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25 Jahre Sterbehilfe in den Niederlanden

Zusätzlich zu den Jahresberichten der staatlichen Regionalen Kontrollkommissionen für Sterbehilfe der Niederlande (seit 2002) befragt eine Public-Health Forschergruppe (seit 1990) eine repräsentative Auswahl von Ärzten nach ihren Erfahrungen mit Sterbenden und ärztlicher Begleitung. Die Angaben der Ärzte gehen weit über den in Deutschland gebräuchlichen Begriff der Sterbehilfe hinaus und verweisen auf eine ideologische Schieflage der Debatte in Deutschland.

Seit 2002 ist die Sterbehilfe in den Niederlanden gesetzlich geregelt. Zum gesetzlichen Rahmen heißt es: „Nach Artikel 293 des niederländischen Strafgesetzbuchs ist die vorsätzliche Beendigung des Lebens eines anderen Menschen auf dessen ausdrückliches und ernsthaftes Verlangen hin strafbar, es sei denn, sie wird von einem Arzt ausgeführt, der dabei gemäß den Sorgfaltskriterien nach dem Gesetz über die Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und der Hilfe bei der Selbsttötung handelt und dies dem örtlichen Leichenschauer meldet. Zur Hilfe bei der Selbsttötung ist eine vergleichbare Bestimmung in das Strafgesetzbuch aufgenommen worden (Artikel 294). Die Lebensbeendigung auf Verlangen und die Hilfe bei der Selbsttötung sind also unter bestimmten Umständen nicht strafbar“

Zur Kontrolle und Transparenz wurden Regionale Kontrollkommissionen für Sterbehilfe etabliert, an die jede erfolgte Sterbehilfe zu melden und zu berichten ist, ob die geforderten Sorgfältigkeitskriterien für eine Straffreiheit eingehalten wurden.

Für diese Berichte werden die Gesamtzahlen von „Sterbehilfe und Hilfe bei der Selbsttötung“ erfasst. Unter Sterbehilfe („Euthanasie“) wird dabei – auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten - die Medikation der Mittel und Verabreichung durch einen Arzt – verstanden, nach deutscher Begrifflichkeit „aktive Sterbehilfe“, die in Deutschland verboten ist. Ärztliche „Hilfe bei der Selbsttötung“ ist nach deutscher Begrifflichkeit „passive Sterbehilfe“ und seit November 2015 aufgrund des Art 217 StGB für Ärzte, die mehr als einem Patienten in dieser Hinsicht helfen, als „geschäftsmäßige Sterbehilfe“ mit „Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“. (Die Klagen gegen dieses Gesetz liegen beim Bundesverfassungsgericht und es ist nicht absehbar, wann das Bundesverfassungsgericht darüber entscheiden wird.)

Staatliche Angaben zur Sterbehilfe

Nach den Angaben von Eurostat zu den Sterbefällen in den Niederlanden und nach den „Gesamtzahlen von Sterbehilfe und Hilfe bei der Selbsttötung“ der Jahresberichte der Regionalen Kontrollkommissionen für Sterbehilfe (Alle Berichte auf Englisch, seit 2002) sowie auf Deutsch (2015 sowie 2016) ergeben sich für die Jahre 2002 – 2015 die folgenden Informationen.

Die Gründe für den Anstieg bedürfen noch der Klärung. Im Jahresbericht 2016 (S.5) heißt es dazu: „Dieser Meldungsanstieg ist nicht einfach zu erklären. Es stellen sich Fragen wie: Hat die Meldebereitschaft der Ärzte zugenommen? Üben die Ärzte weniger Zurückhaltung, wenn es um die Erfüllung eines Sterbewunsches geht? Wenden sich die Patienten mit ihrem Wunsch nach Lebensbeendigung mit mehr Entschlossenheit an den Arzt? Ist der in der Regel glückliche Umstand, dass die Menschen in den Niederlanden länger leben bzw. älter werden, eine mögliche Erklärung für die Zunahme der Meldungen? Oder liegt es auch an der demographischen Zusammensetzung der niederländischen Bevölkerung?“ Ebenso könnte die Diskussion, welche ärztliche Maßnahmen als Sterbehilfe anzusehen sind und als solche gemeldet werden (z. B. der Aspekt der palliativen, letalen Sedierung), dabei eine Rolle spielen.

Diese Entwicklung als „Nachfrage-Boom“ zu beschreiben, wie es die Deutsche Ärztezeitung im April 2017 titelte: „Niederlande verzeichnet Nachfrage-Boom“, ist weder sachgerecht noch angemessen.

Ärztliche Angaben zur Sterbehilfe

Im Artikel „End-of-Life Decisions in the Netherlands over 25 Years” des New England Journal of Medicine veröffentlichten jetzt vier Forscher der Universitäten Rotterdam, Utrecht und Amsterdam die Ergebnisse einer Langzeitstudie, die seit 1990 alle fünf Jahre die Häufigkeit und Art der Sterbebegleitung am Lebensende in den Niederlanden erfasst.

Zu den Ergebnissen schreiben die Forscher: „Der Prozentsatz der Patienten, von denen vor dem Tod eine Entscheidung zum Lebensende vorausgegangen war, stieg von 39 Prozent im Jahr 1990 auf 58 Prozent im Jahr 2015. 1990 waren 1,7 Prozent aller Todesfälle das Ergebnis einer Euthanasie durch den Arzt, 2015 lag der Prozentsatz bei 4,5 Prozent. Die Anteile des vom Arzt-unterstützten Suizids variierte zwischen 0,1 und 0,2 Prozent. Die Beendigung des Lebens ohne explizite Patientenanfrage ging von 0,8 Prozent im Jahr 1990 auf 0,3 Prozent im Jahr 2015 zurück. Die Verwendung von Morphin zur Linderung der Symptome unter Berücksichtigung einer möglichen Beschleunigung des Todes erhöhte sich von 19 Prozent aller Todesfälle 1990 auf 36 Prozent in den Jahren 2010 und 2015. Eine kontinuierliche tiefe Sedierung wurde in 8,2 Prozent aller Patienten im Jahr 2005 und in 18,3 Prozent im Jahr 2015 zur Verfügung gestellt; diese Praxis umfasste, in 83 bzw. 95 Prozent aller Fälle, die Verwendung von Benzodiazepinen, oft kombiniert mit einem Opioid.

Die Arzthilfe beim Sterben wird hauptsächlich von Hausärzten durchgeführt (93 Prozent der Fälle im Jahr 2015). […] Die Verwendung von potenziell lebensverkürzenden Medikamenten und einer kontinuierlichen tiefen Sedierung zur Linderung des Leidens am Lebensende ist in den Niederlanden üblich geworden.“

Entsprechend attestierte das Deutsche Ärzteblatt im August 2017: „Bilanz nach 15 Jahren: Sterbehilfe in den Niederlanden fest etabliert“.

In der Klarheit der Auffassungen niederländischer Ärzte zeigte sich das breite Spektrum einer ärztlichen Sterbebegleitung von Patienten, die zum Lebenskonzept des Patienten passt. In Deutschland, so die Autorin Beate Lakotta, bereits 2008, ist die Situation anders: „Ein ethischer Limes verläuft zwischen den Vertretern der christlich-abendländisch geprägten Ethik und denen der Nützlichkeitsethik angelsächsischen Ursprungs, zwischen medizinischem Paternalismus und Patientenautonomie, zwischen dem Fürsorgeprinzip und dem der Selbstbestimmung.“

Oder anders gesagt: Die Leugnung von Palliativ-Medizinern in Deutschland, dass ihre Maßnehmen nicht nur Leidensverringerung zu sein, sondern auch Lebensverkürzung in Kauf zu nehmen und damit eine Variante in der Sterbehilfe zu sein, gilt für die Ärzte in den Niederlanden nicht.

(CF)