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Der Mythos hoher muslimischer Geburtenraten

Die Furcht vor einer „Islamisierung Deutschlands“ und einer „Überfremdung“ - aufgrund behaupteter hoher Fertilitätsraten „der Muslime“ - hält sich immer noch in nicht wenigen Köpfen. Deshalb seien nachfolgend Daten und Fakten zusammengestellt, die erläutern, dass es mittlerweile ein Mythos ist und die Realität sich anders darstellt. Zum einen sinken die Fertilitätsraten „der Muslime“, zum anderen haben die Fertilitätsraten nur wenig bis gar nichts mit einer Religion zu tun.

Von Carsten Frerk

Der folgende Text gliedert sich in die Unterpunkte: Vorbemerkung / 1. Fertilitätsraten in „muslimischen Ländern“ weltweit / 2. Rahmenbedingungen für eine hohe Fertilität / 3. Die Situation in der Türkei / 4. Die Situation in Europa / 5. Die Situation in Deutschland und Österreich.

Vorbemerkung

In dem Kontrast zwischen Meinung und Realität zeigt sich bei der Frage, wie viele Muslime im eigenen Land leben, eine deutliche Überschätzung des Anteils der Muslime. Im Schnitt werden doppelt so viele angenommen wie in der Realität, und in Deutschland ist das überdurchschnittlich. 2015 meinten die Befragten in einer Ipsos-Studie, dass die Muslime in Deutschland einen Anteil von 16 Prozent hätten (statt rund 5 Prozent) und im Jahr 2020 seien es dann 24 Prozent, also jeder Vierte in Deutschland.

Eines der immer wieder genannten Gründe dafür seien die hohen Geburtenraten muslimischer Frauen oder „der Muslime“.

1. Fertilitätsraten in „muslimischen Ländern“ weltweit

Die Weltbank hat für alle Länder der Welt auch die Fertilitätsraten erfasst, die hier für Indonesien, dem Iran und der Türkei dargestellt werden.

In Indonesien, dem Land mit den meisten – 225 Mio. – Muslimen, sinkt die Fertilitätsrate von 1960 (6,9) bis 2015 auf 2,4 Kinder pro Frau. In der Türkei (82 Mio. Muslime) sinkt die Fertilitätsrate von 6,4 auf 2,1 und im Iran (80 Mio. Muslime) sinkt die Fertilitätsrate von 5,7 auf 1,7.

Diese drei Staaten stellen ‒ mit rund 390 Mio. Muslimen – ein knappes Viertel (22 Prozent) der rund 1,8 Mrd. Muslime auf der Erde. Indonesien liegt dabei unter dem Weltdurchschnitt (2,52), die Türkei hat die Rate der „Bestandserhaltung“ von 2,1 erreicht und der Iran liegt mit 1,7 erheblich unter dieser Rate.

Auch eine weitere, detailliertere Übersicht der UN zeigt diese Entwicklungen.

Von den hier als „Muslimische Staaten“ aufgelisteten 53 Länder haben 15 eine Fertilitätsrate unter dem Weltdurchschnitt, sowie 9 von ihnen eine Fertilitätsrate an der Grenze der Bestanderhaltung oder darunter. Diese 15 Länder unterhalb des Weltdurchschnitts stellen rund 610 Mio. der 1,8 Mrd. Muslime, also ein Drittel (34 Prozent) aller Muslime.

Dabei zeigen sich, stellvertretend für die 53 Länder vier Tendenzen: erstens, die bereits genannten 15 Länder unterhalb des Weltdurchschnitts, zweitens 15 Länder mit deutlich sinkenden Raten (auf unter 4), drittens 11 Länder mit langsam sinkenden Raten (unter 5) sowie viertens 12 Länder mit kaum sinkenden Raten.

Die ‚Spitzenreiter‘ (hinsichtlich der Geburtenkontrolle im negativen Sinn) mit Geburtenraten von annähernd 6 und darüber, sind vier afrikanische Staaten mit muslimischen Mehrheiten: Niger, Somalia, Mali und Tschad.

Erweitert man den Blick jedoch von „den Muslimen“ auf die Fertilitätsraten generell, so zeigen sich bereits optisch auf zwei Weltkarten, dass sich zum einen die Länder mit den hohen Fertilitätsraten alle in (Zentral-)Afrika befinden (mit der Ausnahme von Afghanistan), dass aber in diesen Ländern nur im nördlichen Teil der Subsahara-Staaten der Islam die vorherrschende Religion ist.

In einer tabellarischen Übersicht der Länder mit einer Fertilitätsrate von 4 und mehr Kindern, sind von den aufgelisteten 48 Ländern 25 Länder (oder 52 Prozent) mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit.

Das zeigt, wie bereits die vorangegangenen Daten, dass die Aussage eine höheren „muslimischen Fertilitätsrate“ schlichter Unfug ist. Um das zu verdeutlichen listet die nachstehende Tabelle die Länder mit den niedrigsten Geburtenraten auf (unter 1,5 Kindern).

14 der gelisteten 27 Länder, das sind ebenfalls 52 Prozent dieser Länder, haben eine katholische bzw. christliche orthodoxe Bevölkerungsmehrheit. Das ist ein Anteil wie in der vorangegangenen Tabelle die „Muslime“ und man müsste jetzt also schlussfolgern: „Die Katholiken (und Orthodoxen) haben die geringsten Geburtenraten“ – was sich sofort selbst als Unsinn entlarvt.

Wer also den direkten Zusammenhang von Religion (im Allgemeinen) und Fertilitätsraten kreiert hat, wird seine Gründe dafür haben. Das ist zwar ein Zusammenhang, der im Speziellen zutrifft – „Hochreligiöse“, die sich zudem von ihrer Umwelt abkapseln, bekommen tatsächlich mehr Kinder, aber eben nicht der „normal Religiöse“.

Für die Höhe der Fertilitätsraten gibt es andere und zutreffende Bedingungen als es die Religion ist.

2. Rahmenbedingungen für eine hohe Fertilität

Die Vereinten Nationen nennen die zutreffenden Bedingungen für Unterschiede in der Fertilität: Es ist der sozio-ökonomische Entwicklungsstand des Landes und seiner Bevölkerung.

Je besser die sozio-ökomische Entwicklung eines Landes ist (dazu gehört u. a. das Einkommen, der Lebensstandard, die Bildung, die Erwerbstätigkeit von Frauen, die geringe Kindersterblichkeit, u. a. m.), desto geringer sind die Geburtenziffern.

Nach den Angaben der UN zu den Fertilitätsraten kann auch eine Tabelle erstellt werden, die sich auf die Anteile von Muslimen in den Staaten mit den höchsten Geburtenraten und ihren Anteilen von Muslimen, sowie die Raten der Alphabetisierung von Männern und Frauen, dem Human Development Index (HDI) bezieht. Im HDI werden drei Dimensionen erfasst: Lebenserwartung/Gesundheit, Bildung sowie Lebensstandard. Ein Gesamtwert von unter 0,550 gilt als niedrig.

Sortiert nach den Anteilen der Muslime in der Bevölkerung, zeigt sich, dass es keine 1 zu 1 Zuordnungen gibt, aber die Tendenz, dass von den 16 Ländern mit einer muslimischen Mehrheit (mehr als 50 Prozent) sieben einen Alphabetisierungsanteil der Frauen von unter einem Drittel haben, 12 einen HDI-Wert von unter 0,400 haben – sie gehören also zu den ärmeren Ländern. Aber das ist eben kein ‚Alleinstellungsmerkmal‘ der Länder mit mehrheitlich Muslimen in der Bevölkerung.

Insofern ist es unsinnig und erklärt nichts, wenn man die religiöse Konnotation in den Vordergrund stellt.

In dieser Hinsicht erscheint es problematisch, wenn das PEW Forschungszentrum in einem Text zur Thematik der muslimischen Fertilitätsraten eine Grafik zeigt, in der die religiöse Zuordnung „Länder mit mehrheitlich muslimischer Mehrheit“ und zwei ökonomische Daten nebeneinander gestellt werden.

Entweder man nimmt religiöse Zuordnungen und stellt dann Länder mit „muslimischen“ bzw. „christlichen Mehrheiten“ nebeneinander oder unterteilt auch die „Länder mit muslimischen Mehrheiten“ in zwei ökonomische Kategorien. Aber, wie hier, Kuweit, den Iran, Indonesien, Mali und Somalia etc. in einer Gruppe zusammenzufassen, ist tendenziös. Die Aussage ist, dass die „muslimisch dominierten Länder“ auch weiterhin die höchsten Geburtenraten haben, gleichgültig welchen ökonomischen Status sie haben. Das ist falsch.

Die Größenordnung der Fertilitätsraten in Abhängigkeit von primär sozio-ökonomischen Bedingungen zeigt sich auch in den Regionen der Länder Europas. (Dabei soll jetzt außer Acht gelassen werden, dass es – wie z. B. in China oder im Iran – davon unabhängig massive staatliche Programme zur Geburtenkontrolle geben kann.)

Die nationale (durchschnittliche) Fertilitätsrate kann – je nach sozio-ökonomischer Situation der Regionen eines Landes  – weite Spannen in der Unterschiedlichkeit haben.

Die größten Unterschiede und Spannweiten sind im europäischen Kontext  in Spanien (1,0 bis 2,7), in Frankreich (1,5 bis 3,5) und in der Türkei (1,6 bis 3,9) festzustellen. Ein Hinweis auf starke regionale Unterschiede und Traditionen in diesen Ländern.

3. Die Situation in der Türkei

Das Statistische Institut der Türkei veröffentlicht seit 2001 jährlich regional differenzierte Statistiken zur Geburtenrate (hier 2015).

Die Gesamttendenz seit 2001 ist eine Verringerung der Geburtenrate von 2,37 (im Jahr 2001) auf 2,14 (im Jahr 2015) mit der geringsten Geburtenrate von 2,02 (im Jahr 2011).

Doch die insgesamt gesehen sinkenden Geburtenraten für die gesamte Türkei haben zwei interne Komponenten.

Zum einen die unterschiedlichen Geburtenraten in den (statistischen) Provinzen der Türkei, die (in 2014) eine Spanne von 1,7 bis 3,9 aufweisen.

Dabei sind drei große Regionen zu unterscheiden. Erstens die westliche und nördliche Türkei mit Geburtenraten unter 2,1, die zentrale Türkei mit Geburtenraten über 2,1 aber unter 3,0 und die östliche/südöstliche Türkei mit Geburtenraten bis zu 3,9.

Das lässt sich auch wie die regionale Verteilung der sozio-ökonomischen Bedingtheiten lesen und verweist wiederum darauf, dass die Prioritäten nicht bei der Religion, sondern bei der Ökonomie und der Bildung liegen.

Die historische Dimension der Verringerung der Geburtenraten mit besserer Bildung (vor allem der Frauen) und einem steigenden wirtschaftlichen Wohlstand zeigt sich auch für die Türkei insgesamt.


4. Die Situation in Europa

Welche Einflüsse davon spielen in Europa eine Rolle? Die Statistiken für Europa erfassen „Migrantinnen“ und deren Geburtenraten, da in den einzelnen Ländern die Anzahl der Herkunftsstaaten unterschiedlich ist.

Grundsätzlich lässt sich jedoch für ausgewählte Länder Europas in der Tendenz feststellen, dass die Geburtenraten von Migrantinnen zurückgehen.

Für die einzelnen Länder wäre jetzt zu differenzieren, aus welchen Herkunftsstaaten, mit welchen sozio-ökonomischen Hintergründen die Migranten stammen.

5. Die Situation in Deutschland und Österreich

Die Frage lässt sich für Europa zwar nur näherungsweise beantworten, aber die Tendenzen sind recht eindeutig. In Österreich, wo die Mütter zur Geburt nach ihrer Religionszugehörigkeit gefragt werden, zeigt sich, dass der Anteil der Kinder muslimischer Mütter in Österreich sinkt.

Da anzunehmen ist, dass der größere Teil dieser Muslima aus der Türkei stammen, die ebenfalls einen Großteil der Mütter mit nicht-österreichischer Staatsangehörigkeit stellen, ist die Darstellung einer hohen Fertilität nicht korrekt. Die Fertilitätsrate ist seit 1992 kontinuierlich von 2,3 Kindern pro Frau auf 1,9 im Jahr 2015 gesunken. Mehr als zwei Kinder sind auch bei den eingebürgerten Türkinnen nur noch selten. Während sie 1980 noch ca. 4 Kinder bekamen, ist die Rate in Österreich auf unter 2 gesunken.

Für Deutschland, wo die Religionszugehörigkeit der Mütter nicht statistisch erhoben wird, gibt es aber dennoch Informationen zu türkischstämmigen Müttern. Im Mikrozensus 2012 mit Daten zur weiblichen Bevölkerung in Deutschland, nach Migrationsstatus und Anzahl der geborenen Kinder, zeigt sich der Rückgang der Geburtenrate von türkischstämmigen Müttern in drei ‚Generationen‘.

Die Daten der ‚Generationen‘ verringern sich von 3,33 auf 2,39 und 0,67 mit einem Gesamtdurchschnitt der Fertilitätsrate von 1,73. Darin äußern sich die Veränderungen einer Integration: Die erste Generation von Frauen, die in Deutschland keine Arbeitserlaubnis hatten, die zweite Generation, die zum Teil schon in Deutschland geboren wurden, zur Schule gingen, etc. und die dritte Generation von Frauen/Müttern, die nicht nur eine bessere Schul- und Berufsausbildung erhielten, sondern auch selbst erwerbstätig sind und sich den Einstellungen ihrer Umgebung angepasst haben.

Im Mikrozensus 2016, also vier Jahre später, zeigt sich die weitere Verringerung der Gesamtfertilitätsrate von 1,73 auf 1,67.

Deutlich wird dabei, dass sich die Gesamtfertilitätsrate aus drei Generationen zusammensetzt. Insofern ist sie für Prognosen nicht geeignet, da nur die jeweils jüngste Generation dafür von Bedeutung ist, die allerdings hier noch ansteigen wird, bis auch die Jüngsten dieser Gruppe ihre Kinder bekommen haben werden.

Betrachtet man noch einen weiteren Aspekt, nämlich die Frage, ob die Mütter einen eigenen Migrationshintergrund, also im Ausland geboren wurden und zugwandert sind, oder einen ‚weiteren‘ Migrationshintergrund haben, das heißt in Deutschland geboren wurden und mindestens einen Elternteil mit ausländischen Wurzeln besitzen, so spiegelt sich darin nicht nur der Altersunterschied, wobei die Gruppe der Mütter mit der weiteren Migrationserfahrung die Zukunft darstellt.

Dieser Aspekt der Integration und der Anpassung der Fertilitätsraten, d. h. ihre Verringerung, ist mehrfach untersucht und beschrieben worden. Hier als Beispiel: Holger Stichnot und Mustafa Yeter: „Cultural Influences on the Fertility Behaviour of First- and Second Generations Immigrants in Germany” aus dem Jahr 2013.

Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass aus den bislang vorliegenden Zahlen durch keine Gruppe (nach Staatsangehörigkeit) irgendeine zahlenmäßige „Überfremdung“ durch Geburtenraten droht.

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Anmerkung: Dies ist eine korrigierte Fassung, da in der ersten Version des Textes Uganda (in Tabelle 1 und 2, sowie in der Grafik 2) als Land mit muslimischer Mehrheit dargestellt wurde. Tatsächlich sind es 33 Prozent Katholiken, 33 Prozent Protestanten, 16 Prozent Muslime und 18 Prozent indigene Religionen.