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Religion und Entfremdung in Deutschland

Das Verhältnis der Bundesbürger zu den Religionen wird vom IfD-Allensbach und der FAZ zunehmend mit Entfremdung (Synonyme: Abkühlung, Sichauseinanderleben, Sichfremdwerden, Zerwürfnis) beschrieben. In einer aktuellen Umfrage zeigen sich die Anzeichen einer „Schweigespirale“ für Religiosität und Glauben. Ein Widerspruch zu den Diskussionen um kirchliche Machtstrukturen besteht nicht.

Der Begriff/die Theorie der „Schweigespirale“ wurde 1974/1980 von Elisabeth Noelle-Neumann formuliert, der Gründerin und ersten Leiterin des Instituts für Demoskopie (IfD) in Allensbach. „Diese Theorie versucht, Meinungsumschwünge in der Gesellschaft, insbesondere bei moralisch-emotional aufgeladenen Streitfragen, sozialpsychologisch zu erklären. […] Die Theorie der Schweigespirale lässt sich [u. a.] in folgende Kernaussagen zerlegen:

  • Die meisten Menschen fürchten soziale Isolation.
  • Menschen beobachten daher ständig das Verhalten anderer, um einschätzen zu können, welche Meinungen und Verhaltensweisen in der Öffentlichkeit Zustimmung
 oder Ablehnung finden.
  • Menschen üben Isolationsdruck auf andere aus, beispielsweise, indem sie den Mund verziehen oder sich abwenden, wenn jemand etwas sagt oder zeigt, das von der öffentlichen Meinung missbilligt wird.
  • Menschen neigen dazu, ihre eigene Meinung zu verschweigen, wenn sie denken, dass 
sie sich mit ihrer Meinung dem Isolationsdruck anderer aussetzen würden.
  • Diejenigen hingegen, die öffentliche Unterstützung spüren, neigen dazu, ihre Meinung laut und deutlich zu äußern.
  • Laute Meinungsäußerungen auf der einen und Schweigen auf der anderen Seite setzen den Schweigespiralprozess in Gang.
  • Dieser Prozess entzündet sich typischerweise an emotional aufgeladenen Themen.
  • Herrscht in einer Gesellschaft Konsens, ist es unwahrscheinlich, dass eine Schweigespirale in Gang kommt. Es sind üblicherweise kontroverse Themen, bei denen ein Schweigespiralprozess entsteht.
  • Die tatsächliche Stärke der Meinungslager muss nicht ausschlaggebend sein für ihr Gewicht in einem Schweigespiralprozess. Die Meinung einer Minderheit kann in der Öffentlichkeit als Mehrheit erscheinen, wenn ihre Anhänger nur selbstbewusst genug auftreten und ihre Meinung öffentlich mit Nachdruck vertreten.
  • Die Massenmedien können einen maßgeblichen Einfluss auf Prozesse der öffentlichen Meinung ausüben. Wenn die Medien wiederholt (‚kumulativ‘) und übereinstimmend (‚konsonant‘) ein Meinungslager unterstützen, hat es deutlich erhöhte Chancen, aus der Schweigespirale als Sieger hervorzugehen.“

Im Magazin „FAZ-Woche“ (Ausgabe 11/2019 vom 8.3.2019) wurde nun das Ergebnis einer aktuellen Allensbach-Umfrage publiziert:

Diejenigen, die „religiös oder gläubig zu sein“ als „out“ benennen, haben sich seit 2007 von einer knappen in eine deutliche Mehrheit (58 Prozent) erweitert, während diejenigen, für die es „in“ ist „religiös oder gläubig zu sein“ sich aktuell von 25 auf 15 Prozent verringert haben.

Ein Widerspruch dieser Auffassungen zu den seit Jahren und aktuell wieder engagierten öffentlich/medialen Diskussionen über die katholische Kirche besteht nicht, auch wenn beides Themen eines Gesamtkomplexes sind. Die „Schweigespirale“ ist die subjektive Wahrnehmung des Einzelnen, ob bestimmte Auffassungen (hier: Glaube und Religiosität) gesellschaftlich noch Zustimmung finden und damit eine Mehrheit haben, die medialen Debatten über die katholische Kirche (Missbrauch, Zölibat, Machtstrukturen) haben dagegen nicht nur andere Akteure, sondern es geht vorrangig um die Institution Kirche.

IfD-Allensbach und die FAZ beschäftigen sich gelegentlich immer wieder mit Religion und Kirche und die IfD-Studie „Heilige Nacht?“, wird in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Nr. 295 vom 20. Dezember 2017, S. 10) unter dem Titel veröffentlicht: „Der lange Abschied vom Christentum. Eine wachsende Zahl der Deutschen meint, dass das Land stark durch christliche Werte geprägt sei. Im Alltag spielt das aber keine Rolle.“

Unter der Überschrift „Die Abkehr von der Kirche“ wird der Rückgang der Häufigkeit des Kirchenbesuchs von 1954 bis 2017 (für Westdeutschland) thematisiert:

Es zeigt sich, dass in Westdeutschland (für die östlichen Bundesländer gibt es für eine derartige Zeitreihe keine Daten) in der Mitte der 1960er Jahre der Umschwung erfolgt, was sich in den Kirchenaustritten erst 1970 zeigt: der Kirchenbesuch (einschließlich „ab und zu“) beginnt sich zu verringern, bis er seit 1985 schließlich im Jahr 2017 auf seinem (bisher) historischen Tiefpunkt angekommen ist.

Parallel dazu verändert sich auch das Selbstverständnis „religiös“ zu sein. Die Mehrheit der Bevölkerung in Westdeutschland (58 Prozent), die 1985 noch vorhanden war, hat sich in Westdeutschland in eine Minderheitsposition (46 Prozent) gewandelt.

Die Ergebnisse dieser Entfremdung sind so gravierend, dass die WELT kommentiert: „Selbstmitleid ist keine christliche Tugend“, worin es heißt: „Ob es ihnen nun gefällt oder nicht: Für das Wohl und Wehe des Christentums in Deutschland sind in allererster Linie die Christen selbst verantwortlich. Wenn ihnen ihr Glaube egal ist, dann kann ihn ja auch niemand vermissen, und es braucht kein Lamento. Wenn er ihnen aber am Herzen liegt, dann sollen sie ihn eben leben, fröhlich und selbstbewusst, und ihn bekennen, privat und öffentlich – und nicht zuletzt in Allensbach-Umfragen. Selbstmitleid ist jedenfalls keine christliche Tugend.“

Und der CICERO veröffentlicht zu eben diesen IfD-Allensbach-Befunden den Kommentar „Es gibt keine Kultur ohne Religion“, worin es heißt: „Es ist daher auch nicht Ausdruck einer umfassenden Entchristianisierung, wenn, wie das Institut für Demoskopie in Allensbach in seiner jüngsten Umfrage festgestellt hat, immer weniger Menschen in Deutschland an die vermeintlichen Kernaussagen des Christentums glauben. Denn was das Christentum für die Menschen zum Christentum macht, sind letztlich nicht die metaphysischen Aussagen hinsichtlich des Übernatürlichen. Es ist vor allem eine unüberschaubare Summe aus kulturellen Überlieferungen: die Feste und Feierlichkeiten, die Lieder, Bilder und Symbole, der Geschmack von Christstollen und Spekulatius.“

Die IfD-Studie „Hohe Erwartungen“ (in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Nr. 295 vom 19. Dezember 2013, S. 8) unter dem Titel veröffentlicht und zusammengefasst: „Die Deutschen mögen den Papst. Die Positionen der Kirche zu vielen Lebensfragen werden aber kritisiert ‒ von der Gesamtbevölkerung und den Katholiken.“

Und bereits im September 2012 schrieb die FAZ zu den damals aktuellen IfD-Allensbach-Zahlen unter dem Titel „Christliche Werte haben Bestand“: „Kaum eine andere gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte vollzog sich so kontinuierlich, gründlich und ‒ wie man annehmen muss ‒ dauerhaft wie die Abwendung der Bevölkerung von der Kirche. Nach den Daten des statistischen Bundesamts gehören heute noch 72 Prozent der Deutschen einer Religionsgemeinschaft an, 59 Prozent der evangelischen oder katholischen Kirche. In vielen Großstädten sind heute die Angehörigen der traditionellen großen christlichen Glaubensgemeinschaften in der Minderheit, in den neuen Bundesländern sogar stark: Hier sind fast drei Viertel der Bevölkerung konfessionslos.“

Das IfD-Allensbach selber fasst und dokumentiert unter dem Titel „Christentum und Politik“ diese Ergebnisse zusammen: „Die Zahl der Kirchenbesucher nimmt ab, die Religiosität geht zurück. Dennoch spielt das Christentum in Gesellschaft und Politik weiter eine bemerkenswert große Rolle.“

Es hatte sich gezeigt, dass die christlichen Glaubensinhalte – in einem Vergleich für die Jahre 1986 und 2012 – immer weniger angenommen werden. Auch die Vorstellung, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist, wird nur noch von einer Minderheit der Bevölkerung (46 Prozent) geglaubt. Zuwächse haben hingegen esoterische Vorstellungen (es gibt irgendeine überirdische Macht) asiatische Religionselemente (Wiedergeburt, Seelenwanderung) sowie Elemente des ‚Volksglaubens‘ (Schutzengel und Wunder).

Im einem Alltagsdetail zeigen sich diese Veränderungen auch in der Frage des Tischgebets. Sagten im Februar 1965 noch 62 Prozent der Westdeutschen, dass in ihrer Kindheit ein Tischgebet gesprochen wurde, so haben im September 2012 nur noch 43 Prozent diese Kindheitserinnerung. Und in der eigenen Alltagspraxis sprachen 1965 noch 29 Prozent selber ein Tischgebet, 2012 hingegen sind es nur noch 9 Prozent.

(CF)