung 2001 eine Zahl von 12.800 jüdischen Bürgern angegeben, nach der Zählung des „AMERICAN JEWISH YEAR BOOK, 2005“ sind es (Seite 108) rund 49.900. Das könnte als Hinweis darauf verstanden werden, dass es einen offenen und latenten Antisemitismus in Ungarn gibt, dem sich Juden zu entziehen versuchen, indem sie bei Volkszählungen ihre Religionszugehörigkeit nicht nennen. Nicht nur die Jobbik-Partei ist offen antisemitisch, auch das gesellschaftliche Gesamtklima schaffe kein Vertrauen. Andererseits ist nicht auszuschließen, dass die Säkularisierung unter jüdischen Ungarn, ihren Teil dazu beiträgt, sich religiös nicht mehr als Jude zu verstehen.

Auch wenn es auch weitere Relativierungen gibt, ist die Gesamttendenz aber als richtig anzusehen. So schreibt der bereits erwähnte Katholik Miklós Tomka: „Die Träume über die Wiederherstellung einer Vorkriegsordnung mussten verabschiedet werden. Ungarn ist weltanschaulich gespalten. Maßgeblich ist hierbei eine Drittelung. Ein Drittel der Gesellschaft besucht gelegentlich Gottesdienste, schickt ihre Kinder zum Religionsunterricht und zahlt einen Kirchenbeitrag. Am anderen Ende der Skala wird jedes dritte Kind nicht getauft, ein Drittel der Gesellschaft hat jede Beziehung zu einer institutionalisierten Religion, und vielleicht auch das Interesse daran, verloren. Die Menschen im mittleren Drittel zählen sich zu irgendeiner Konfession, bezeichnen sich (und verstehen sich vielleicht) sogar als religiös, ohne aber im Alltag daraus irgendwelche Konsequenzen zu ziehen. Religion ist für sie ein belangloses Konzept geworden, was sie zwar akzeptieren, doch ohne sich weiter darum zu kümmern.“ (S. 309)

Der gleichen Meinung ist secularhungary: „Im Jahr 2004 führte eine Forschungseinrichtung, Median, eine Untersuchung zur Frage der Religion durch. Wie sich herausstellte, folgen 90 % der Bevölkerung nicht den Lehren einer bestimmten Kirche. 13 % sind mit einer der größeren christlichen Kirchen verbunden, und mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist auf ihre eigene Weise religiös, fühlt sich aber keiner bestimmten Konfession nahe. 25 % halten sich in keiner Weise für religiös. Die Religionszugehörigkeit war nicht mit politischen Präferenzen verbunden.“

Altersgruppen

Worauf beruht der starke Anstieg der Konfessionsfreien in 2001 und 2011? Ein Hinweis findet sich im Veränderungen im Altersaufbau der jeweiligen Gruppen.

Wie stark sich die Anteile der Weltanschauungen innerhalb der Altersgruppen verändert haben, zeigt u. a. die Tabelle 2.3.: In der Abfolge der Volkszählungen 1920-1930-1941-2001-2011 haben die römischen Katholiken bei den Nachwachsenden 0-14-jährigen in dieser Altersgruppe Anteile von 66-67-67-45-31, innerhalb der 16-39-Jährigen Anteile von 65-65-67-48-32. Die Anteile unter den Jüngeren halbieren sich.

Die Konfessionsfreien (hier: „Sonstige“) zeigen die gegensätzlichen Anteile: Bei den 0-14-Jährigen sind es die Anteile 0-0-0-36-56, bei den 15-39-Jährigen: 0-0-0-33-55.

In der Auswertung für die Volkszählung 2011 zeigen sich die Altersunterschiede entsprechend. Hinsichtlich der Ausbildung gibt es keine signifikanten Unterschiede. Allerdings haben die Katholiken einen höheren Anteil bei den Grundschülern, die Atheisten bei den Akademikern.

Im European Social Survey (ESS, 2014-2016) wird nicht nach der formalen Kirchenmitgliedschaft gefragt, sondern: „Betrachten Sie sich als einer Religions- oder Glaubensgemeinschaft zugehörig?“ Wer mit „Ja“ antwortete, bekam eine Liste mit möglichen Optionen vorgelegt. Diese Fragestellung ist genauer und geeigneter, wenn man sich für die tatsächlich gelebte Religion interessiert. Die jungen Erwachsenen, die in den 20 beteiligten Ländern die Frage der Zugehörigkeit zu einer Religions- oder Glaubensgemeinschaft mit „Nein“ bzw. „Keine“ beantworteten, stellen in 12 der 20 Länder die Mehrheit. In der Auswertung: “Europe’s Young Adults and Religion” sagen 67 Prozent der jungen Erwachsenen (16 – 29 Jahre) in Ungarn, dass sie keiner Glaubensgemeinschaft angehören.


Frauen / Männer

Die Unterschiede bei den Konfessionsfreien zwischen den Anteilen von Männern sowie Frauen sind leicht eher männlich bestimmt (48 zu 43 für beide Nicht-Religion-Kategorien), aber nicht so ausgeprägt, dass es wesentlich wäre.


Regionale Verteilungen

Die regionalen Verteilungen zeigen die Unterschiede zwischen den Weltanschauungen. Aufgrund der Daten aus dem Zensus 2011 haben die Anteile der römischen Katholiken - bei einem Gesamtanteil von 51 Prozent -, eine Spannweite von 82 – 13 Prozent. Die „Nicht-Religiösen“ (ohne die Antwortverweigerer) haben - bei einem Gesamtanteil von 23 Prozent – eine Spannweite von 7 – 42 Prozent.

Die fünf höchsten Anteile haben die „Nicht-Religiösen“ im Verwaltungsbezirk Csongrád sowie der Hauptstadt Budapest (jeweils 30 Prozent), in den Bezirken Hajdú-Bihar (36), Jász-Nagykun-Szolnok (38 Prozent) und Békés (42 Prozent). Die „Atheisten“ haben ihren höchsten Anteil (5 Prozent) in Budapest.

Eine Karte der regionalen Gliederung zeigt, dass – abgesehen von Budapest – die vier Bezirke mit den höchsten Anteilen alle im Südosten liegen.

Die Übersicht zu den jeweiligen dominierenden Religionszugehörigkeiten zeigt drei Schwerpunkte: die römischen Katholiken im Westen und Norden, die Calvinisten im Nordosten und die Nicht-Religiösen im Süd-Osten.

Die Darstellung der Anteile der „Nicht-Religiösen“ verdeutlicht noch einmal den Schwerpunkt der Nicht-Religiösen im Süd-Osten Ungarns.

Ein Hinweis, wie diese Schwerpunkte sich historisch herausgebildet haben, zeigt die Karte der Grenzziehungen für das heutige Ungarn im Vertrag von Trianon (4. Juni 1920): In der Auflösung der K.u.K. Monarchie werden 2/3 des historischen Königreichs Österreich-Ungarn anderen Staaten zugeordnet.

Der Norden (Slowakei) und der Westen (Österreich) war und ist römisch-katholisch, die Regionen mit Schwerpunkten der Calvinisten und der Nicht-Religiösen waren vor 1920 Teile des damaligen Siebenbürgens, das multi-konfessionell war, u. a. mit den evangelischen Siebenbürger Sachsen und den religiös heterogenen „Donauschwaben“.

Diese Hinweise können jedoch im Rahmen dieser Ausarbeitung nicht weiter vertieft werden.

Städte-Dörfer

In Ungarn leben 69 Prozent der Bürger in Städten und 31 Prozent in Dörfern. Für die traditionellen Religionsgemeinschaften (Katholiken, Orthodoxe, Reformierte und Lutheraner) gilt, dass etwas mehr von ihnen in den Dörfern wohnen. Die Konfessionsfreien hingegen leben eher in den Städten als in den Dörfern: „Keine Religion“ = 79 : 21, „Atheisten“ = 86 : 14 und „Keine Antwort“ = 76 : 24.

Auffallend ist, dass – ebenso wie bei den Atheisten - von den jüdischen Ungarn die allermeisten (93 Prozent) in Städten leben, und allein in Budapest 72 Prozent.

Diese Schwerpunkte – Religiöse mehr in den Gebieten mit weniger Einwohnern, Konfessionsfreie mehr in den Gebieten mit mehr Einwohnern – zeigt sich sowohl bei den Größenordnungen der Städte (Tabelle 5.2.) wie bei den Größenordnungen der Dörfer (Tabelle 5.3.)

Die Konfessionsfreien zusammen (also alle drei Gruppen) sind in den Städten über 20.000 Einwohnern die Mehrheit (zwischen 51 bis 53 Prozent), insbesondere in Budapest (57 Prozent).

In den Dörfern sind es ebenfalls wieder diejenigen mit mehr Einwohnern in denen überdurchschnittlich viele Konfessionsfreie leben. Schwellenwert sind 2.000 Einwohner und mehr. In den größten ‚Dörfern‘ (mit mehr als 10.000 Einwohnern) sind 52 Prozent konfessionsfrei, in den kleinesten (mit weniger als 199 Einwohnern) sind 24 Prozent konfessionsfrei.

Religiöse Homogenität

Einer der Indikatoren für die religiöse Homogenität von Weltanschauungen ist die Ehepartnerwahl. Dabei zeigen sich vier Gruppen:

1. Die römischen Katholiken: 76 Prozent der römisch-katholischen Frauen heiraten einen römisch-katholischen Mann und 80 Prozent der römischen-katholischen Männer wählen eine römisch-katholische Frau.

2. Die kleineren christlichen Religionsgemeinschaften, bei den die religiöse Homogenität der Ehepartner zwischen 40 – 56 Prozent beträgt.

3. Die Juden und anders Religiöse, die eine höhere religiöse Homogenität zeigen. Während jedoch mehr jüdische Frauen (60 Prozent) einen jüdischen Ehemann, als jüdische Männer mit jüdischen Ehefrauen (43 Prozent), ist es bei den anderen Religionen umgekehrt, da weniger Frauen (68 Prozent) einen entsprechenden Mann heiraten, aber mehr Männer (74 Prozent) eine entsprechende Frau.

4. Die Konfessionsfreien. Die Wünsche nach einer weltanschaulichen Homogenität mit dem Ehepartner ist bei den Konfessionsfreien sehr ausgeprägt. In beiden Gruppen („Keine Religionszugehörigkeit“ sowie „Möchte nicht antworten“) sind es mehr Frauen (78 bzw. 85 Prozent), die einen konfessionsfreien Mann heiraten, während es für die Männer weniger wichtig ist (69 bzw. 81 Prozent) eine konfessionsfreie Frau zu heiraten.

Die hohen Werte der religiös-weltanschaulichen Homogenität bei den beiden größten Gruppen – den römischen Katholiken sowie den Konfessionsfreien – kann als Hinweis darauf betrachtet werden, dass es auch einer hinreichend großen Auswahlmöglichkeit bedarf, um einen passenden Ehepartner gleicher Religion/Weltanschauung zu finden.

Wie ausgeprägt diese Trennlinien verlaufen, zeigt sich in den Anteilen der Christinnen und Christen untereinander aber den geringen Anteilen der Ehen zwischen Christen und Konfessionsfreien.