Religion und Armut
Fowid-Notiz: Eine Studie mit drei weltweiten Datensätzen geht der Frage nach, ob sich die These von Max Weber – dass ein niedriger sozioökonomischer Status (SES) das Wohlbefinden von Menschen beeinträchtige – überprüfen lässt. Die Zusammenhänge stellen sich etwas komplexer dar und die Rolle von Religion ist dabei spezifisch. Das Fazit lautet u. a., dass bei geringer werdender Religiosität etwas anderes gebraucht wird, um die tröstende Funktion von Religion zu ersetzen.
Bernd Müller formuliert auf telepolis eine griffige Überschrift: „Forscherteam bestätigt: Religionen sind ‚Opium‘ für arme Menschen“ und stellt ausdrücklich einen Bezug zur Darstellung von Karl Marx „Religion ist das Opium des Volkes“ (1844):
„Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d’honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.
Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.“ (Quelle. gbs/hpd)
Bemerkenswert ist dabei u. a., dass in der referierten Studie kein einziges Mal von dem Ökonomen Karl Marx die Rede ist, sondern von dem Soziologen Max Weber, was wohl bedeutet, dass Karl Marx immer noch effektheischender ist als Max Weber?
Worum geht es? Eine siebenköpfige Forschungsgruppe aus verschiedenen Universitäten Europas hat eine Studie: “National religiosity eases the psychological burden of poverty” („Nationale Religiosität mildert die psychologische Belastung durch Armut“) publiziert, in der sie fragen, ob es einen statistischen Zusammenhang zwischen Religiosität und niedrigem sozioökonomischen Status (Armut) gibt.
„Die Grundannahme, dass ein niedrigerer sozialer Status dem Wohlbefinden in Entwicklungsländern am meisten schadet, hat ihre Wurzeln in den klassischen soziologischen Schriften von Max Weber. Tatsächlich haben frühe empirische Belege diese Annahme gestützt. So fanden Wissenschaftler beispielsweise in Entwicklungsländern einen beträchtlichen Zusammenhang zwischen niedrigem SES und vermindertem Wohlbefinden, in Industrieländern jedoch einen weitaus schwächeren Zusammenhang.
Kürzlich wurden jedoch groß angelegte, umfassende Daten für fast den gesamten Planeten verfügbar, und die Ergebnisse zeigten ein ganz anderes Muster. Die Assoziationen zwischen niedrigerem SES und vermindertem Wohlbefinden waren in den Industrieländern am größten, nicht in den Entwicklungsländern. Dieses Ergebnis war für Politiker, Sozialwissenschaftler und die breite Öffentlichkeit gleichermaßen ernüchternd, denn sie alle hatten ihr Vertrauen in die wirtschaftliche Entwicklung der Länder gesetzt. Offensichtlich ist die wirtschaftliche Entwicklung der Nationen jedoch nicht das lang ersehnte Allheilmittel für die psychische Belastung durch einen niedrigeren SES. Es scheint sogar so, als würde die wirtschaftliche Entwicklung diese Belastung noch verstärken. Aber warum?“
Die Antwort: Durch die wirtschaftliche Entwicklung wird ein geringeres Wohlbefinden bei geringem sozioökonomischen Status verstärkt, wenn eine wichtige Kovariante, die Religiosität, geringer wird. Viele Religionen enthalten Aussagen, die für die Bewertung des sozialen Status eine Rolle spielen. Sei es in der Bibel: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in das Reich Gottes kommt“ (Matthäus 19:24), oder im Koran die Darstellung: „Wehe jedem Stichler und Lästerer, der Geld und Gut sammelt und immer wieder zählt, im Glauben, dass sein Vermögen ihn unsterblich mache! Keineswegs! Er wird in das Zermalmende [Feuersäulen] geworfen.“ (Sure 104) Diese und weitere Sätze erleichtern „die Last des niedrigen SES“.
„Es gibt Grund zu der Annahme, dass sich der religiöse Rückgang in den kommenden Jahrzehnten sogar noch beschleunigen könnte. Infolgedessen könnte ein niedrigerer SES in Zukunft besonders schädliche Auswirkungen auf das Wohlbefinden haben. Diese Hypothesen müssen erst noch empirisch überprüft werden. Nichtsdestotrotz legen die vorliegenden Ergebnisse nahe, dass Sozialwissenschaftler und politische Entscheidungsträger das schwindende Niveau der nationalen Religiosität und die Möglichkeit, dass die schädlichen Auswirkungen eines niedrigeren SES infolgedessen weiter zunehmen werden, zur Kenntnis nehmen sollten. Die Herausforderung wird darin bestehen, Alternativen zur nationalen Religiosität zu finden, um diese schädlichen Auswirkungen einzudämmen. […]
Alles in allem haben wir Hinweise darauf gefunden, dass nationale Religiosität dazu beiträgt zu erklären, warum die psychologische Belastung durch einen niedrigeren SES in Entwicklungsländern geringer und in Industrieländern größer ist.“
Eine Lösung dafür ist die „Religion als Austauschfunktion“, d. h. der Sozialstaat übernimmt die Aufgabe der Religion.
(CF)