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Ethikunterricht, Religiosität und Gesellschaft

Hat die Einführung des Ethikunterrichts in den deutschen Bundesländern zwischen 1972 und 2004 die religiösen Einstellungen und das Verhalten der Deutschen verändert? Das legt eine neue Studie des ifo Instituts nahe. Darüber hinaus scheint die Einführung des Ethikunterrichts auch Auswirkungen auf Geschlechterrollen, den Arbeitsmarkt, aber nicht auf politische Einstellungen oder ethische Werte gehabt zu haben.

Von Nico Büttner

Eine neue Studie des ifo Instituts zeigt, dass die Abschaffung des verpflichtenden Religionsunterrichts an deutschen Schulen und die damit verbundene Einführung des Ethikunterrichts als alternatives Schulfach die Einstellungen und Lebensrealitäten der Deutschen verändert hat: Benjamin W. Arold / Ludger Woessmann / Larissa Zierow: “Can Schools Change Religious Attitudes? Evidence from German State Reforms of Compulsory Religious Education” (CESifo Working Paper No. 9504/2022).

Genauer gesagt zeigen Arold, Woessmann und Zierow, dass die Abschaffung des verpflichtenden Religionsunterrichts in Deutschland einen Rückgang der Religiosität, der Häufigkeit des Betens, des Kirchgangs sowie der Kirchenmitgliedschaften zur Folge hatte. Darüber hinaus hatten die Reformen auch sozio-demographische Auswirkungen. So beobachten die Autoren einen Rückgang von Eheschließungen und Geburten sowie von konservativen Geschlechtereinstellungen ausgelöst durch die Reformen. Auch auf den Arbeitsmarkt gab es Auswirkungen. So findet die Studie, dass jene Alterskohorten, die die Möglichkeit hatten zwischen Religions- und Ethikunterricht zu wählen, eine höhere Erwerbsbeteiligung, geringere Arbeitslosigkeit, höhere Einkommen sowie eine längere Arbeitszeit aufweisen. Keinen Einfluss fand sich hingegen für politische Faktoren wie z. B. das politische Interesse, die Zufriedenheit mit der Demokratie, oder die politische Links-Rechts-Selbsteinstufung. Ebenfalls keine Effekte finden die Autoren für ethische Werte, z. B. Reziprozität, Vertrauen in andere, die Wahrscheinlichkeit sich gesellschaftlich zu engagieren oder die subjektive Lebenszufriedenheit.

Der Weg zur Einführung des Ethikunterrichts

Aus historischer Sicht untersucht die Studie einen wichtigen Wandel in der deutschen Gesetzgebung in Bezug auf die Rolle der Kirchen in den Klassenzimmern. Die gesellschaftliche Verflechtung zwischen Staat und Kirche hat in Deutschland eine lange Tradition. So verweisen die Autoren der Studie u. a. auf die als Kulturkampf bezeichnete Auseinandersetzung zwischen der katholischen Kirche und Preußen unter Otto von Bismarck. 1872 trat in diesem Zusammenhang das Preußische Schulaufsichtsgesetz in Kraft. Dieses entzog zwar der katholischen Kirche die Aufsicht über die preußischen Schulen, welche nun durch den Staat ausgeübt wurde. Der starke Einfluss der Kirchen durch den Religionsunterricht in öffentlichen Schulen blieb durch die Reform jedoch unangetastet. Dieser setzte sich bis in die Bundesrepublik fort. Artikel 7 des Grundgesetzes schreibt den Religionsunterricht als reguläres Fach an öffentlichen Schulen fest, welcher maßgeblich von den Kirchen inhaltlich bestimmt wird. Bis zu den in der Studie beschriebenen Reformen musste der Religionsunterricht von allen Schülerinnen und Schülern besucht werden. Lediglich in Berlin und Bremen war dies in der neu gegründeten Bundesrepublik von Anfang an nicht der Fall. Nichtteilnahme konnte nur von Seiten der Eltern oder des Kindes ab Vollendung des 14. Lebensjahres unter bestimmten Umständen beantragt werden. Dies war jedoch lange eine absolute Seltenheit.

Erst mit Beginn der 1970er Jahre begann sich diese Situation zumindest teilweise zu ändern. Ironischerweise wurde diese Entwicklung selbst von den beiden deutschen Großkirchen mit angestoßen. Nachdem sich im Laufe der 68er-Bewegung eine immer größer werdende Anzahl an Kindern vom Religionsunterricht abmeldete, um stattdessen mehr Freizeit zu genießen, stieg der Druck auf die Politik ein Ersatzfach, den Ethikunterricht, verpflichtend anzubieten. Dieser wurde zwischen 1972 und 2004 von allen deutschen Bundesländern mit Ausnahme des Saarlands eingeführt. Vorreiter war 1972 Bayern, Schlusslicht 2004 waren Hamburg und Nordrhein-Westfalen. Der Zeitpunkt dieser Entscheidung scheint dabei nicht von der parteipolitischen Zusammensetzung der jeweiligen Regierungen abhängig gewesen zu sein. In der Tat wurde die Hälfte der Reformen von Unions-geführten, die andere Hälfte von SPD-geführten Landesregierungen umgesetzt. Auch der Zeitpunkt der Reformen scheint keinem klaren parteipolitischen Muster zu folgen, da die Einführung des Ethikunterrichts zeitlich immer abwechselnd von einer eher linken bzw. einer eher konservativen Regierung durchgesetzt wurde. Diese Tatsache ermöglicht es den Autoren mit größerer Sicherheit auszuschließen, dass die Einführung des Ethikunterrichts durch geringere Religiosität in manchen Bundesländern verursacht wurde.

Stärken der Studie

Darüber hinaus bietet die Tatsache, dass Bildung in Deutschland Ländersache ist, aus statistischer Sicht eine hervorragende Gelegenheit Kausalität von purer Korrelation zu unterscheiden. Dafür zogen die Autoren repräsentative Umfragedaten heran, auf deren Basis sie ermittelten, ob die Umfrageteilnehmerinnen und -teilnehmer zur Zeit der Reformen im jeweiligen Bundesland zur Schule gingen. Da sich die Zeitpunkte der Einführung des Ethikunterrichts in Deutschland für die jeweiligen westdeutschen Bundesländer stark unterscheiden, kann damit die Gefahr verringert werden, dass die von den Autoren beschriebenen Effekte durch andere Zusammenhänge als durch die Einführung des Ethikunterrichts erklärt werden können.

Versuchen wir das anhand eines Beispiels deutlich zu machen. Zwischen 1972 und 2004 hat sich das Verhältnis der Deutschen zu den Kirchen und zu Religion deutlich verändert. Allgemein ist das beschriebene Zeitfenster in Deutschland durch eine maßgebliche gesellschaftliche Liberalisierung gekennzeichnet. Diese ging auch an den Kirchen nicht spurlos vorbei, welche in diesem Zeitraum deutlich an Einfluss innerhalb der Bevölkerung verloren. Während 1975 beispielsweise noch 40 Prozent der Westdeutschen jeden oder fast jeden Sonntag den Gottesdienst besuchten, waren dies 1999 laut Umfragen von Allensbach nur noch 26 Prozent. Die Autoren vergleichen in ihrer Studie jedoch die Einstellungen von Befragten mit gleichem Alter, die jedoch aufgrund unterschiedlicher Gesetzgebungen in den Bundesländern entweder zwischen Ethik- und Religionsunterricht wählen konnten oder notwendigerweise den Religionsunterricht besuchen mussten. So wird von den Studienautoren beispielsweise eine Person, die 1972 in Bayern eingeschult wurde, als von der Reform betroffen eingestuft, während dies nicht für eine ebenfalls 1972 in Baden-Württemberg eingeschulte Person gilt. Gleichermaßen stufen die Autoren eine Person, die in Bayern vor Einführung des Ethikunterrichts eingeschult wurde, also vor 1972, als nicht von der Reform betroffen ein. Diese Einstufung wird für alle Umfrageteilnehmerinnen und -teilnehmen basierend auf dem jeweiligen Zeitpunkt der Einführung des Ethikunterrichts in ihrem Bundesland so durchgeführt. Durch diese Vorgehensweise kann z. B. ausgeschlossen werden, dass bundesweite Trends wie der Rückgang des Gottesdienstbesuches zwischen 1975 und 2004 die Ergebnisse der Studie verfälschen, solange diese nicht durch die Einführung des Ethikunterrichts ausgelöst wurden. Diese Vorgehensweise wird in der statistischen Datenanalyse auch als difference in differences analysis bezeichnet.

Hat der Ethikunterricht den Religionsunterricht verändert?

Alles in allem überzeugt die Studie von Arold, Woessmann und Zierrow. Leider ermöglichen es die Daten den Autoren jedoch nicht, den Effekt der Wahlfreiheit zwischen Ethik- und Religionsunterricht separat für jene Personen zu untersuchen, die den Ethik- bzw. einen konfessionellen Religionsunterricht besucht haben. Dies wäre eine interessante Analyse gewesen, mit deren Hilfe wir noch genauer den kausalen Mechanismus der Reform hätten feststellen können. Die Autoren spekulieren in ihrer Studie, dass die Einführung des Ethikunterrichts auch eine Auswirkung auf jene Schülerinnen und Schüler gehabt haben könnte, die den Religionsunterricht besucht haben. So beschreiben sie, dass sich der Lehrplan des Religionsunterrichts nach der Einführung des Ethikunterrichts in der Regel veränderte. Während zuvor vor allem die Vermittlung christlicher Dogmen im Religionsunterricht eine zentrale Rolle einnahm, wurden Schülerinnen und Schüler nach Einführung des Ethikunterrichts auch im Religionsunterricht ermutigt ihre eigenen Entscheidungen unter Berücksichtigung christlicher Werte zu treffen. Es ist gut möglich, dass durch die Einführung des Ethikunterrichts auch der neue konfessionelle Religionsunterricht beim Rückgang der Religiosität in Deutschland einen Beitrag geleistet hat.

Mehr Zurückhaltung bei der Öffentlichkeitsarbeit

Kritikwürdig sind hingegen Teile der Öffentlichkeitsarbeit des ifo-Instituts zur Studie sowie die Berichterstattung mancher Medienhäuser. So lässt die Presseaussendung des Instituts den Schluss zu, dass die Liberalisierung der Geschlechterrollen in Deutschland im Wesentlichen durch die Einführung des Ethikunterrichts ausgelöst wurde. So heißt es auf der Website des ifo: „Gleichzeitig hat sie [die Einführung des Ethikunterrichts] traditionelle Geschlechterrollen zurückgedrängt“. Diese Schlussfolgerung geben die vergleichsweisen geringen Effekte der Studie schlicht nicht her. Auch die Aussage, dass der durch die Einführung des Ethikunterrichts ausgelöste Rückgang in der Religiosität der Deutschen „mit weitreichenden Folgen für Familien und Arbeitsmarkt“ einhergegangen sei, ist mehr Übertreibung als Wahrheit. Unglücklicherweise wurde diese irreführenden Aussagen von einigen Medienhäusern übernommen, so im SPIEGEL und auch vom Bayerischen Rundfunk. Insbesondere die Berichterstattung von katholisch.de: „Studie: Ethikunterricht verringert Religiosität und Gottesdienstbesuch“ ist mehr Polemik als angemessener Wissenschaftsjournalismus. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Konklusion, dass „die Unterrichtsreform nach Meinung der Wissenschaftler nicht die Lebenszufriedenheit oder ethisches Verhalten wie etwa ein ehrenamtliches Engagement“. Das Fehlen eines Effektes hat nichts mit der Meinung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu tun. Positiv hervorzuheben ist dagegen der ausgewogene Artikel von Anita Hirschbeck vom Domradio. In diesem betont die Autorin richtigerweise, dass „die Wahlmöglichkeit zwischen zwei Fächern natürlich nicht der einzige Anstoß für bestimmte Entwicklungen ist“. Ich kann mich dieser Aussage nur anschließen.

Für Freigeister innerhalb als auch außerhalb der säkularen Szene sind die Ergebnisse dieser Studie trotzdem in jedem Fall erfreulich. Wer nicht vom Staat in frühster Kindheit christliche Dogmen eingebläut bekommt, trifft im Erwachsenenalter nicht nur selbstbestimmte Entscheidungen in Bezug auf die eigene Religion. Menschen, die während ihrer Schullaufbahn die Wahl zwischen Religion und Ethik hatten, sind auch im Berufsleben mit größerer Wahrscheinlichkeit eine Stütze der Gesellschaft, respektieren eher die Rolle der Frau und verhalten sich dabei trotzdem ethisch. Wer unter diesen Umständen Freiheit nicht wertzuschätzen lernt, wird dies wohl auch sonst nicht mehr tun.