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Von Gottesleugnern und Sterblichen

fowid-Notiz: Der Priester und Pastoraltheologe Paul M. Zulehner hat in „Wandlung“ die umfangreichen Ergebnisse einer aktuellen Umfrage und einer Langzeitstudie „Religion im Leben der Österreicher*innen 1970-2020“ vorgelegt. Zum einen bestätigen sich die generellen Trends des gravierenden Rückgangs der Gottesgläubigkeit und der Religiosität in Westeuropa, zum anderen kann man als Säkularer diesen Text mit großer Fröhlichkeit lesen, da er in diversen Darstellungen explizit verdeutlicht, wie eigenartig und abfällig ein Theologe sein Weltbild gegenüber Konfessionsfreien organisiert.

Von Carsten Frerk.

Im ersten Hauptteil von „Wandlung“ (Seite 33 – 199) werden ausführlich die Ergebnisse der aktuellen Umfrage zu Religion in Österreich 2020 referiert, im zweiten Hauptteil (Seite 202 – 265) werden in einer Längsschnittanalyse die Ergebnisse der sechs Befragungen von 1970 bis 2020 in vier Segmenten dargestellt (Wandlung der Religiosität / Wandlung im Glaubenskosmos / Wandlung der Commitments / Wandlung in den Auswirkungen des Sozioreligiösen). In dieser Notiz seien nur wenige Beispiele vorgestellt.

Aussagen über Gott, Religiosität

Aus der Vielzahl der 153 Tabellen seien drei ausgewählt, in denen das zentrale Glaubensthema „Gott“ eine wesentliche Rolle spielt.

Die größten Veränderungen im Gottesglauben – es ist das zentrale Glaubenselement - ist der Glaube an einen Gott selber, „denn irgendjemand muss die Welt erschaffen haben“ (von 88 Prozent Zustimmung auf 51 Prozent) sowie die Zustimmung zur Sinnlosigkeit des Lebens, „wenn es mir nicht gelingt, Gott zu erkennen und zu lieben“ (von 52 Prozent auf 20 Prozent). Diese letztgenannte Gruppe nennt Zulehner wörtlich „Hardcore-Gottgläubige“ (S. 211) – eine in der Religionssoziologie und der Theologie vielleicht unerwartete Begrifflichkeit, mit der aber vermutlich ausgedrückt werden soll, dass diese Menschen tatsächlich an Gott glauben und nicht nur so tun als ob.

Die größten Diskrepanzen zwischen den Wichtigkeiten des Lebens zeigen sich in den ‚Bindungssituationen‘ wie „Kinder haben“ (- 14) oder „verheiratet sein“ (-28) und insbesondere „an Gott glauben“ (- 36 Prozentpunkte). Das führt Zulehner in einer weiteren Auswertung auf die Säkularen zurück (S. 253/254):

„KIRCHLICHE setzen also mehr auf die Bildung eines Lebensraums für Kinder, der geprägt ist von Stabilität und Liebe, als die SÄKULAREN. Das scheint auch ein Hinweis darauf zu sein, dass im Prägeraum einer Religion die Fähigkeit wirksam gefördert wird, für Kinder solidarische eigene Lebensressourcen freizugeben. Die Befreiung zu handfester Solidarität sich auch auf zivilgesellschaftliches Engagement auszuweiten. Kurzum, KIRCHLICHE erweisen einer kinderarmen Gesellschaft mit ihrer überdurchschnittlich hohen Bewertung von stabilen Beziehungen und Kindern einen guten Dienst.“

Abgesehen davon, dass in der Argumentation die Zustimmung zu formalen Aussagen mit inhaltlich positiven Elementen gleichgesetzt wird, fehlt auch jeder Beleg für diese Bewertungen als gelebte reale Qualität.

Für die Entwicklung der Religiosität definiert Zulehner aufgrund einer Clusteranalyse von sechs Glaubensaussagen vier Typen der Religiosität: 1. Lebensreligiöse (Religion ist lebensrelevant, für das Berufsleben, wenn es Bedarf an Hoffnungen gibt und schwierige Situationen zu meistern sind), 2. Trostreligiöse (die zuversichtliche Gefühle suchen), 3. Notreligiöse (Mit schwacher Religiosität, aber ‚Not lehrt beten‘), 4. Unreligiöse (für die Religion keinerlei Funktionen hat, von denen aber 36 Prozent angeben, religiös zu sein.)

In den fünfzig Jahren von 1970 bis 2020 hat sich der Anteil der „Lebensreligiösen“ von rund der Hälfte der Befragten (1970: 46 Prozent) auf 11 Prozent reduziert. Daran sind zwei Aspekte bemerkenswert. Zum einen, wie passen diese 11 Prozent „Lebensreligiöse“ zu den 20 Prozent „Hardcore-Gottgläubigen“ (der Tabelle 2)? Zum anderen ist es eigenartig, was Zulehner zu dieser Tabelle selber (S. 206) schreibt:

„Mit Hilfe dieser Typologie der Religiosität lässt sich auch kompakt darstellen, wie sich die typische Religiosität der Menschen im Lauf des halben Jahrhunderts gewandelt hat. Der Anteil der lebensbezogenen Religiosität hat sich seit 1980 mehr als halbiert (1980 26%, 2020 11 %), jener der religiös Unmusikalischen sich im sel­ben Zeitraum nahezu verdoppelt (1980 19%; 2020 34%). Unveränderlich blieben hingegen die Anteile jener, die in der Religion Trost suchen und die in der Not beten. Religiosität erscheint zunehmend „spezialisiert“ als heilende Kraft der Seelen. Die Gestaltungskraft für das weltliche Leben hat hingegen abgenommen. […]
Das belegt nicht den Untergang der Religiosität, wohl aber signalisiert dies eine markante Wandlung: Religiosität hat sich aus dem „weltlichen“ Leben zurückgezogen; zumal im beruflichen Bereich herrschen rationale Gesetze. Ihren Ort im Seelenhaushalt aber hat Religiosität weithin behalten. So ist Religion in einem wohlverstandenen, durchaus positiven Sinn ‚privatisiert‘, ist eine Sache der Person, der intimen Gefühle und gegebenenfalls des Überlebenskampfes geworden.“

Wieder ist es eine inhaltliche Interpretation der Daten ohne Belege und das in der Tabelle dargestellte Umfragejahr 1970 wird einfach ausgeblendet, so dass die gravierende Verringerung der „Lebensreligiösen“ von 46 auf 11 Prozent, sich erheblich geringer (von 26 auf 11) darstellt.

Was auf den ersten Blick wie ein Korrekturfehler aussieht, hat jedoch System. Paul Zulehner ‚tanzt auf zwei Hochzeiten‘ gleichzeitig. Zum einen als Religionssoziologe, zum anderen als predigender christlicher Pastoraltheologe, der seine Aufgabe darin sieht, die Kirchenmitglieder zu trösten, im Sinne von: Die Welt ist zwar im Wandel, aber es ist alles nicht so schlimm, nur bunter – bleibt stark im Glauben. Das führt sogar zur Geschichtsklitterung, wenn er die Anbetung Gottes als „widerstandsfähigsten Gegner totalitärer Systeme“ (S. 82) beschreibt.

„In dieser Wirkung der Religion steckt im Übrigen ihre größte Gefährlichkeit. Denn die Bezogenheit auf einen Gott entzieht den wahrhaft Religiösen allen ‚Zugriffen‘ totalitärer Systeme, die es in vielfältigen Ausformungen gibt, in der Politik, im Konsum, in der Verwaltung. Das Innerste der Religion, die Anbetung Gottes, ist somit höchst ‚politisch‘. Das ist vermutlich auch der Grund, warum die wahrhaft religiösen, auf Gott rückgebundenen Menschen, immer die widerstandsfähigsten Gegner totalitärer Systeme waren und lieber als Märtyrer ihr Leben preisgaben, als sich Unrechtssystemen zu unterwerfen.“

Ein Hinweis auf den Klerikalfaschismus/Austrofaschismus soll hier genügen.

Gottesleugner und Sterbliche

Es ist nur selten, dass man als Säkularer einen Text der Religionssoziologe mit großer Fröhlichkeit lesen kann. Bei diesem Text und generell dem Weltbild und damit der Sprache des Priesters und Pastoraltheologen Paul Zulehner geht das ausgezeichnet, denn kann man viele Male nur amüsiert den Kopf schütteln, wie ein Theologe empirische Befunde aus seiner Weltsicht beschreibt bzw. benennt.

So ein Begriff ist die feststellbare „Verbuntung“ der Gesellschaft und des Glaubens. Zulehner gebraucht den Begriff seit mindestens zehn Jahren, 1973 hatte er sich noch mit einer Arbeit über die Säkularisierung habilitiert. Gemeint ist das in etwa gleiche Phänomen, dass den Kirchen die Mitglieder abhandenkommen und die Religiosität wie die Glaubenspraxis sich drastisch verringern.

Aber diese sprachliche „Verbuntung“ ergibt bei Zulehner einen inneren Sinn, da für ihn – als christlichen Theologen – alle (!) Menschen auf Gott ausgerichtet sind. Seine Klassifizierung reicht nur von „Christgläubige“ über „Gottgläubige“ und „Gottzweifelnde“ bis hin zu den „Gottesleugnenden“, gleichbedeutend mit „Atheisten“ – ganz im Sinne des US-Regisseurs und Komödianten Woody Allen, der gesagt haben soll:  „Für dich bin ich Atheist. Für Gott die treue Opposition.“

In dieser Hinsicht ist es dann auch nicht verwunderlich, wenn es in der Verlagswerbung (und auf der 4. Umschlagseite des Buches) heißt:

„Den Verantwortlichen in allen Bereichen gesellschaftlichen wie kirchlichen Lebens bietet das Werk eine hervorragende Grundlage für ihre Entscheidungen inmitten bewegter und komplexer Wandlung. Auch die religionssoziologische Forschung wird ermutigt, von alten Deutungsannahmen wie jener der Säkularisierungshypothese endgültig Abschied zu nehmen.“

Eine andere erheiternde Kategorisierung Zulehners ist die in „Unsterbliche“ und „Sterbliche“. Die „Unsterblichen“ sind dabei nicht die klassischen Götter oder Ikonen der Pop-Musik („Elvis lebt!“), sondern die Gottesgläubigen der abrahamitischen Religionen, denn auf sie warte ja nach ihrem irdischen Dasein das Himmelreich. Wie es die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Bischöfin Margot Käßmann einmal (2012) sagte: „Der Tod ist kein Punkt, sondern ein Doppelpunkt“. In der Kategorisierung Paul Zuhlehners heißt es zu den „Sterblichen“ im Original:

„Welche Folgen es zeitigt, wenn das Leben ‚die letzte Gelegenheit‘ für unsere Glücksuche ist, hat die Soziologin Marianne Gronemeyer bedacht. Sie beobachtet, dass eine (ausschließlich) diesseitsorientierte Kultur es dem Menschen verunmöglicht, ungestillte Anteile seiner maßlosen Sehnsucht nach Leben, Glück, Liebe in ein Jenseits auszulagern (outzusourcen) und daher mit den Fragmenten des Glücks in einer Lebenszeit von 80 oder 90 Jahren zufrieden zu sein. Der Mensch ohne Jenseitshoffnung habe nur die Möglichkeit, mit einer nur mäßigen Erfüllung seiner maßlosen Sehnsucht das Auslangen zu finden oder diese zu ermäßigen (wozu ein popularisierter Buddhismus rät, um leidfrei zu werden), oder in großer Hast einer Erfüllung der maßlosen Sehnsucht in mäßiger Zeit nachzujagen. Das führe, so Gronemeyer, zu einem hastigen, anfordernden und überfordernden Leben, das geprägt ist von der Angst, zu kurz zu kommen. Diese Angst wiederum entsolidarisiere die Menschen voneinander und mache sie zu gnadenlosen Glücksrivalen. Diesseitigkeit ist somit durch Zeitknappheit geprägt.“

Das wird in einer Gegenüberstellung der „Sterblichen“ zu den „Unsterblichen“ noch amüsanter. Zulehner charakterisiert (S. 13) die beiden „Lager‘ klar und unmissverständlich:

„Die Glaubensfesten der beiden gegensätzlichen Lager sind in ihrer Weltdeutung gut erkennbar und bilden klar abgrenzbare Pole:

  • Die ‚Sterblichen‘ tendieren in allen drei sozioreligiösen Aspekten zu ‚Nullwerten‘: Sie bezeichnen sich subjektiv nicht als religiös, ihr Glaubenskosmos ist leer, sie sind höchstens bei besonderen Anlässen (wie einer Beerdigung von Angehörigen) in einer kirchlichen Feier präsent, und das nicht aus religiösen Motiven, sondern aus Respekt vor kulturellen Gepflogenheiten.
  • Die ‚Unsterblichen‘ verankern ihr vergängliches Leben in einem unvergänglichen Himmel, in dem (ein liebender) Gott wohnt. Sie ‚bewohnen‘ ein reichlich ausgestattetes Glaubenshaus mit einem Himmel, besiedelt von Engeln und Heiligen als mit einer Hölle und einem Teufel, und engagieren sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit in einer religiösen Gemeinschaft, deren Hauptaufgabe sie darin erblicken, (für sie/kulturell) Gott in Erinnerung zu halten und ein menschenwürdiges Leben unter einem offenen Himmel zu fördern.“

Da ergeben sich Fragen: 1. Haben die „Sterblichen“ freundlicherweise die Möglichkeit, selber auszuwählen, was für eine „Null“ sie sind? Eine Null beim Scheibenschießen oder ein Null-Spiel beim Skat? Und 2. Zudem ist die Frage, wie Menschen/Theologen mit einer Schwarz-Weiß-Weltanschauung (Sterblich/Unsterblich) überhaupt eine „Verbuntung“ erkennen können? Da gehen doch nur Schattierungen von Grau?

Heidenangst

In einem längeren Beitrag auf seinem persönlichen Blog schreibt Paul Zulehner im August 2016 einen Beitrag „Der Angstfurcht Vertrauen abgewinnen“, in dem er sich mit der „Flüchtlingskrise“ beschäftigt. Darin gibt es einen Abschnitt „Heidenangst und Gottesfurcht“:

„Keine Frage, für die einzelnen Menschen wie für die Politik wäre es ein Segen, würden die Ängste schrumpfen und das Vertrauen wachsen. Dabei könnten die Religionen mithelfen. An die Stelle der ‚Heidenangst‘, die viele moderne Menschen erfasst hat, könnte Gottvertrauen treten. Solches beginnt mit Gottesfurcht, lehren die heiligen Schriften: also mit einem Ernstnehmen Gottes, als ein liebendes Sich-auf-Gott-verlassen. Solche Gottesfurcht vertreibt die Furcht, weil sich diese mit der Liebe nicht verträgt (1 Joh 4,18).
Von der religiösen Erfahrung mit Gottesfurcht lässt sich lernen, dass Furcht nicht mit lähmender Angst einhergehen muss, sondern auch Respekt auslöst. So kann die durchaus vernünftige Furcht vor Fremden und anderen Kulturen wertschätzenden und anerkennenden Respekt vor diesen auslösen. Wo aber Respekt ist, kann der Fremde als Geschenk und Reichtum wahrgenommen werden. Das gilt biblisch für Gott, den Gast und die Fremden. Gott, den Gläubige in ihrer Liebe ‚fürchten‘, ist für sie gleichzeitig eine Quelle der Bereicherung an Leben und Farbe. Es wäre in unserer angespannten Situation gut, wenn im Zusammenleben mit den vielen Frieden und Sicherheit suchenden Menschen, die aus uns fremden Kulturen kommen, Respekt die Grundmelodie wäre und die Chance entdeckt wird, dass die, die wir zunächst fürchten, uns beschenken können.“

Diese Position ergänzt er auch 2020 anlässlich der Corona-Pandemie, indem er wieder auf die Heidenangst verweist: „In der Religion Verwurzelte nehmen die Krise gelassener.“ Eine Darstellung, die auch von Vaticannews umgehend aufgenommen wird:

„Seine jetzt in Buchform (‚Wandlung‘, Grünewald-Verlag 2020) veröffentlichte Langzeitstudie ‚Religion im Leben der Österreicher*innen 1970-2020‘ bedeute für die aktuelle Corona-Krise: ‚Bei den einen kann die unerwartete Provokation durch das gesichtslose Virus eine ‚Heidenangst‘ auslösen. Wirklich fest in der Religion Verwurzelte könnten gelassener bleiben“, sagte Zulehner der Katholischen Presseagentur Österreich.
Er gehe aufgrund seiner Erkenntnisse davon aus, dass gerade in Krisenzeiten noch mehr Menschen ‚insgeheim den bergenden Raum einer hoffentlich offenen Kirche aufsuchen und das Gefühl mitnehmen, in einer größeren Wirklichkeit geborgen zu sein‘. Entscheidend sei die Gewissheit, dass das Leben nach dem Tod weitergehe, erklärt Zulehner.“

Er sei aber skeptisch, denn: „Auffällig ist, dass deutlich mehr Männer (36 Prozent) als Frauen (23 Prozent) und grundsätzlich Jüngere, Kinderlose und Höhergebildete eher dem Glauben abgewandt, also - wie Zulehner schreibt – ‚verdiesseitigt‘, seien.“

Ist „Verdiesseitigung“ eine Art ansteckender Hautausschlag oder sind das Pickel?

Sei‘s drum, Tatsache ist, dass Gottesdienste untersagt wurden und dass die unsterblichen Glaubensüberzeugten, die dennoch Gottesdienste und Chorproben in Kirchen abhielten, durchaus auch zu ‚Hot-Spots‘ der Corona-Infektionen wurden.

Und so, wie Zulehner den „Verdiesseitigten“. den „Sterblichen“ und „Gottesleugnern“ jegliche realitätsgerechte Empathie abspricht und ihnen „Heidenangst“ attestiert, werden diese nach Überstehen der Corona-Pandemie einen „Heidenlärm“ veranstalten und einen „Heidenspaß“ miteinander erleben.

Übrigens: Das Wort oder die Vorstellung eines „Christenspaß“ existiert nicht. Stattdessen gibt es für die unsterblichen Bewohner im „reichlich ausgestatten Glaubenshaus“ u. a. eine „Höllenqual“.

Wie‘s beliebt.

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Paul M. Zulehner: „Wandlung“. Religionen und Kirchen inmitten kultureller Transformation. Ergebnisse der Langzeitstudie Religion im Leben der Österreicher*innen 1970-2020. Grünewald Verlag, 2020, 272 Seiten. 32,00 €.