Kirchenmitglieder in Großstädten, Auswertungen.
2021 gab es eine Zäsur in der Kirchenmitgliedschaft in Deutschland, da die Anzahl der Kirchenmitglieder unter die Hälfte der Bevölkerung (49,7 Prozent) abgesunken war. Ein Trend, der sich auch 2022 weiter fortsetzte (47,4 Prozent Kirchenmitglieder). Von den 40 Großstädten (mit mehr als 200.000 Einwohnern) haben Ende 2022 nur noch fünf Großstädte eine (zum Teil knappe) Mehrheit an Kirchenmitgliedern. Die Auswertung der Daten zeigt die generellen Trends, die seit 1970 stattfinden und sich in den vergangenen zehn Jahren verstärkt haben.
Von Carsten Frerk und Eberhard Funk.
1. Vorbemerkung/Datenbasis
2. Alle Städte?
3. Einwohnerzahlen?
4. Anteile Kirchenmitglieder / Länder
5. Evangelische/Römische Katholiken
6. Stadt-Land-Unterschiede
7. Weitere Aspekte
8. Trendgeschwindigkeit
1. Vorbemerkung / Datenbasis
Dieses ist der zweite Teil der Recherche zur Anzahl der Kirchenmitglieder in 40 deutschen Großstädten (mit über 200.000 Einwohnern), deren ersten Teil – die Tabellen mit den Daten – bereits veröffentlicht wurde: „Kirchenmitglieder in Großstädten, die Daten“. In den erfassten 40 Großstädten (über 200.000 Einwohner) leben zum Jahresende 2022 rund 21.563.000 Personen, das ist (bei einer Gesamtbevölkerung in Deutschland von 84.359.000 Personen) ein Anteil von einem Viertel (25,67 Prozent) der Bevölkerung.
Von den 40 Großstädte (über 200.000 Einwohner) sind vier Millionenstädte, 11 weitere haben eine Bevölkerung von 500 – 800.000 Einwohner, die übrigen 25 weniger als 400.000 Einwohner. In dieser Gesamtauflistung befinden sich 13 Landeshauptstädte. Saarbrücken (185.000) Potsdam (178.000) liegen knapp darunter, Schwerin (96.000 Einwohner) ist keine Großstadt.
2. Alle Städte?
Berücksichtigt wurden in den Auswertungen nur vornehmlich die westdeutschen Großstädte. Für die acht Großstädte in den östlichen Bundesländern (inkl. Berlin) gibt es keine Daten für die Jahre bis 1990/1992, da in der DDR die Religionszugehörigkeit statistisch nicht erfasst wurde. Insofern ergibt sich kein Zeitverlauf und auch, beispielsweise, keine Jahresangabe, wann die Anzahl der Kirchenmitglieder unter die 50-Prozent-Marke abgesunken ist. Aktuell lässt sich nur feststellen, dass die Anzahl der Kirchenmitglieder in den erfassten Großstädten in Ostdeutschland unter 20 Prozent liegt, bei einem Mittelwert (ohne Berlin) von 13 Prozent.
Warum sich die Anzahl der Kirchenmitglieder in der DDR verringert hat, wurde u. a. in zwei ausführlichen Fowid-Artikeln erläutert. Zum einen in: „Taufen und Konfirmationen in der DDR“ mit dem Tenor einer langsamen Entkirchlichung, zum anderen in: „Kirchenaustritte und Kirchenmitglieder in der DDR“ mit dem Tenor, dass es nicht vorrangig die Kirchenaustritte waren, sondern der Rückzug aus dem kirchlichen Leben, insbesondere den fehlenden Taufen.
3. Einwohnerzahl?
Hinsichtlich der Frage, ob die Einwohnerzahl eine Rolle spielt – im Sinne von „je größer die Städte, umso geringer die Anteile der Kirchenmitglieder“ – zeigte sich bereits in Übersicht 1, dass sich das nicht bestätigen lässt. Noch deutlicher wird das in einer Abfolge der Städte nach dem Anteil der Kirchenmitglieder.
Auch in dieser Abfolge ergibt sich kein Hinweis darauf, dass die Größe der Einwohnerzahl eine Erklärung für die Veränderungen sei.
Es zeigt sich ebenfalls, dass es keinen ‚Automatismus‘ in der Weise gibt, dass Großstadt quasi automatisch weniger Kirchenmitglieder bedeutet. Von den 40 erfassten Großstädten über 200.000 Einwohner haben 2022 noch fünf eine Mehrheit an Kirchenmitgliedern (Münster, Mönchengladbach, Oberhausen, Bochum und Essen). Alle fünf sind im Ruhrgebiet und habe eine Gemeinsamkeit: sie sind traditionell mehrheitlich katholisch. Bochum und Essen werden voraussichtlich Ende 2023 aber ebenfalls weniger als die Hälfte der Einwohner als Kirchenmitglieder zählen.
4. Anteile Kirchenmitglieder / Länder
Die Tatsache, dass die fünf Großstädte mit einer Mehrheit an Kirchenmitgliedern sich alle in NRW befinden, legt nahe, eine Gruppierung der Großstädte nach Bundesländern vorzunehmen.
Dabei zeigt sich nicht nur, dass 15 der 40 Großstädte in NRW liegen. Die Großstädte in NRW haben ebenfalls, den höchsten Anteil an Kirchenmitgliedern (47,3 Prozent), was in etwa dem Bundesdurchschnitt entspricht.
In der Reihung der Bundesländer nach Anteil der Kirchenmitglieder zeigt sich für die westdeutschen Bundesländer eine klare Nord-Mittel-Südverteilung, die man auch mit mehr oder minder evangelisch bzw. katholisch übersetzen kann.
5. Evangelische/Römische Katholiken
Um dieser Frage nachzugehen, wurden die Großstädte nach der (ehemals) vorherrschenden Religion bewertet und in der Reihenfolge des Anteils der Kirchenmitglieder sortiert. Es zeigt sich, dass für die geringeren Anteile der Kirchenmitglieder vor allem die (ehemals) evangelisch dominierten Großstädte zuständig sind. Einzige Ausnahmen sind die Millionenstädte München und Köln, ebenso die Landeshauptstadt Düsseldorf.
Grafisch umgesetzt wird deutlich, dass der Trend weitestgehend – auf unterschiedlichen Niveaus – parallel zueinander verläuft. Der Rückgang der Kirchenmitglieder beginnt erst nach 1970 und bekommt 1987-2000 noch einen stärkeren ‚Schwung. Von 2000 bis 2011 gibt es dann nur relativ kleinere Veränderungen, bis sich von 2011 bis 2022 die Entwicklung wieder verstärkt.
Um der Frage nachzugehen, wie sich die Konfessionsverteilungen unterscheiden, wurden die westdeutschen Großstädte in vier Gruppen von ‚Religionstypen‘ unterteilt: In Städte mit dominierenden Evangelischen (EV), zwei ‚gemischten‘ - mit zwar evangelischer Mehrheit aber starken katholischen Anteilen (EV/RK) und umgekehrt (RK/EV) -, sowie Städte mit dominierenden Katholiken (RK).
Um statistische ‚Verzerrungseffekte‘ zu minimieren wurden dabei die Großstädte Frankfurt/Main und Hamburg (EV) sowie Köln und München (RK) bei der Durchschnittsberechnungen der ‚Gruppenergebnisse‘ nicht mit einbezogen.
Dabei zeigt sich, dass die Reihenfolge EV / EK-EK / EV-RK / RK sich in den 70 Jahren von 1950 – 2022 durchgehend erhält: 2022: 40,0 / 44,1 / 46,3 / 50,0. Am Anfang zwar weniger ausgeprägt, dann aber deutlich. Diese ‚Parallelität‘ ist dann grafisch umgesetzt anschaulicher.
Der Trend ist zwar in allen Großstädten der gleiche, doch vergleicht man für die Jahre 2000-2011-2022 die (traditionell) evangelischen Großstädte (ohne Hamburg und Frankfurt) ergibt sich eine Anteilsreihe an Kirchenmitgliedern von 60-56-40 Prozent, für die (traditionell) katholischen Großstädte (ohne München und Köln) die Reihung 72-67-50 Prozent. Die Entwicklung in den ‚evangelischen‘ Großstädten ist entsprechend den ‚katholischen‘ Großstädten um jeweils 12-11-10 Prozentpunkte voraus, wobei die Abstände geringer werden.
Diese ‚stabilen‘ Unterschiede zwischen Evangelischen und den römischen Katholiken wurden auch von den Historikern Thomas Großbölting / Markus Goldbeck untersucht. (In: Rahlf, Thomas (Ed.) Research Report. „Deutschland in Daten. Zeitreihen zur Historischen Statistik“, Teil 12 Religion, S. 172 ff.)
„Die skizzierten Phasen der Erosion finden sich zwar auch für die katholische Kirche, doch waren hier die Ausschläge – seltener Gewinne, öfter Verluste an Mitgliedern – nicht so ausgeprägt wie bei den evangelischen Kirchen. Die Gründe dafür sind wohl in der strafferen Kirchenzucht der Katholiken, wie zum Beispiel der sonntäglichen Kommunion und der Ohrenbeichte, aber auch in der dichteren Struktur von Vereinen und Verbänden zu suchen, die für eine stärkere lebensweltliche Einbindung der Mitglieder sorgten. Erst nach der Jahrtausendwende ändert sich diese Konstellation vor dem Hintergrund verschiedener Skandale, die die katholische Kirche Mitglieder kosteten.“
Was hier als „stärkere lebensweltliche Einbindung“ beschrieben wird, kann man auch einerseits Geborgenheit und andererseits stärkere soziale Kontrolle und Sanktionierung nennen.
Entsprechend müssten die Verringerungen bei den Städten mit dominierenden evangelischen Kirchenmitgliedern stärker ausgeprägt sein als bei den katholisch dominierten, was für die Verringerungen von 1970 auf 2022 geprüft wurde.
Hinsichtlich der Verringerung nach Prozentpunkten der Kirchenanteile bestätigt sich die Abfolge Evangelisch (mehr) und Katholisch (weniger). Einzig Braunschweig fällt ‚aus der Rolle‘. In der Sortierung nach Kirchenanteilen 2022 ist es ebenso, nur München (als Millionenstadt) und Lübeck (mit ‚kleinstädtischer‘, hansischer Tradition) sind nicht im Religions-Trend.
Und als Nebenaspekt: Die Sortierung nach Anteilen der Kirchenmitglieder 2022 ist in den Zeitpunkten, wann die dominierende Religion ihren 50-Prozent-Anteil verlor, annähernd eine Zeitabfolge: Die Evangelischen (außer Lübeck) vor dem Jahr 2000, die Katholiken (außer München) nach 2000.
6. Stadt-Land-Unterschiede
Im Artikel „Urbanes Christentum“ in: Stadt und Kirche im demographischen Wandel“ (2006, S.75) hat der Theologe Wilhelm Gräb die Besonderheit von Städten erläutert.
„Die Sichtbarkeit der Religion ist von maßgeblichem Einfluss auf das Verhalten der Menschen. Wo die Sichtbarkeit der Religion abnimmt, die Glocken nicht mehr läuten, die Menschen Sonntagsmorgen auf dem Gang zur Kirche nicht mehr die Straßen beleben, wird das religiöse Verhalten der Menschen anonym. Die Religion verflüchtigt sich ins Private. Ebenso nimmt eine von Religion freie Lebensführung zu. Selbst die Kasualien, die Gottesdienste an den Lebensstationen sind davon abhängig, dass die Menschen die Kirchtürme nicht aus dem Blick verloren haben, dass die Kirche in ihrer Alltags- und Lebenswelt präsent geblieben ist. […] Gerade in den Städten hat sich die Anonymität auch im Religiösen enorm durchgesetzt. So konnte sich in den Städten die moderne Patchwork-Religiosität, aber auch das säkulare Verhalten einer religionsfreien Lebensführung am besten entfalten.“
Demografisch ließe sich der Unterschied Stadt-Land auch dahingehend beschreiben, dass die Bevölkerung in den Städten jünger ist, formal höhere Bildungsabschlüsse und höhere Anteile an Zuwanderern d. h. Diversität hat, sowie eine geringere soziale Kontrolle besteht als in eher ländlichen Regionen.
Da die Daten sich auf 40 Großstädte beschränken, lässt sich die Frage, ob es einen Stadt-Land-Unterschied gibt, nur unter Berücksichtigung weiterer Daten beantworten. Aktuell sind in Deutschland die Religionsdaten der Landkreise – außer in Rheinland-Pfalz -, jedoch nicht verfügbar. Sie werden von den Landkreisen nicht erfasst bzw. dargestellt. Insofern ist eine geeignete Auswahl kaum zu realisieren. Was sich dann als machbar herausstellte - sowohl von den Größen wie von dem Vorhandensein an Daten -, war ein Vergleich zwischen der Stadt Aachen mit dem Bistum Aachen (ohne die Stadt Aachen) als katholische Variante und ein Vergleich innerhalb der „Region Hannover“ mit der Stadt Hannover und dem Umland (ohne die Stadt Hannover) als evangelische Variante.
In der Stadt Aachen verringert sich der Anteil der Kirchenmitglieder im Jahr 2010 auf unter 50 Prozent, Im Bistum Aachen (ohne die Stadt Aachen) ist das im Jahr 2021 – mit einem Abstand von 11 Jahren. Zudem vergrößert sich im Laufe der Jahre die Differenz zwischen den Anteilen der Kirchenmitglieder von 5,6 auf 12,0 Prozent, d. h. die Entwicklung in der Stadt Aachen beschleunigt sich gegenüber der Umgebung.
In der überwiegend evangelischen Region Hannover geschieht Vergleichbares.
In der „Region Hannover“ sinkt der Anteil der Kirchenmitglieder in der Stadt Hannover im Jahre 2007 unter 50 Prozent (vgl. „Kirchenmitglieder in Großstädten. Die Daten“, Tabelle 20) im Umland (ohne die Stadt Hannover) im Jahr 2019 – ein Unterschied von 12 Jahren. Die Differenz zwischen Stadt und Land bleibt in etwa gleich.
Der Jahresabstand beträgt in beiden Regionen – gleichgültig ob überwiegend katholisch oder evangelisch – gleichermaßen 11 bzw. 12 Jahre. Der generelle Trend der Verringerung der Anzahl der Kirchenmitglieder ist jedoch überall, egal ab Stadt oder Land.
Diese Unterschiede lassen sich auch für andere Kombinationen feststellen. So hatte beispielsweise das Bistum Passau Ende 2021 (ohne die Stadt Passau) einen Anteil von 72,1 Prozent Katholiken, während die Stadt Passau einen Anteil von 54,3 Prozent Katholiken hatte.
7. Weitere Aspekte
Von den 80 Großstädten in Deutschland mit mehr als 100.000 Einwohnern wurde nur die Hälfte, die mit über 200.000 Einwohnern, berücksichtigt. Die Verringerungen der Kirchenmitglieder sind aber auch bei den ‚kleineren‘ Großstädten und in Städten mit weniger als 100.000 Einwohnern vorhanden. Stichproben zu verschiedenen Aspekten sollen das verdeutlichen.
- Industriestandorte / Arbeitsmigration / Zuwanderung: In Rüsselsheim (68.000 Einwohner) gibt es seit 1899 eine Automobilproduktion (Opel-Werk). Der Anteil der Kirchenmitglieder belief sich 1987 noch auf 69,2 Prozent, war dann 2011 bereits auf 43,4 gesunken und beläuft sich Ende 2022 auf 30,0 Prozent. In Salzgitter (107.000 Einwohner) belief sich der Anteil der Kirchenmitglieder 2022 auf 42,8 Prozent und in Wolfsburg (127.000 Einwohner) waren es 41,4 Prozent. In Ludwigshafen (177.000 Einwohner) gab es 2014 noch eine Mehrheit an Kirchenmitgliedern (51,1 Prozent), 2022 sind es nur noch 39,4 Prozent.
- Universitätsstädte: In Konstanz (87.000 Einwohner) war die Zahl der Kirchenmitglieder Ende 2022 auf 48,4 Prozent gesunken und in Freiburg (230.000 Einwohner) war das bereits 2021 geschehen (49,8 Prozent Kirchenmitglieder). Heidelberg (149.000 Einwohner) hat 2022 noch 45 Prozent Kirchenmitglieder. In Tübingen (58.000 Einwohner) gab es Ende 2022 ebenfalls keine Mehrheit mehr an Kirchenmitgliedern (49,7 Prozent).
- Bischofssitze: In Freising (55.000 Einwohner), der Hauptsitz des Erzbistums München-Freising, hat sich die Zahl der Katholiken von 2011 bis 2022 von 50,8 auf 38,0 Prozent verringert und die Anzahl der Kirchenmitglieder ist von 51,3 (2021) auf 47,8 (2022) gesunken. Ebenso war 2022 in Aachen (262.000 Einwohner) die 50-Prozent-Marke unterschritten worden (mit 48.2 Prozent). In Trier (110.000 Einwohner) gibt es 2022 zwar noch eine Mehrheit an Kirchenmitgliedern (60,5 Prozent) aber der Anteil der Katholiken ist auf 49,9 Prozent gesunken.
8. Trendgeschwindigkeit
Abgesehen von der auch durch diese Daten bestätigten höhere Geschwindigkeit der Verringerung der Kirchenmitglieder im evangelisch dominierten Umfeld, soll abschließend angesprochen werden, ob sich in den vergangenen Jahren auch etwas in den katholisch geprägten Städten getan hat. Dafür wurden fünf Großstädte ausgewählt.
Mit Münster und Bochum sind zwei ‚stabilere‘ katholische Großstädte dabei, Mainz und Augsburg liegen im Bundesdurchschnitt, die Millionenstadt München hat nur noch gut ein Drittel Kirchenmitglieder.
Abgesehen von diesen drei Zuordnungen verläuft die Entwicklung der Kirchenmitglieder in den vergangenen zehn Jahren bei allen fünf Großstädten parallel zueinander. 2013 – 2020 sind es die ‚Schwingungen‘ zwischen 1 – 1,5 Prozentpunkte Verringerung, 2021 erfolgt dann eine ‚Abwärtsbewegung‘ um 1,5 – 2 Prozentpunkte und schließlich 2022 um minus 2 bis minus 3 Prozentpunkte.