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Nichteheliche Geburten in Europa und Deutschland: 1856-2021

Innerhalb von Europa beträgt der Anteil der nichtehelichen Geburten 2021 rund 42 Prozent aller Geburten. Die Spannweite ist dabei erheblich: zwischen 62 Prozent in Frankreich und 14 Prozent in Griechenland. Am Rande der EU sind es 71 Prozent in Island und 3 Prozent in der Türkei. Nach einer Phase des Anstiegs (1990-2000) verharren die meisten Länder seit 2010 auf dem jeweils erreichten Anteilsniveau.

Vorbemerkung
1. Europa
    1.1. Daten (1960 – 2021)
    1.2. Mögliche Einflussfaktoren
2. Deutschland
    2.1. Historisches (1856 – 1990)   
    2.2 Regionen / Gemeindegrößenklassen
    2.3. Daten (seit 1946)
    2.4. Situation 2020

Vorbemerkung

Die Begrifflichkeit der „nichtehelichen“ Kinder gilt als veraltet. Dazu schreibt das Statistische Bundesamt, dass es den Begriff „nichtehelich“ seit 1998 nicht mehr verwendet und seitdem „Kinder nicht miteinander verheirateter Eltern“ gesetzeskonform sei.

„Bis zum 30. Juni 1998 wurde nach ehelich und nichtehelich Geborenen unterschieden. Die Bezeichnung ‚nichtehelich‘ wurde aufgrund des Gesetzes über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder vom 19. August 1969 anstelle der früheren Bezeichnung ‚unehelich‘ eingeführt. Ein Kind, das nach Eingehen der Ehe oder bis zu 302 Tagen nach Auflösung der Ehe geboren wurde, galt unbeschadet der Möglichkeit einer späteren Anfechtung der Ehelichkeit als ehelich. Mit dem Kindschaftsrechtsreformgesetz vom 16. Dezember 1997, das zum 1. Juli 1998 in Kraft trat, kam es zu einer neuen Regelung.
Die Begriffe ‚eheliches Kind‘ bzw. „nichteheliches Kind“ wurden aus der Gesetzessprache entfernt. Als Kind miteinander verheirateter Eltern gilt seitdem ein Kind von Eltern, die zum Zeitpunkt der Geburt miteinander verheiratet sind oder das bis 300 Tage nach Auflösung der Ehe durch den Tod des Ehepartners geboren wird. Wird ein Kind nach Auflösung der Ehe durch Scheidung geboren, so gilt es jetzt – unabhängig vom Abstand zwischen Scheidung und Geburt – als Kind nicht miteinander verheirateter Eltern. In den Tabellen werden die bis zum 30. Juni 1998 geltenden Begriffe weiter verwendet. Somit steht ‚ehelich‘ auch für ‚Kinder miteinander verheirateter Eltern‘ und ‚nichtehelich‘ auch für ‚Kinder nicht miteinander verheirateter Eltern‘.“

Dass zur Zeugung eines Kindes zwei Menschen gehören („Eltern“) dürfte unstrittig sein, die Fixierung auf den „Heirats-Status“ erscheint aber mittlerweile realitätsfern. Deshalb wird der Begriff „nichtehelich“ beibehalten, da er schlicht nur das besagt, was er besagt, dass die Mutter nicht traditionell gebunden ist. In welcher Form sie lebt – alleine, mit Freundinnen und Freunden, mit dem Vater des Kindes oder nicht, u.a.m. – wird durch keine der Kategorisierungen erfasst.

Die rechtliche Gleichstellung der ehelich wie nichtehelichen Kinder erfolgte in der (früheren) Bundesrepublik im Juli 1970 durch das Nichtehelichengesetz (NEhelG). In der DDR wurde 1965 diese Gleichstellung im Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik festgelegt. Auch kirchliche Weihen konnten solche Kinder nicht empfangen. In der römisch-katholischen Kirche galt die uneheliche Geburt bis 1983 als Weihehindernis für die Priesterweihe. 1998 wird in Deutschland dann durch das Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts die Unterscheidung zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern aufgehoben.

In dieser Hinsicht stellt sich die Frage, warum in den Statistiken der Geburten in Deutschland immer noch nach dem formalen Familienstatus der Mutter – verheiratet / nicht verheiratet – gefragt wird. Welche – unausgesprochenen – Annahmen liegen dem zugrunde?

1. Europa

1.1. Daten 1960 - 2021

In Fortschreibung der fowid-Ausarbeitung der nichtehelichen Geburten in Europa bis 2015 zeigen die Eurostat-Daten bis 2021 ein weiter zu untersuchendes Phänomen: die Anteile der nicht-ehelichen Geburten haben seit dem steilen Anstieg in den 1990er- bis 2000er-Jahren danach anscheinend eine ‚Anteilsgrenze‘ erreicht, die zwar national unterschiedlich hoch ist, sich aber in den letzten Jahren nur noch wenig verändert haben.

Bereits in den 1970/1980er Jahren steigen die Anteile der nichtehelichen Geburten in Schweden und Dänemark, auffallend ist der Rückgang der Anteile in Ungarn seit 2019.

1990 hat dieser Trend die meisten Staaten in Europa erfasst und bis 2010 steigen die Anteile in unterschiedlicher Höhe. Seitdem bleiben die Anteile weitgehend auf dem jeweiligen nationalen Niveau. Eine Sortierung (Bezugsjahr 2016) nach Höhe der Anteile gibt nur wenig Hinweise auf ein religiöses Umfeld, wobei jede eindimensionale Sichtweise unangebracht ist. Es ist eher ein Hinweis auf die geringeren Anteile, da Griechenland, Zypern, Kroatien und Polen – alle vier katholisch bzw. orthodox – die geringsten Anteile haben. Gemeinsamkeiten in religiöser Hinsicht erschließen sich für die Länder mit den höchsten Anteilen nicht: Frankreich, Bulgarien, Slowenien, Portugal, Schweden und Dänemark.

In einer Übersichtskarte Europas (für 2010) von Tim Leibert (Leibniz-Institut für Länderkunde) in „Nichteheliche Geburten in Europa“ werden diese Unterschiede deutlich.

In neun der 27 EU-Staaten sind mehr als die Hälfte der Geburten nichtehelich, sowie in Island und Norwegen. Die Verteilungen lassen allerdings kein ‚Muster‘ erkennen.

2.2. Mögliche Einflussfaktoren

Die Daten sind jeweils ‚Momentaufnahmen‘ eines Jahres, die nur zählen, wie viele der Mütter in diesem Jahr zur Geburt den Status haben, „nicht mit dem Kindesvater verheiratet“ zu sein. Weitere Faktoren sind nicht systematisch erfasst, sei es über die Beweggründe der Frauen, seien es die Lebenssituationen oder auch, dass ein Teil von ihnen später durchaus noch heiratet.

Berufstätigkeit von Frauen / Familienpolitik

2017 hat Sebastian Klüsener vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in einer Untersuchung „Wer geht noch vor den Traualtar?“ in einem internationalen Datenabgleich für 16 Länder den Anteil der nicht-ehelichen Geburten, die Religiosität, die ökonomische Autonomie der Frauen und die Arbeitslosigkeitsrate ermittelt. Wesentlich sei die ökonomische Autonomie der Frauen, die von einer Abkehr von religiösen Normen einer Eheschließung begleitet wird.

Zu den Ergebnissen heißt es, dass es nicht nur eine Erklärung gibt, sondern ökonomische, staatliche Maßnahmen und kulturell-religiöse Faktoren ineinandergreifen.

„Bisherige Studien zum Anstieg nichtehelicher Geburten kommen im Wesentlichen zu zwei Erklärungen, die sich auf den ersten Blick widersprechen. Einige Wissenschaftler halten den Anstieg für eine fortschrittliche Entwicklung, die etwa durch die zunehmende wirtschaftliche Selbstständigkeit von Frauen und eine stärkere Individualisierung getragen wird. Ist eine Frau von ihrem Partner wirtschaftlich abhängig, bietet die Ehe eine finanzielle Absicherung, wenn es zu einer Trennung kommt oder der Partner stirbt. Solche ökonomischen Aspekte der Eheschließung verlieren aber an Bedeutung, wenn beide Partner voll erwerbstätig sind und es staatliche Unterstützungsleistungen für Einzelpersonen gibt, die in Notsituationen geraten sind. Parallel dazu wenden sich viele Menschen von traditionellen und religiösen Normen ab, denen zufolge Geburten in der Ehe erfolgen sollten.“

Schweden steht mit Beginn der 1970er Jahre „als Sinnbild für moderne Familien- und Gleichstellungspolitik“ u. a. mit Einführung des „Doppelversorgermodells“. Vor allem Ungarn hat in den Jahren seit 2019 einen starken Rückgang in den Anteilen nichtehelicher Geburten, von 43,9 auf 26,7 Prozent. Darin drückt sich auch die Familienpolitik von Präsident Orban seit 2019 aus: Familienstandsdarlehen für verheiratete Frauen.

„Eine neue Familienpolitik soll für reichlich Nachwuchs ‚made in Hungary‘ sorgen. Jede Ungarin bis zum Alter von 40 Jahren erhält bei ihrer ersten Heirat eine staatliche Aussteuer in Form eines Kredits über zehn Millionen Forint (etwa 31.000 Euro) zur freien Verfügung. Das ist in Ungarn ziemlich viel Geld und entspricht mehr als dem Dreifachen eines durchschnittlichen Nettojahresgehalts. Bei Geburt des ersten Kindes kann die Rückzahlung drei Jahre lang ausgesetzt werden, beim zweiten Kind wird ein Drittel der Kreditsumme und beim dritten Kind der gesamte Kredit erlassen.“

Ob die Berufstätigkeit von Müttern eine Rolle spielt, zeigt der Vergleich der Erwerbstätigkeitsquote in Ländern Europas, („Kinderlosigkeit, Geburten und Familien – Ergebnisse des Mikrozensus 2016“),  die beinahe parallel mit dem Anteil der nichtehelichen Geburten verläuft: Mit Schweden und Dänemark an der Spitze und Italien und Griechenland am Schluss.

Allerdings weist schon der überdurchschnittliche Anteil für Deutschland – in dem es einen deutlich unterdurchschnittlichen Anteil von nichtehelichen Geburten gibt -, darauf hin, dass ein Zusammenhang nur mit „Erwerbstätigkeit“, ohne weitere Unterteilung in Vollzeit bzw. Teilzeit, und vor allem Kinderbetreuung wenig aussagt.

Was Island – mit 80 Prozent Erwerbstätigkeit von Müttern und mit 71 Prozent dem höchsten Anteil von nichtehelichen Geburten in Europa – von anderen Ländern unterscheidet, zeigt ein Bericht über die besondere Mentalität der IsländerInnen.

Religiosität / Religionszugehörigkeiten

Die Abwendung von religiös konnotierten Normen der Eheschließung bei Schwangerschaft lässt sich individuell nicht prüfen, aber für die Stadt Köln liegen sowohl die Daten der nichtehelichen Geburten wie die der Religionszugehörigkeiten 2000 bis 2021 vor (Statistisches Jahrbuch Köln, 2021).

Augenscheinlich steigt der Anteil nichtehelicher Geburten, während der Anteil der Kirchenmitglieder sich verringert. Diese Korrelation von mehr/weniger beschreibt jedoch keine Ursache-Wirkung-Beziehung, in der Art, dass eine Verringerung der Kirchenbindung einen Anstieg der nichtehelichen Geburten bewirken würde.

In einer Analyse der Konfession der Mütter mit nichtehelichen Geburten (1955-2010) hat sich zudem gezeigt, dass der Anteil beider Konfessionen vergleichbar groß ist. Der Anteil evangelischer Mütter, der etwas höher ist, entspricht dem höheren Anteil der Evangelischen in der Bevölkerung. Die Annahme, dass katholische Frauen – aufgrund rigiderer Normen – einen deutlich geringeren Anteil hätten, bestätigte sich nicht. Mit anderen Worten: Dass Religion/Religiosität für die Nichtehelichkeitsquote eine Rolle spielt, darauf gibt es verschiedene Hinweise. Die Frage bleibt aber: Welche?

2. Deutschland

2.1. Historisches (1871 – 1990)

Aufgrund der Zeitreihe der Anteile nichtehelicher Geburten seit 1871 lassen sich zwei Aspekte feststellen: Zum einen gab es schon immer nichteheliche Geburten (im Kaiserreich bis 1914 gleichbleibend rund 9 Prozent), zum anderen war dadurch stets eine ‚Gefährdung‘ des paternalistischen Ideals von Ehe und „heil(ig)er Familie“ gegeben.

Historisch gab es „Die Schande der unehelichen Geburt“, die mit sehr konkreten Benachteiligungen verbunden waren. Die Zielsetzung hatte allerdings auch standespolitische Gründe.

„Unehelich Geborene und Findelkinder waren bis ins 19. Jahrhundert von vielen Handwerksberufen ausgeschlossen. Um als Lehrling angenommen zu werden, musste die eheliche Geburt durch entsprechende Urkunden oder Zeugnisse nachgewiesen werden. Selbst wenn die Eltern später noch heirateten, musste oft die Obrigkeit angerufen werden, damit ein Lehrling von der Zunft angenommen wurde.
Uneheliche Kinder waren allgemein mit einem unsichtbaren Makel behaftet. Doch hatte die Weigerung des Handwerks auch standespolitische Gründe: ‚Zugleich aber suchte sich das Handwerk dadurch von den Unehelichen frei zu halten, die aus höheren Ständen stammten, um diesen gegenüber seine Stellung zu wahren und um nicht als Tummelplatz für deren außerheliche Kinder zu gelten…“

Der Bayerische Rundfunk hat dazu (2019) eine Artikel-Serie „Ungewollt schwanger um 1700“ publiziert. Ebenso analysiert Sybille Buske in: „Fräulein Mutter und ihr Bastard. Eine Geschichte der Unehelichkeit in Deutschland 1900 – 1970“, die normativen Grundlagen der Diskriminierung von nichtehelichen Geburten und ihrer Stigmatisierung als Ausdruck von „Unsittlichkeit“.

„Sie wurden als ‚Bastard‘, ‚Bankert‘ oder ‚Hurenkind‘ beschimpft: Uneheliche Kinder. Sie und ihre Mütter waren in der deutschen Gesellschaft über einen langen Zeitraum hinweg geächtet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Unehelichkeit vornehmlich mit Armut, Kriminalität und Verwahrlosung in Verbindung gebracht. Uneheliche Kinder erschienen als eine sittliche Gefährdung der bürgerlichen Familie, ja sogar als existentielle Bedrohung der Gesellschaft.“

Und zusammengefasst in „Mütter ohne Trauschein“ von Wolfgang Walla:

„Es ist erst wenige Jahrzehnte zurück, als unverheiratete Frauen, die sich ihren Kinderwunsch erfüllten oder ungewollt Kinder bekamen, einen schweren Stand in der Gesellschaft hatten.
Waren die Mütter jung und ledig, hielt man sie für Flittchen oder Dummchen, war der Ehemann verstorben für lustige oder listige Witwen und war die Frau geschieden, dann kam zu einem Makel ein zweiter. Nichteheliche waren „Kinder der Liebe“ oder „Kinder der Sünde“, „Bälger“ oder „Bankerte“. Seit Ende des 19. Jahrhunderts bedürfen Uneheliche einer „Amtspflegschaft“ und in amtlichen Dokumenten liest man „Vater unbekannt“, auch wenn der Vater bekannt war.
Das war nicht immer so. Feudalherren zeugten viele ihrer Kinder mit Nebenfrauen, Maitressen oder Bediensteten. Erkannten sie ihre Söhne als die ihren an, wurden sie Bastarde genannt. […]
Eines war in der bürgerlichen Welt wilhelminischer Prägung besonders verpönt, der „Fehltritt mit Folgen“. Insofern bilden die statistischen Nichtehelichenquoten eher den Weg zur Pluralität ab, als es Bühnenstücke oder soziologische Kleingruppenuntersuchungen können. Erklärungen für diese Entwicklungen kann dieser Indikator allerdings nicht bieten.“

2.2. Regionen / Gemeindegrößenklassen

In den Deutschen Reichen (1878 – 1939) sind – vergleichbar mit der Situation in der Europäischen Union – zum einen die Anteile der nichtehelichen Geburten unterschiedlich hoch. Bei einem Mittelwert von 9 Prozent für das Deutsche Kaiserreich bis 1914 beträgt (1907) die Schwankungsbreite 2,9 Prozent für die Provinz Westfalen und 18,6 für die Stadt Berlin bzw. 14,0 Prozent für das Königreich Sachsen.

Die Gruppe mit den höchsten Anteilen bilden (1878) die Region Bayern rechts des Rheins, das heutige Bundesland Bayern (14,3 Prozent), die Stadt Berlin (13,4) sowie Mecklenburg-Schwerin (13,2).

Und, als zweiter Aspekt mit der EU-Situation vergleichbar, ist die Entwicklung im Laufe der Zeit. Alle Regionen machen die ‚Gesamtbewegung‘ des mehr/weniger mit, bleiben aber gleichzeitig auf ihrem relativen Anteils-Niveau.

Das spricht dafür, dass es in den verschiedenen Provinzen und Ländern spezifische, unterschiedliche Bedingungen bestehen, aufgrund derer die Anteile höher bzw. niedriger sind. Wie diese ‚Faktorenbündel‘ oder Cluster sich zusammensetzen müsste jeweils im Detail untersucht werden. Warum haben Bayern (katholisch, ländlich, …), die Stadt Berlin (evangelisch, industriell, …) und Mecklenburg-Schwerin (evangelisch, ländlich, …) die höchsten Anteile?

Zur Positionierung des ‚katholischen‘ Bayerns wird vor allem das seinerzeitige Erbrecht genannt.

„Als Grund hierfür gilt eine lokale Erbtradition, die Bauern erst nach der Übernahme des väterlichen Hofes mit 34 Jahren die Heirat und damit die Elternschaft gestattete. Möglicherweise auch, weil häufig erst geheiratet wurde, wenn der männliche Hoferbe geboren war. Wie die damalig erhöhte Anzahl an nichtehelichen Geburten belegt und das bayerische Erbrecht, das die nichtehelichen den ehelichen Kindern gleichstellte, zeigt, wurde diese Tradition in der Praxis eher weniger umgesetzt. Inzwischen haben sich die Geburtenverhältnisse in Bayern dem westdeutschen Durchschnitt angeglichen.“

Neben den bereits erwähnten Faktoren weisen die Daten der nichtehelichen Geburten nach Gemeindegrößenklassen auf einen (zumindest 1954 in Westdeutschland vorhanden) Stadt-Land-Unterschied hin.

In allen Bundesländern sind die Anteile der nichtehelichen Geburten in den Dörfern/Kleinstädten geringer, als in den größeren Gemeindegrößenklassen, z. B. in Rheinland-Pfalz (4,3 / 9,5 /13,1) oder in Bayern (9,6 / 13,0 / 18,7).

2.3. Daten seit 1946

Aufgrund der Angaben im Statistischen Jahrbuch 2019 und der Daten in „Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Zusammenfassende Übersichten. Eheschließungen, Geborene und Gestorbene. 1946 - 2021“ lässt sich die Entwicklung der Geburten in Deutschland seit 1946 nachzeichnen: Insgesamt, im Westen sowie im Osten.

Ost-West-Unterschiede

Auf Deutschland bezogen bestehen (2007) die deutlich unterschiedlichen Anteile zwischen den östlichen und den westlichen Bundesländern und ihren Landkreisen. Alle östlichen Landkreise haben einen über 50 Prozent liegenden Anteil der nichtehelichen Geburten an allen Lebendgeborenen, von den Landkreise im Westen haben alle einen Anteil von unter 30 Prozent.

Diese Thematik wurde ausführlich in einer Publikation des BMFSFJ bearbeitet: „Familienleben und Familienpolitik in Ost- und Westdeutschland“ (2022). Ebenso wie vom Statischen Bundesamt der Ost-West-Unterschied betont wird.

„Die Geburten von nicht verheirateten Eltern sind heute zwar in Ost und West stärker verbreitet als 1990, die Unterschiede sind aber nach wie vor deutlich ausgeprägt. Die nichtehelichen Geburten waren 2021 im Osten mit 55 % fast doppelt so oft anzutreffen als im Westen (29 %). 1990 betrug ihr Anteil an allen Geburten jeweils 35 % und 10 %.“

Einen Hinweis für diese gravierenden Unterschiede ist die historische Betrachtung von Sebastian Klüsener: „Nichteheliche Geburten: Deutschland auf Dauer geteilt“ (2014), dass bereits 1937 die Anteile in den östlichen Landkreisen mit 10,2 Prozent Unterschied deutlich höher waren als in den westlichen.


„‘Die Unterschiede bei den nichtehelichen Geburten sind ein Phänomen, das lange vor der deutschen Teilung entstand‘, sagt Sebastian Klüsener. Die abweichenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in Ost und West zwischen 1945 und 1990 hätten die Differenzen zwar erheblich verstärkt, aber nicht hervorgerufen. […]
Warum haben sich Ost und West historisch so anders entwickelt? Während die ostdeutsche Landwirtschaft durch verstreute Gutshöfe mit vielen landlosen Saisonarbeitern geprägt war, dominierten in Westdeutschland bäuerliche Dorfstrukturen und kleinere Familienbetriebe. Hier war man eher versucht, nichteheliche Geburten einzudämmen, da sie problematisch werden konnten – etwa wegen Erbstreitigkeiten. Zudem kehrten sich größere Bevölkerungsteile Ostdeutschlands bereits im 19. Jahrhundert von religiösen Riten ab. So hatten die Kirchen weniger Einfluss, auf die von ihnen bevorzugte eheliche Geburt hinzuwirken.
Außerdem stellte die Gesetzgebung ostdeutsche Mütter nichtehelicher Kinder besser – zumindest bis 1900, als sie deutschlandweit vereinheitlicht wurde. Wenn etwa im Rheinland der Vater eines nichtehelich geborenen Kindes die Vaterschaft nicht anerkennen wollte, war es der Mutter verboten, die Vaterschaft per Gericht feststellen zu lassen. Das in weiten Teilen Ostdeutschlands geltende preußische Recht erlaubte dagegen, von Vätern nichtehelich geborener Kinder materielle Unterstützung per Klage einzufordern.“

Diese Unterschiede haben Wissenschaftler des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung u. a. 2009 untersucht: „Nicht-eheliche Geburten im regionalen Vergleich“. Die Unterschiede sind offensichtlich und zeigen sich sowohl in den beiden Teilen Berlins wie zwischen Ost- und Westdeutschland.

In einem internationalen Kontext wird die Bedeutung der Unterschiede sichtbar: die ostdeutschen Anteile bringen es (2007) als ‚Spitzenwerte‘ nach Island auf die zweite Position, während die westdeutschen Länder sich am unteren Ende befinden, zusammen mit Portugal, Spanen und Italien.

Insofern wird ein als Durchschnittswert „Deutschland“ dargestellter Anteil ‚geschönt‘ und verdeckt die weit unterdurchschnittliche Positionierung der westlichen Bundesländer.

Die Unterschiedlichkeit der Entwicklungen zeigt sich im Vergleich der Zahlen der nichtehelichen Geburten von 1946-2021.

Vor dem Hintergrund, dass sich die Relation der Bevölkerung West/Ost in einer Größenordnung von 10 zu 3 bzw. 2 bewegte, sind die tatsächlichen Zahlenunterschiede der nichtehelichen Geburten, hier als Saldo West-Ost berechnet, davon sehr anders. Der Saldo zugunsten des Westens wird immer geringer und von 1978 bis 1987 werden in der damaligen DDR mehr nichteheliche Geburten registriert als in der damaligen Bundesrepublik.

Nach 1990 steigt die Anzahl der nichtehelichen Geburten in den westlichen Bundesländern stärker, die 1975 ihren ‚Tiefpunkt‘ hatte.

2.4. Situation 2020

2020, dreißig Jahre nach der Deutschen Einheit, stellen sich die Ost-West-Unterschiede - im Vergleich zu 2007 – nicht mehr so ‚grenzwertig mit Demarkationsline‘ dar. Kerngebiete der Anteile niedrigerer nichtehelicher Geburten sind dabei die Innenregionen von Baden-Württemberg, des Rheinlands und Bayerns.

Ob es jemals zu einer Angleichung der Anteile nichtehelicher Geburten in allen Bundesländern kommen wird, bleibt fraglich.

Carsten Frerk.