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Sterbehilfe in Deutschland 2021

Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (im Februar 2020) ist 2021 das erste vollständige Jahr, in dem die straffreie Suizidbegleitung von Organisationen in Deutschland möglich ist. Drei Organisationen sind im Bereich der Sterbehilfe und Suizidprävention aktiv und haben für 2021 Berichte über ihre praktischen Erfahrungen und die Anzahl der Freitodbegleitungen vorgelegt.

Zur Vorgeschichte
Selbstverständnis der Organisationen
Mitglieder
Suizidbegleitungen
Suizidprävention
Kosten
„Berliner Appell“

Zur Vorgeschichte

Die Beihilfe zum Suizid war in Deutschland seit 1871 straffrei, bis der 2015 verabschiedete § 217 StGB die ‚geschäftsmäßige‘, das heißt auf Wiederholung angelegte Suizidhilfe kriminalisierte. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Gesetz am 26. Februar 2020 für verfassungswidrig und damit für nichtig erklärt.

Dazu erklärte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS e.V.), RA Prof. Robert Roßbruch in einem entschiedenen Statement, dass „sich die Situation notleidender Menschen seit 2020 spürbar verbessert“ hat.

„Am 26. Februar 2020 verkündete das Bundesverfassungsgericht sein bahnbrechendes Urteil zur Sterbehilfe, das den umstrittenen § 217 StGB (‚Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung‘) für verfassungswidrig erklärte. Seither haben die drei wichtigsten Organisationen für eine „humane Sterbekultur“ in Deutschland mehreren Hundert sterbewilligen Menschen geholfen, indem sie professionelle Freitodbegleitungen entweder vermittelten wie die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) oder selbst durchführten wie Dignitas Deutschland und der Verein Sterbehilfe. Der befürchtete ‚Untergang des Abendlands‘ ist dabei ausgeblieben, vielmehr hat sich die Situation notleidender Menschen seit 2020 spürbar verbessert.“

Das Urteil des Bundesfassungsgerichts wird in seiner Bedeutung ausführlich gewürdigt von dem Strafrechtler Professor Dr. Heinz Schöch, München: „Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26.2.2020 zur Förderung der Selbsttötung für den Gesetzgeber.“

„Das Urteil des BVerfG vom 26.2.2020 zur Verfassungswidrigkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB) ist rechtsgeschichtlich und verfassungsrechtlich ein Meilenstein bezüglich des Vorrangs der Grundrechte gegenüber staatlicher und moralischer Bevormundung. Auch nach intensivem Ringen gefundene Mehrheitsentscheidungen des Gesetzgebers finden ihre Grenzen am Wesensgehalt der Menschenwürde und der Selbstbestimmung. Die vom BVerfG geforderten inhaltlichen und prozeduralen Sicherungen zur Prüfung der Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit des Selbsttötungswunsches sowie zur Verhinderung unfreier oder gar fremdbestimmter Anträge auf Unterstützung eines Suizids berühren fundamentale Fragen des Lebensschutzes und der freiverantwortlichen Willensentscheidung, die auch aus strafrechtlicher Sicht zu beantworten sind.“

Selbstverständnis der Organisationen

Die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS, Bundeszentrale in Berlin, am 7. November 1980 in Nürnberg gegründet) betont, dass sie „keine Sterbehilfeorganisation ist und es auch nicht werden will. Die DGHS will aber jedem freitodwilligen Mitglied die Möglichkeit vermitteln, unter Einhaltung hoher medizinischer und juristischer Sicherheitsstandards einen sicheren, schmerzfreien und humanen ärztlich begleiteten Freitod durchführen zu können. Das ist EIN Element einer ganzheitlichen Lebensend-Vorsorge durch die DGHS neben einer umfassenden Gesundheits-, Pflege- und Vorsorgeberatung, insbesondere durch unsere lokalen Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner, Beratung zur Erstellung einer Patientenverfügung und von Vorsorgevollmachten, die Zurverfügungstellung eines IT-gestützten Notfallausweises. Wir bieten daher für unsere Mitglieder ein breites und umfassendes Beratungs- und Versorgungsangebot.“

„DIGNITAS – Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben (Sektion Deutschland) e.V.“ (kurz: DIGNITAS-Deutschland) mit Sitz in Hannover, wurde 2005 gegründet und „hat sich seit seiner Gründung engagiert dafür eingesetzt, dass die von den Bürgern errichteten Patientenverfügungen einklagbar und durchsetzbar sind. Dass es in Deutschland im September 2009 endlich gelungen ist, die gesetzliche Regelung der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen zu erreichen, ist ein besonders großer Erfolg.
Der Verein unterstützt mittels anwaltlicher Hilfe seine Mitglieder darin, dass diese ihre durch die Verfassung gewährleisteten Rechte auf freie Selbstbestimmung gegenüber Krankenhäusern, Pflegestationen, Ärzten und Pflegepersonal durchsetzen können. Dies gilt auch für die passive und indirekte Sterbehilfe.“

Der Verein Sterbehilfe, mit Geschäftsstelle in Zürich und einem Deutschlandbüro in Hamburg, wurde 2010 in Schleswig-Holstein gegründet. Der Verein schreibt: „Sterbehilfe, die hier im engeren Sinne die Hilfe beim Suizid meint, ist ein weites Feld und umfasst unter anderem das Unterlassen von sinnlos gewordener intensivmedizinischer Leidensverlängerung auf Wunsch der Patientinnen und Patienten, die stattdessen lindernde Maßnahmen, Symptom- und Schmerzbehandlung sowie fürsorgliche Pflege in Anspruch nehmen oder auf sie verzichten. Die Patientenverfügung nach dem Muster des Vereins hilft bei der Durchsetzung dieses Rechts. Als erfahrener und zuverlässiger Partner für unsere Mitglieder ermöglichen wir ausserdem selbstbestimmtes Sterben im eigenen Haus und im eigenen Land.“

Mitglieder

DGHS: 23.000 Mitglieder.

Dignitas Deutschland: „Per 31.12.2021 zählte der Verein DIGNITAS in Hannover 3.801 Mitglieder. In der Statistik, welche DIGNITAS Schweiz jeweils veröffentlicht, ist die Gesamtzahl der Mitglieder beider Vereine aufgeführt. Das heißt, die Mitglieder von DIGNITAS Deutschland sind in der genannten Zahl enthalten.“ Mit anderen Worten, von den 4.168 Mitgliedern mit Wohnsitz in Deutschland bei der Dignitas Schweiz sind 367 ausschließlich dort Mitglied.

Verein Sterbehilfe: „1.201 Mitglieder am 31.12.2021 (am 31.12.2020 waren es 664). Altersdurchschnitt 70 Jahre, Frauenanteil 57 %. Von den 1201 Mitgliedern haben 87 Mitglieder das ‚Grüne Licht‘, mit dem der Verein definitiv verspricht, jederzeit auf Wunsch des Mitglieds Suizidhilfe zu leisten.“

Suizidbegleitungen

Generell gilt, dass die drei Organisationen nur Mitglieder ihrer eigenen Organisationen beraten und betreuen.

DGHS: „Im Jahre 2020 haben wir, bei noch nicht ausgebauter Infrastruktur, 18 Freitodbegleitungen vermittelt; im zurückliegenden Jahr 2021 waren es bereits 120. Dabei sind die Beweggründe sehr unterschiedlich. Die Hauptmotive für einen Wunsch nach einer Freitodbegleitung sind Krebs, Neurologische Erkrankungen, ein Mix aus verschiedenen Erkrankungen und insbesondere bei hochaltrigen Menschen Lebenssattheit.“

- 24 Antragsteller und Antragstellerinnen sind während des Freitod-Verfahrens an ihren Erkrankungen verstorben (natürlicher Tod).
- 2 Antragsteller haben einen sog. harten Suizid begangen.
- 11 Anträge auf Vermittlung einer Freitodbegleitung wurden abgelehnt (9 Anträge wegen einer schweren psychischen Erkrankung, 1 Antrag wegen einer über das Anfangsstadium hinausgehende Demenz, 1 Antrag wegen fehlender Freiverantwortlichkeit)
- In 5 Fällen konnte die Freitodbegleitung im Pflegeheim des Freitodwilligen durchgeführt werden.
- In 2 Fällen wurden die Antragsteller auf deren ausdrücklichen Wunsch zum Zweck der Freitodbegleitung aus einem Hospiz in die Wohnung eines Angehörigen verbracht.

Dignitas Deutschland nennt 97 Freitodbegleitungen und schreibt dazu: „Auch wenn die unter-schiedlichsten Erfahrungen mit den Beamten vor Ort gemacht wurden, ist bis jetzt kein einziges Mal eine weiterführende Untersuchung eingeleitet worden. Die Erfahrungen aus der Schweiz bestätigen sich auch in Deutschland: die Gewissheit, im Bedarfsfall eine Freitodbegleitung in Anspruch nehmen zu können, gibt den Betroffenen Zuversicht und Kraft, so dass sie die Krankheit besser ertragen und sich der verbleibenden Zeit, so gut es geht, erfreuen. So ist die Zahl jener Mitglieder, die das ,provisorische grüne Licht‘ eines Arztes oder einer Ärztin erhalten haben und noch zuwarten, etwa gleichgroß wie jene, die bereits eine Freitodbegleitung in Anspruch genommen haben.“

Von den Mitgliedern der Dignitas mit Wohnsitz in Deutschland haben 2021 dennoch 34 eine Freitodbegleitung in der Schweiz realisiert, die auch dort gezählt wird. Gegenüber den Jahren seit 2011, in denen die Zahl der Freitodbegleitungen von Personen mit Wohnsitz in Deutschland in der Schweiz bei rund 85 Personen lag, ist das ein deutlicher Rückgang.

Der Verein Sterbehilfe nennt „129 Suizidbegleitungen im Jahr 2021, alle in Deutschland. Das jüngste Mitglied war 18, das älteste 99 Jahre alt, Altersdurchschnitt 75 Jahre, Frauenanteil 56 %, 7 Doppelsuizide von Ehepaaren, die ihr Leben gemeinsam beenden wollten.“

Bewertungen, dass die Zahl der assistierten Suizide von 2020 auf 2021 „stark angestiegen“ sei, sind insofern nicht angemessen, da es im Laufe des Jahres 2020 – nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Februar 2020 – nur erste Beratungsangebote gegeben hatte. Für 2022 schätzt der DGHS-Präsident aufgrund der vorliegenden Anträge, dass die Zahl der Begleitungen auf vermutlich 250 steigen wird.

Suizidprävention

Alle drei Organisationen sehen einen Schwerpunkt ihrer Arbeit auch in der Suizid- und Suizidversuchprävention.

So schreibt der Verein Sterbehilfe. „Im Jahr 2021 entschieden sich 87 Mitglieder, nachdem sie „Grünes Licht“ bekommen hatten, fürs Weiterleben. Neben Suizidbegleitungen ist Suizidprävention der zweite Schwerpunkt der Vereinsarbeit.“

Dignitas Deutschland benennt den größeren Zusammenhang dieser Suizidversuchspräventionsarbeit:

„Ebendiese zielt darauf ab einsame und gefährliche Suizidversuche zu reduzieren. Da die Anzahl traumatisierender Hartsuizide dadurch ebenfalls reduziert wird, wirkt diese auch als Suizidprävention. lm Jahr 2O2O beendeten in Deutschland 9.206 Personen ihr Leben durch Suizid. Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass auf jeden erfolgten Suizid 20 Suizidversuche kommen, die nicht mit dem Tod enden. Das bedeutet, dass von 184.120 Menschen auszugehen ist, die im Jahr 2O2O in Deutschland einen Suizidversuch überlebt haben - viele körperlich und seelisch schwer verletzt, teilweise gesellschaftlich stigmatisiert. Harte Suizide und scheiternde Suizidversuche wirken sich auch auf weitere Personenkreise schädigend aus, wie beispielsweise Angehörige, Freunde, Lokomotivführer, Feuerwehrleute u.a.
Das Tabu der Selbsttötung führt dazu, dass Menschen mit Suizidgedanken sich nicht getrauen, darüber zu sprechen, sondern in ihrer Not riskante Suizidmethoden anwenden. Unsere Erfahrung auszahlreichen Beratungsgesprächen mit Mitgliedern und Nichtmitgliedern über Patientenverfügung, Palliativversorgung sowie Möglichkeiten und Grenzen der Suizidhilfe zeigt, dass nur schon das Wissen um die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebensendes betroffenen Menschen Sicherheit gibt, um in Ruhe sämtliche Optionen und Konsequenzen zu reflektieren. Als weitere niederschwellige Anlaufstelle für Menschen mit Suizidgedanken betreibt DIGNITAS-Deutschland zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für humanes Sterben (DGHS) seit Anfang März2020 die kostenlose Beratungsstelle „Schluss.PUNKT“.


Kosten

DGHS: (Aus der Erklärung des Präsidenten Prof. Roßbruch.) Die DGHS nennt den „pauschalen Kostenbetrag einer Freitodbegleitung in Höhe von 4.000 EUR, mit denen die DGHS selbst nichts zu tun hat, denn alle Leistungen, die die DGHS im Rahmen ihrer Vermittlung erbracht hat, sind für die Mitglieder im Mitgliedsbeitrag [von 50 Euro/Jahr] enthalten. […] Der pauschale Kostenbetrag von 4.000 EUR teilt sich auf in die beiden Honorare für den freitodbegleitenden Arzt und den involvierten Juristen in jeweiliger Höhe von 1.500 bis 1.700 EUR, zuzüglich der Fahrt- und Übernachtungskosten und der Kosten für die zum Einsatz kommenden medizinischen Produkte und Medikamente von 600 bis 1.000 EUR. In diesem Betrag sind auch notwendige Krankentransporte enthalten. Wichtig ist zu erwähnen, dass keine gewünschte Freitodbegleitung an den Kosten scheitert. Sollte der Antragsteller, die Antragstellerin bedürftig sein, werden die Kosten für die Freitodbegleitung aus einem eigens hierfür eingerichteten Solidarfonds bestritten.“

Dignitas Deutschland schreibt: „Das ist je nach Situation unterschiedlich: Ist der Hausarzt des Mitglieds bereit, mit DIGNITAS zusammen Suizidhilfe zu leisten, stellen wir einen Unkostenbeitrag von EUR 1.500 in Rechnung. Muss DIGNITAS einen Konsiliararzt vermitteln, kommen weitere EUR 1.500 hinzu. In diesem Fall entstehen dem Mitglied noch Kosten für das persönliche Gespräch zur Prüfung der Freiverantwortlichkeit, welches der Arzt dem Mitglied direkt in Rechnung stellt.“

Der Verein Sterbehilfe unterscheidet nach der Dauer der Mitgliedschaft. Bei einem Mitgliedsbeitrag von 50 Euro/Jahr oder 500 Euro/Lebenszeit besteht nach 5-jähriger Mitgliedschaft eine Kostenbeteiligung von 2.000 Euro. Sofern ein Mitglied ohne Wartezeit sein Leben beenden will, können Kosten bis zu 7.000 Euro entstehen.

Pressekonferenz

Zwei Jahre nach dem Urteilsspruch aus Karlsruhe stellten DGHS, Dignitas Deutschland und der Verein Sterbehilfe auf einer Pressekonferenz (am 21. Februar 2022) erstmals ihre praktischen Erfahrungen in einer gemeinsamen Pressekonferenz vor und beantworten Fragen von Journalistinnen und Journalisten. Teilnehmerinnen des Podiums: RA Prof. Robert Roßbruch, Präsident der DGHS / Sandra Martino, 1. Vorsitzende von Dignitas Deutschland / Jakub Jaros, Geschäftsführer des Vereins Sterbehilfe / Moderation: Ingrid Matthäus-Maier, Beirätin der Giordano-Bruno-Stiftung. (Video)

Der „Berliner Appell (2022): 10 Forderungen für humane Suizidhilfe in Deutschland“ der drei Organisationen nennt zehn wesentliche Punkte:

1. Kein neuer § 217

2. Keine Pflichtberatung, aber ergebnisoffene Beratungsangebote

3. Keine Wartefristen

4. Ermöglichung der Verwendung von Natrium-Pentobarbital (NaP) in der Suizidhilfe

5. Keine Diskriminierung von Menschen in Pflege- und Seniorenheimen

6. Unterscheidung von Suizidalität und dem freiverantwortlichen Entschluss, das eigene Leben zu beenden

7. Differenzierte Suizidstatistiken

8. Forschung zur Suizidhilfe

9. Schluss mit der Unterstellung, Suizidhilfeorganisationen hätten kommerzielle Interessen

10. Korrekte Berichterstattung über die aktuelle Rechtslage

(CF)