Wertevorstellungen konfessionsfreier Menschen
Die Säkularisierung der Gesellschaft hat Deutschland in den vergangenen Generationen sichtbar verändert: War die eigene Konfession vor 100 Jahren noch ein relevanter identitätsstiftender Faktor, der als wesentliches Indiz eigener politischer Überzeugungen und Wertevorstellungen dienen konnte, scheint die Frage allein, ob jemand Katholik, Protestant oder Konfessionsfrei sei, heute keine tiefgreifenden Rückschlüsse auf das Wertegefüge eines Individuums mehr zuzulassen. Erkenntnisse aus dem European Social Survey.
Von Tobias Wolfram
Starre Milieus sind mit der Zeit erodiert, der politische Katholizismus ist bereits mit dem Ende der Weimarer Republik zu Grunde gegangen und das „C“ in den Akronymen der Unionsparteien lässt sich nach 70 Jahren bundesrepublikanischer Geschichte nur noch schwer mit einem konsistenten, religiös motivierten Programm begründen. Heutzutage mag sich Beatrix von Storch genauso als fromme Christin verstehen wie Angela Merkel oder Katrin Göring-Eckardt und alle drei können teils diametrale Gesellschafts- und Lebensentwürfe mit „christlichen Werten“ rechtfertigen.
Doch inwieweit lässt sich dieser allgemeine Eindruck konkret anhand von Daten belegen? Existieren immer noch systematische Unterschiede in den politischen und moralischen Auffassungen von Katholiken, Protestanten und Konfessionsfreien? Dieser Frage wollen wir in mehreren Artikeln nachgehen. Im Folgenden widmen wir uns divergierenden Wertevorstellungen zwischen den Konfessionen. Später werden wir uns insbesondere der politischen Dimension zuwenden.
Ein schlüssiger Ausgangspunkt unserer Untersuchung ist der European Social Survey (ESS): Hierbei handelt es sich um eine Querschnittsbefragung, die seit 2002 Meinungen zu sozialen und politischen Themen in über 30 europäischen Ländern erfasst. Gut 40.000 Personen werden im Rahmen der im zweijährigen Turnus durchgeführten Studie befragt. Erst vor wenigen Tagen ist die achte Welle mit den Daten des Jahres 2016 veröffentlicht worden. Deutschland weist hier, wie auch in den vorangegangenen Jahren die meisten Teilnehmer (knapp 3.000) auf. Für die Gruppen der Katholiken, Protestanten und Konfessionsfreien liegen somit genug Beobachtungen vor, um repräsentative Aussagen mit einer akzeptablen Schwankungsbreite treffen zu können, bei Muslimen und anderen Religionsgemeinschaften sind die Fallzahlen zu klein, um seriöse Schlüsse zu ziehen, weshalb wir sie nicht weiter betrachten.
Mit Hilfe dieser Datenbasis möchten wir nun analysieren, inwieweit die drei großen weltanschaulichen Gruppen mit Blick auf Werte und Normen divergieren oder ob sich hier eine Konvergenz konstatieren lässt. Letzteres wäre ein deutliches Indiz für die Erosion spezifisch konfessionell bestimmter Wertevorstellungen zu Gunsten einer allgemeinen säkularen Lebensphilosophie und würde die schwindende Relevanz von Religion im Alltag unterstreichen.
Die interessanteste Abfrage des ESS stellt in diesem Kontext eine Batterie von Aussagen dar, die die eigene Identifikation mit einer Reihe von kurzen Personenbeschreibungen erfassen, die jeweils gewisse Werte repräsentieren. Ein Beispiel ist die Aussage „Es ist ihm wichtig, neue Ideen zu entwickeln und kreativ zu sein. Er macht Sachen gerne auf seine eigene originelle Art und Weise“, der man mit sechs Antworten von „Ist mir sehr ähnlich“ zu „Ist mir überhaupt nicht ähnlich“ zustimmen oder widersprechen kann. Insgesamt finden sich 21 dieser Aussagen, die in ihrer Gesamtheit ein Bild davon vermitteln, mit welchen Werten sich Menschen identifizieren bzw. inwieweit sie ihnen wichtig sind. Abbildung 1 schlüsselt die Durchschnittsidentifikationen sämtlicher Aussagen (aus Platzgründen kurzgefasst) für das Jahr 2016 nach Konfession auf. Die Balken um jeden Punkt markieren dabei die statistische Schwankungsbreite:
Bereits ohne sich auf die weltanschaulichen Differenzen zu fokussieren, lässt sich eine klare Hierarchie erkennen: An der Spitze steht der positive Umgang mit Freunden, die eigene Unabhängigkeit und Empathie bzw. Altruismus; am Boden selbstbezogene Eigenschaften, wie das Streben nach Anerkennung, Aufregung und Abenteuer oder, als Schlusslicht, materieller Wohlstand bzw. Reichtum.
Blicken wir auf die beiden christlichen Konfessionen, so ergibt sich vielfach keine sichtbare Veränderung – für sämtliche Werte sind die Unterschiede zwischen Protestanten und Katholiken statistisch nicht von null unterscheidbar. Mit Blick auf die Konfessionsfreien sieht der Sachverhalt hingegen deutlich anders aus: In vier Dimensionen, also gut einem Fünftel der abgefragten Werte, zeigen sich statistisch signifikante und teils deutliche Unterschiede:
Ein Wert von 1 markiert hierbei eine Differenz zwischen dem gemittelten Durchschnittswert von Katholiken und Protestanten und dem Wert für Konfessionsfreie von einer Stufe in der Hierarchie der Antwortmöglichkeiten von vollständiger Ablehnung zu vollständiger Zustimmung. Der schwächste statistisch signifikante Unterschied findet sich somit in der Orientierung an den Meinungen anderer (dritte Aussage), nur leicht größer ist die Differenz mit Blick auf die Einhaltung von Regeln (erste Aussage).
Eine naheliegende Vermutung, worin der Grund dieser Unterschiede liegen könnte, ist die Rolle von Religion als ein soziales Phänomen, welches eine höhere Neigung zu Konformität verlangt, als es das konfessionell ungebundene Leben tut. Menschen mit Aversion gegen diese Tendenz würden eher zum Kirchenaustritt tendieren oder im Falle säkularer Erziehung erst gar keinen Grund zum Eintritt sehen. Gleiches gilt für Aussage 1: Es ist zu erwarten, dass eine Weltanschauung, welche die Befolgung von Geboten auf Grund ihrer Setzung durch eine im Wortsinne omnipräsente Macht diktiert, in ihre Reihen eher Menschen ziehen wird, die Regeln und Gesetzen eine stärkere Bedeutung beimessen. Auch die drastische Differenz von mehr als einer Einheit mit Blick auf die Wichtigkeit von Traditionen ergibt in dieser Hinsicht Sinn. Abenteuer, Risiko und Aufregung (Aussage 4) können als zugespitzter, individualistischer Gegenentwurf zu den ersten drei Aussagen gesehen werden.
Über den aktuellen Querschnitt hinaus stellt sich jedoch nicht zuletzt auch die Frage nach der langfristigen Tendenz. Finden hier Anpassungen statt? Waren die Unterschiede zwischen den drei untersuchten Gruppen früher prägnanter, sodass man von einer Konvergenz sprechen könnte? In dieser Hinsicht ist es außerordentlich hilfreich, dass die gerade erörterten 21 Fragen (im Gegensatz zu den meisten anderen) in jeder einzelnen Welle des ESS abgefragt worden sind, sodass wir die Trend-Entwicklung von 2002 bis 2016 nachzeichnen können. Ein weiter in die Vergangenheit reichender Blick wäre selbstverständlich wünschenswert, doch ist auf Basis der vorliegenden Daten nicht möglich.
Für die meisten Aussagen lässt sich hierbei ein ähnliches Bild erkennen, wie es hier beispielweise für die Wichtigkeit materiellen Wohlstandes dokumentiert ist: Man erkennt leichte Schwankungen und gelegentlich gewisse Trendentwicklungen, jedoch nahezu keine Unterschiede zwischen den Weltanschauungen:
Eine tatsächliche Konvergenz lässt sich ausschließlich mit Blick auf die Aussage „Es ist ihm wichtig, Spaß zu haben. Er gönnt sich selbst gerne etwas“, feststellen. Es zeigt sich eine leichte Annäherung des christlichen Milieus an die konfessionsfreien, sodass vormalige Unterschiede seit 2008 insignifikant geworden sind.
Aus Platzgründen verzichten wir auf die weitere Darstellung der restlichen Längsschnitt-Ergebnisse, doch insbesondere die unterschiedliche Gewichtung von Traditionen und Bräuchen ist über die Jahre bemerkenswert konsistent geblieben und hat sich in der jüngsten Welle sogar noch weiter verschärft.
Erwähnenswert ist hier ebenso wie im Falle der meisten nicht dargestellten Datenreihen die Tatsache, dass zwischen den Gruppen relativ ähnliche Trendentwicklungen zu beobachten sind. Ein Maß, mit dessen Hilfe dieser Zusammenhang quantifizierbar gemacht werden kann, ist der sogenannte Korrelationskoeffizient, welcher den linearen Zusammenhang zwischen zwei Variablen in einem Datensatz messen kann, wobei 0 keinen, 1 einen perfekt positiven und -1 einen perfekt negativen Zusammenhang zwischen den Variablen beschreibt. Wenn wir für jede der 21 Zeitreihen die drei Korrelationen (Konfessionsfreie – Katholiken, Konfessionsfreie – Protestanten und Katholiken – Protestanten) berechnen, stellen wir fest, dass ihre Durchschnitte (0.71, 0.73, 0.75) sehr hoch sind. Die Trends für alle drei Gruppen laufen also relativ parallel – Der Zusammenhang der Zeitreihen zwischen Katholiken und Protestanten ist nur marginal höher als der zwischen den Konfessionsfreien und den beiden Konfessionen. Allgemeine gesellschaftliche Werteentwicklungen beeinflussen also in vergleichbarem Maß die drei untersuchten Gruppen.
Die folgende Grafik gibt eine Übersicht über die Korrelationen, wobei rot einen besonders hohen, blau einen eher niedrige Koeffizienten bezeichnet. Selbst die niedrigsten Korrelationen sind somit immer noch leicht positiv. Es muss jedoch angemerkt werden, dass diese Daten auf jeweils 9 Werten pro Zeitreihe und Gruppe beruhen, also bereits ein zufälliger Ausreißer das Ergebnis für die einzelnen Fragen stark verändern kann. Unabhängig davon deuten die durchschnittlichen Korrelationen in eine eindeutige Richtung.
Was lässt sich also schlussendlich festhalten? Anhand von Daten des European Social Survey konnten die Werteidentifikationen der Bundesbevölkerung aufgeschlüsselt nach Konfessionen betrachten werden. Hierbei zeigte sich, dass für mehr als 17 der 21 im Jahr 2016 abgefragten Wertedimensionen keine signifikanten Unterschiede festgestellt werden konnten. In den restlichen vier Kategorien wurden moderate (Abenteuer, Konformität, Regelbefolgung) bis starke Differenzen zwischen Katholiken und Protestanten auf der einen und Konfessionsfreien Menschen auf der anderen Seite festgestellt werden. Die Tendenz dieser Unterschiede ist intuitiv schlüssig: So sind Angehörige der beiden Großkirchen eher daran interessiert, ihr Verhalten an den Erwartungen anderer auszurichten und betonen die Bedeutung der Befolgung von Regeln, selbst in Abwesenheit von zu erwartender Bestrafung. Gleichzeitig sind sie deutlich stärker am Erhalt und der Weitergabe von Traditionen, Bräuchen und (religiösen) Riten interessiert als Konfessionsfreie, welche hingegen eher Abenteuer, Risiko und Aufregung in ihrem Leben zu schätzen wissen.
Im Längsschnitt über die Jahre 2002-2016 betrachtet zeigte sich in nahezu allen Fällen eine konstante oder leicht fluktuierende Differenz zwischen den drei untersuchten Gruppen. Hervorzuheben ist jedoch, dass die konfessionelle Kategorisierung innerhalb der vorliegenden Analyse alleine auf einer dichotomen Definition (katholisch oder nicht katholisch, konfessionsfrei oder nicht konfessionsfrei, etc.) fußt. Große Varianz innerhalb der einzelnen Gruppen verschwindet somit aus der Betrachtung. Subgruppenanalysen, z. B. mit Blick auf den Einfluss der Religiosität, könnten hier ein differenzierteres Bild schaffen.