Sie sind hier

Religion und Demokratie

fowid-Notiz: Eine aktuelle Studie aus Frankreich zu Muslimen (2020) und eine vergleichende Studie für Deutschland und die Schweiz zu allen Religionen (2019) widmen sich u. a. auch den Fragen nach einer Demokratieakzeptanz unter Religiösen. Die Kernprinzipien von Religion („Wahrheit“) und der Grundsatz von Demokratien (Diskurse für Kompromisse) scheinen nicht per se zu harmonieren oder tolerabel zu sein. Die Unterschiede zwischen den Religionen sind deutlich und die Muslime spielen dabei eine besondere Rolle.

Das französische Umfrageinstitut IFOP (Institut français d’opinion publique) publizierte im September 2020 die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage im Auftrag der Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“, die den Focus auf die Meinungsbildung unter Franzosen wie Muslimen legte.

„Anlässlich der Eröffnung des Prozesses gegen die Anschläge vom Januar 2015 gab Charlie Hebdo bei Ifop eine große Umfrage in Auftrag, um den Stand der Meinungsbildung über die Kämpfe der satirischen Zeitung in den letzten Jahren besser zu verstehen (z.B. Meinungsfreiheit, Religionskritik, Vorrang republikanischer Werte vor religiösen Geboten …), aber auch den Standpunkt, den die Franzosen verschiedener Glaubensrichtungen zu den Tätern des Massakers haben, das damals ihre Redaktion dezimierte.“

Die Umfrageergebnisse und die Infografie dazu sind umfangreich.

Hier soll nur der Aspekt des „Vorrangs republikanischer Werte vor religiösen Geboten“ (die Fragen 7 bis 10 der Umfrage) skizziert werden, da dazu auch eine vergleichbare – wenn auch allgemeinere - Studie 2019 für Deutschland und die Schweiz publiziert wurde.

Frankreich

Die zentralen Ergebnisse zum Verhältnis von republikanischen Werten und Religion lauten: „Allgemein nach ihrem Verhältnis zur Religion befragt, stellen doppelt so viele Muslime (40 Prozent) wie die Franzosen insgesamt (17 Prozent) ihre religiösen Überzeugungen vor die Werte der Republik, wobei zu berücksichtigen ist, dass dieser Anteil bei jungen Muslimen unter 25 Jahren (74 Prozent) erheblich höher ist.

Auch die Vorstellung, dass „der Islam die einzig wahre Religion ist“, wird von immer mehr Muslimen geteilt: 61 Prozent, ein Anteil, der sechs Punkte über dem liegt, was das IFOP 2016 messen konnte.

Schließlich wird die Idee, dass „der Islam mit den Werten der französischen Gesellschaft unvereinbar ist“, bei weitem nicht nur von der nicht-muslimischen Bevölkerung gebilligt: 61 Prozent der Franzosen teilen diese Idee laut einer kürzlich durchgeführten Ifop-Umfrage (Oktober 2019). Während die Umfrage zeigt, dass dieses Gefühl von 29 Prozent der Muslime befürwortet wird, wird es auch von fast jedem zweiten jungen Moslem (45 Prozent) geteilt.


Deutschland / Schweiz

Für Deutschland und der Schweiz wurden diese Fragen 2019 auch in der KONID-Untersuchung „Wie Religion uns trennt und verbindet“ angesprochen. (KONID = „Konfigurationen individueller und kollektiver religiöser Identitäten und ihre zivilgesellschaftlichen Potentiale“).

Der KONID-Survey 2019 steht unter der Leitfrage der Rolle von Religionen, speziell des Islam:

„Westliche Demokratien erleben derzeit eine Renaissance sozialer Identitäten. Die Aufwertung religiöser Identitäten in Öffentlichkeit und Politik kann als der vielleicht prominenteste Ausdruck der wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung sozialer Identitäten gesehen werden. Groß ist zudem die öffentliche Verunsicherung über den Umgang mit religiösen Zugehörigkeiten und speziell mit Muslimen. Trennt oder fördert Religion den Zusammenhalt demokratischen Gesellschaften? […]

Religion ist auch in den komplexen Gesellschaften Deutschlands und der Schweiz für soziale Identitäten eine prägende und strukturierende Größe. Vielen Menschen ist ihre religiös-weltanschauliche Zugehörigkeit als soziale Identität bedeutsam. In Deutschland bewerten 57 Prozent der Bevölkerung die soziale Identität „Religion“ als wichtig. In der Schweiz bezeichnen 50 Prozent ihre religiöse Identität als wichtig. Während in den beiden volks- bzw. landeskirchlichen Traditionen des Christentums die Identifikation mit Religion oft eine geringere Rolle spielt, ist die eigene religiöse Identität speziell für Mitglieder der Freikirchen und Muslime von zentraler Bedeutung. Immerhin rund 30 Prozent jener, die keiner Religionsgemeinschaft (mehr) angehören, ist die Tatsache der Nicht-Zugehörigkeit für ihre eigene soziale Identität wichtig. […]

Der KONID Survey 2019 hat auch erhoben, wie die Befragten die Grenzziehung zwischen demokratischem Gemeinwesen und religiöser Wahrheit vornehmen. Die Überordnung religiöser Wahrheiten und Ansichten über die Verfassung oder gar die Bereitschaft, Gewalt für den eigenen Glauben einzusetzen, sind selten. Bei Muslimen und Angehörigen von Freikirchen sind solche Positionen häufiger. Der entscheidende Befund ist aber, dass ein gewisses Maß an Zustimmung über alle religiösen Bekenntnisse hinweg auftritt. Das politisch relevante Problem lautet daher, dogmatische bzw. fundamentalistische, politisch zum Extremismus neigende Positionen allgemein in den Blick zu bekommen und zusammen mit den Religionsgemeinschaften zu thematisieren. Anders gesagt: Es handelt sich nicht um ein genuines Problem ‚des Islam‘ als Religion. […]

Recht-staatlich fundierte Demokratien leben von grundrechtlich garantierten Menschenrechten und demokratisch durch Wahlen legitimierten und am Mehrheitswillen orientierten Parlamenten und Regierungen. Das schließt die Religionsfreiheit mit ein, bedeutet aber auch, dass das politische System den Rahmen für die Ausübung von Religion und die politische Rolle von Religion im Interesse der Freiheit aller setzt. Religionen dürfen ihr Wahrheitsverständnis vertreten, aber nicht zum praktischen Ideal für politische Herrschaft und staatlichen Zwang machen.29 Wo das geschieht, ist der Boden einer Demokratie mit offener Gesellschaft verlassen und die Grenze zum antidemokratischen Extremismus zumindest gedanklich überschritten.

Der KONID Survey hält drei Fragen bereit, die auf eine solche Grenzüberschreitung und deren möglichen praktischen Folgen abheben. Auf diese Fragen konnte jeweils mit ‚stimme überhaupt nicht zu‘, ‚stimme eher nicht zu‘, ‚stimme eher zu‘ oder ‚stimme voll und ganz zu‘ geantwortet werden. Sie lauten: ‚Die Regeln und Werte meiner Religion haben im Konfliktfall Vorrang vor der deutschen/ Schweizer Verfassung‘; ‚Religion sollte die einzige und letztgültige politische Autorität sein‘; „Ich wäre bereit, meine religiösen Überzeugungen auch mit Gewalt durchzusetzen‘. Die zustimmenden Antworten auf diese sich in ihrem Gewicht hinsichtlich extremistischer Positionen zuspitzenden Fragen geben Anlass zur Beunruhigung.“

(CF)