Einstellungen „junger Muslime“ in Deutschland
Fowid-Statistikbeobachter: Auch wenn der Titel der Studie die beschränkte Datenbasis eigentlich klar benennt (DITIB-Jugendstudie) ist der Untertitel anmaßend allgemein „Einstellungen junger Muslim:innen in Deutschland“, also aller muslimischer Jugendlicher. Das stimmt allerdings nicht, ist mehr als fragwürdig, ja, unsinnig, zieht aber dennoch seine medialen Reputations-Kreise auf nationaler Ebene.
Die Studie von Harry Harun Behr / Meltem Kulaçatan: „DİTİB Jugendstudie 2021. Lebensweltliche Einstellungen junger Muslim:innen in Deutschland“ zieht ihre Kreise – von nationalen Medien bis hin zum Bildungsportal „news4teacher“.
Bei der Auswahl der Befragten kann jedoch nicht von einer methodisch überprüfbaren Stichprobe gesprochen werden, denn das „bundesweite schneeballartige System der Kontaktkaskade“ mit der die Befragten eingeladen wurden, an der Befragung teilzunehmen, aktiviert nur einen kommunikativ inneren Kreis von Gleichgesinnten.
„Für die Zwecke dieser Erhebung einigten wir uns mit dem BDMJ dahingehend, die Einladung zur Teilnahme an der Befragung über die zu den Verfügungen stehenden Mailinglisten der Organisation zu verschicken. Wir verbanden das mit der Bitte, diese Einladung gemäß bestimmten Kriterien weiterzugeben, und zwar an Jugendliche im sozialen Nahraum, die aktiv in die Arbeit einer Jugendgruppe des BDMJ vor Ort involviert sind (und dies zunächst unabhängig von formaler Mitgliedschaft). Uns ging es weniger um Mitgliedschaft (membership) als um Anschluss im Sinne des Zugehörigkeitsgefühls als religionswissenschaftliches Kriterium (affiliation) im Sinne der Zugewandtheit der Zielgruppen zur Moschee und zu ihrer Arbeit. Für uns war die Verbindung zwischen den beiden Bezugshorizonten Jugend und Moschee wichtig.“ (S. 22/23)
Das kann man so machen, wenn man die Konsequenz einer großen Begrenztheit der Aussagen auf ebendiese angesprochenen jungen Muslime mit einer hohen Identifikation zu einer Moscheegemeinde, also Religiosität akzeptiert. Das geschieht jedoch nicht.
Mehr noch, selbst der Auftraggeber hat keinerlei Kenntnis darüber, wie groß die Grundgesamtheit der in Frage kommenden jungen Muslime ist.
„Überraschend war für uns zu erfahren, dass die Verantwortlichen im BDMJ nicht wirklich einschätzen konnten, wie groß in etwa die Grundgesamtheit der potenziell Erreichbaren und wie groß ein zuverlässiges Sample aussehen wurde. Die Schwankungsbreite der Erwartung reichte von realistischen bis zu utopischen Zahlenangaben. Die Frage der Repräsentativität der hier diskutierten Ergebnisse bleibt also vorerst mit Blick auf eine möglicherweise nur schwer zu berechnende Schwankungsbreite zunächst offen.“ (S. 23)
Das bedeutet, dass die 500 Antworten überhaupt keine korrekte Stichprobe ist, die auf ihre Repräsentativität geprüft werden könnte: weder für den Verband der Muslimischen Jugend (BMDJ) im Speziellen noch für die „muslimische Jugendlichen“ in Deutschland generell.
Solche Fragebogen, von denen zudem alle in die Auswertung einbezogen wurden, bei denen die „Ernsthaftigkeit“ in der Beantwortung anzunehmen war - auf Vollständigkeit wurde kein Wert gelegt („Damit gab es zwar zwischen einzelnen Items über die Falle hinweg Lücken ebenso wie innerhalb der Falle, was aber für die Auswertung jeweils nachgemessen und gewichtet wurde.“ S.23) - kann man natürlich auswerten und daraus Tabellen erstellen, was passierte, aber die Aussagen haben nur eine selbstbezügliche Qualität, dass in diesen 500 Fragebogen ebendas angegeben worden war, was da steht. Mehr nicht.
Insofern ist es völlig unsinnig, die inhaltlichen Auswertungen und daraus abgeleitete Aussagen ernst zu nehmen. Sie haben, wenn überhaupt, den anekdotischen Wert, dass eine Teilnehmerin oder Teilnehmer das geschrieben/gesagt hat. Ja, und? Das andere ist theoretisches Begriffsgeklimper und ‚gemischter Datensalat‘.
Wie gut, d. h. im Sinne der Forscher unkritisch, jedoch diese absolut unzulässigen Verallgemeinerungen medial angenommen werden, zeigt sich beispielsweise in einem längeren Artikel in der F.A.Z. über diese Studie: „Junge Muslime - Gegen Extremismus, aber von ‚einzig wahrer‘ Religion überzeugt“, von Sascha Zoske, in dem beständig von „muslimischen Jugendlichen“ die Sprache ist. (Der Artikel ist dann auch noch dem großen Foto eines ca. 10-Jährigen ‚begleitet‘: „Klare Vorstellungen: Ein Junge nach dem Freitagsgebet im Gebetsraum der Fazl-e-Omar-Moschee der Ahmadiyya-Gemeinde in Hamburg-Lokstedt.“ Da passt weder das Alter noch die islamische Glaubensrichtung.) Auch wenn das von der Oberflächlichkeit der F.A.Z.-Redaktion zu verantworten ist, so bieten die Textformulierungen der Studie dazu die Plattform.
Ebenso ist es gelungen, diese falschen Darstellungen in einem längeren Interview des SPIEGEL unterzubringen: „Studie über muslimische Jugendliche – ‚Die Opas, die alles entscheiden‘.“
„Erziehungswissenschaftler Harry Harun Behr sagt, warum viele muslimische Jugendliche nicht in Deutschland beerdigt werden wollen – und warum er die Moscheen der Ditib als gutes Mittel gegen religiöse Radikalisierung sieht. Ein Interview von Katrin Elger.“
Durchgehend ist von „muslimischen Jugendlichen“ die Sprache. Dekoriert wird der Artikel mit einem beliebigen Foto ohne genaue Beschriftung (vermutlich – aufgrund der Fotografenangabe - aus dem Ruhrgebiet), dass viele Menschen aller Altersgruppen auf Bänken an Tischen vor einer Moschee beim Essen zeigt (vermutlich – aufgrund des Spruchbands an der Moschee: „HOSGELDIN YA SEHRI RAMAZAN“ = „Willkommen Ramadan“ - beim Fastenbrechen).
Es ist müßig zu klären, wer bei solchen medialen Verallgemeinerungen, die auf keiner repräsentativen und gesicherten Datenbasis stehen, die größere Verantwortung hat, der Wissenschaftler, der diese Interpretation geradezu anbietet, oder die Journalisten, die unkritisch über diese Studie berichten und das Narrativ „Muslimische Jugendliche“ bedienen, obwohl die Datenbasis eine vergleichsweise sehr kleine Zahl unklarer Provenienz, zudem religiös hochmotivierter Muslime sind, deren Einstellungen, Sichtweise und Empfindungen in keiner Weise für alle muslimischen „Jugendlichen im Alter von 14 bis 27 Jahren“ geltend gemacht werden können.
Die Unbekümmertheit, mit der die Autoren der Studie sich inhaltlich über „die muslimische Jugend“ äußern – ohne irgendeine Rücksicht auf Grundsätze und Standards der empirischen Sozialforschung – ist dabei leider nichts Neues.
So werden, als Beispiele, zur Thematik „Religiöse Diskriminierung an Berliner Schulen?“ zwei Berichte mit Daten zur Diskriminierung an Berliner Schulen veröffentlicht, genauer, muslimischer Schülerinnen und Schüler. Die Datenbasis ist zwar grotesk, hindert die beteiligten Wissenschaftler jedoch nicht an detaillierten Auswertungen und politischen Schlussfolgerungen. Es spannt sich ein weiter Bogen von Nina Mühe (2010): „Muslims in Berlin/ Muslime in Berlin“ – Die empirische Grundlage für diese Studie sind 100 befragte Muslime (sowie 100 Nicht-Muslime) für deren Einschätzung der Repräsentativität keine realistischen Bezugsgrößen existieren, die aber nach sieben unterschiedlichen Auswahlkriterien ausgewählt wurden – bis hin zu verschiedenen Studien über „Muslimfeindlichkeit“, „Islamfeindlichkeit“ bzw. „antimuslimischem Rassismus“, die von einer erstaunlichen sozialwissenschaftlichen Inkompetenz geprägt sind und bei denen aus völlig unzureichenden Daten weitgehende politische Schlussfolgerungen abgeleitet werden.
Carsten Frerk.