Religion als Austauschfunktion
„Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks“, so schreibt Karl Marx 1848 in der Einleitung seiner „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“. Diese häufig auf den zweiten Satz verkürzte Sichtweise ist zu einem unter Religionskritikern und Atheisten beliebten Teil des Zitateschatzes der deutschen Sprache geworden. Doch lässt sich Marx‘ Aussage empirisch überprüfen? In einer jüngst erschienenen Studie setzen sich Zuckerman und Kollegen mit dieser Frage auseinander. Das Ergebnis ist verblüffend – Der Sozialstaat erfüllt heute die Funktion der Religion.
Von Tobias Wolfram
Die moderne Persönlichkeits- und Sozialpsychologie beschäftigt sich bereits seit Jahrzehnten mit der Erforschung der Ursachen für den Glauben von Menschen. Verschiedene Modelle wurden vorgeschlagen, diskutiert, empirisch überprüft und wieder verworfen. Inzwischen hat sich die Debatte differenziert und wird auf zwei Ebenen geführt: So stellt sich einerseits die Frage, ob und inwieweit monotheistische Vorstellungen eines allmächtigen Gottes und die damit einhergehenden moralischen Vorgaben als Mechanismus eines kulturellen Evolutionsprozesses betrachtet werden können, welcher kleinen Gemeinschaften half, sich zu großen, kooperativen Gesellschaften zu entwickeln. Insbesondere die jüngeren Arbeiten von Norenzayan und Kollegen haben in diesem Kontext in den letzten Jahren eine starke Rezeption gefunden und sollen in einem späteren Artikel thematisiert werden.
Denn andererseits existiert neben dieser Analyse des Phänomens auf einer Kollektivebene auch die Perspektive, welche Marx in seinem Zitat einnimmt, nämlich jene des Individuums, das durch seine ganz persönlichen Lebensumstände zum Glauben motiviert oder von diesem abgebracht wird. Diese Sichtweise nimmt die Forschung im „Austausch-Modell“ ein. Die grundsätzliche Idee dieses Ansatzes ist simpel: Wenn materielle und immaterielle Güter zunehmend durch staatliche Akteure bereitgestellt werden, ist man weniger geneigt, eine höhere Macht um Beistand und Hilfe anzurufen oder auf das soziale Netz zu vertrauen, welches eine Religionsgemeinschaft bereitstellen kann. Betete man so früher für Heilung von einer Krankheit oder vertraute darauf, dass im Falle eines Schicksalsschlages das soziale Netz der Kirche einen auffangen würde, man also im Austausch für den eigenen Glauben mehr oder weniger greifbare Gegenleistungen erhielt, finanziert heute der Sozialstaat die Gesundheitsversorgung, Rentensysteme, Arbeitslosengelder und zahlreiche weitere Maßnahmen, sodass die individuelle Motivation zum Glauben nicht mehr im gleichen Maße gegeben ist, wie dies in vergangenen Zeiten der Fall gewesen ist.
Für das Modell sprechen verschiedene Befunde: Wenn Religion tatsächlich als Austausch-System betrachtet werden kann, müsste man annehmen, dass Individuen eher bereit sind, sich auf einen „Handel“ einzulassen, je stärker sie die so zur Verfügung gestellte „Ware“ benötigen. Zahlreiche Studien belegen genau dies – sei es, dass Menschen unter Kontrollverlust oder nach einem Trauerfall religiöser werden. Katastrophen können gar ganze Regionen wieder zu verstärktem Glauben führen, wie Daten des New Zealand Attitudes and Values Study zeigen, die durch Zufall die Religiosität im Rahmen einer Längsschnitt-Studie vor und nach einem starken Erdbeben 2010 messen konnten. Von 2009 bis 2011 stieg die Religiosität in der betroffenen Canterbury-Region um 3,4 Prozent, während sie im Vergleich dazu im Rest des Landes um 1,6 Prozent fiel.
Der gleiche Effekt kann zudem auch in der anderen Richtung beobachtet werden – wenn Gläubige in schweren und extremen Krisen den Eindruck haben, dass Gott sie ungerechtfertigt verlassen hat, führt dies häufig zu Zorn und Zweifel an der Religion selbst.
Zudem kann die Austauschbarkeit von Religion und Staat an sich untersucht werden: Wenn die durch den Glauben bereitgestellten Güter auch auf anderem Wege erlangt werden können, sinkt der Nutzen der Religion. Die jüngere Literatur untersucht hierbei drei zentrale Felder: Kontrolle, Moral und materielle Lebensqualität.
Auch hier liefert die Forschung klare Befunde: So kann die strukturierende Ordnung und Macht Gottes genauso gut von einer Regierung bereitgestellt werden und tatsächlich zeigen Experimente, dass niedrige Selbstkontrolle nicht nur mit einem stärkeren Glauben an einen kontrollierenden Gott, sondern auch mit der Präferenz für eine stärkere staatliche Kontrolle einhergeht. Zudem steigt mit sinkender politischer Stabilität der Glaube an Gott.
Gleiches lässt sich mit Blick auf Moral festhalten – zahlreiche Studien belegen zwar den Zusammenhang zwischen Religiosität und sozialem Verhalten, doch finden sich in der neueren Literatur Ergebnisse, die darauf hindeuten, dass der Glaube an säkulare Institutionen (Polizei, Gerichte, etc.) ebenfalls zu kooperativerem Verhalten motivieren kann. Menschen, die den Staat in der Verantwortung sehen, Verbrecher zu fassen und ihre Taten zu ahnden, sind dementsprechend weniger geneigt an einen allmächtigen, strafenden Gott zu glauben und auch wenn robuste Evidenz existiert, dass weltweit Atheisten eher als religiösen Menschen Misstrauen entgegen gebracht wird, da diese nicht unter der vermeintlichen Kontrolle einer höheren Macht stehen, ist dieses Misstrauen niedriger in stabilen Rechtsstaaten.
Auch der Blick auf die materielle Lebensqualität liefert ein ähnliches Bild, wie es aktuelle Daten des Pew Research Centers darlegen: „Why do levels of religious observance vary by age and country?“. So existiert eine stark negative Korrelation zwischen durchschnittlicher Lebenserwartung und der Teilnahme an Gottesdiensten und vergleichbaren religiösen Praktiken zwischen den Ländern der Welt.
Gleiches gilt für die durchschnittliche Anzahl an Bildungsjahren: Je gebildeter die Menschen, desto geringer die Kirchganghäufigkeit.
Ein logarithmischer Zusammenhang kann für die Häufigkeit von Gebeten und Bruttosozialprodukt/Einwohner beobachtet werden: Während in extrem armen Ländern wie Afghanistan mehr als 95 Prozent der Bevölkerung täglich beten, sind es in wohlhabenden, westeuropäischen Staaten oftmals weniger als 10 Prozent. Der einzige ‚Ausreißer‘ sind hierbei die Vereinigten Staaten, die als einziges Land sowohl über ein überdurchschnittliches Bruttoinlandprodukt als auch eine im internationalen Durchschnitt überdurchschnittlich hohe Rate von täglichen Betenden verfügen.
Zuckerman und Kollegen ergänzen diese Befunde nun durch zwei weitere Untersuchungen mit Hilfe hierarchischer linearer Regressionsmodelle, einerseits auf Basis von Querschnittsdaten aus 155 Ländern und andererseits durch eine Analyse des der Entwicklung der Religiosität in US-Bundesstaaten von 2008-2013. Beide bestätigen hierbei das Austauschmodell.
So zeigt sich auf der globalen Ebene, dass die durchschnittliche Religiosität im Schnitt niedriger ist, wenn sich Lebensqualität (operationalisiert durch einen Index verschiedener Indikatoren, wie Bildungsniveau, Kindersterblichkeit, Urbanität, Lebenserwartung, Armutsquote, etc.) und staatliche Sozialausgaben auf einem hohen Niveau bewegen. Weiterhin existiert ein positiver Zusammenhang zwischen Religiosität und subjektiver Lebenszufriedenheit, jedoch ausschließlich in Staaten mit niedrigen Sozialausgaben.
Auf Ebene der US-Bundesstaaten zeigt sich im Querschnitt ein vergleichbares Ergebnis. Niedrigere Religiosität geht mit höheren Sozialausgaben und höherer Lebensqualität einher. Beide Befunde stellen jedoch keine klare Kausalität her und messen ausschließlich Korrelationen. Über den Zeitverlauf von 2008-2013 zeigt sich in den US-Daten jedoch ein temporaler Effekt, der eine ursächliche Wirkung nahelegt: Die Steigerung der Sozialausgaben in einem Jahr hatte signifikante Effekte auf die Verringerung der Religiosität in den nächsten zwei Jahren. Trotzdem handelt es sich hierbei nur um ein erstes Indiz, insbesondere, da die Veränderungen über den 5-Jahres-Zeitraum ebenso wie die grundsätzlichen Unterschiede zwischen den Bundesstaaten im globalen Maßstab relativ gering sind. Langfristigere Längsschnittstudien mit heterogeneren Untersuchungseinheiten sind in Zukunft nötig, um hier klare Befunde zu liefern. Trotzdem legt der gegenwärtige Forschungsstand nahe, dass die Austauschtheorie über ein valides empirisches Fundament verfügt.
Wir können dem am Anfang diskutierten Bonmot also durchaus einen wahren Kern zugestehen: Je schlechter die Lebensverhältnisse, desto eher neigt der Mensch zum Glauben. Wenn sich jedoch in weiteren Studien losgelöst von tatsächlicher Lebensqualität der Sozialstaat als kausaler Einflussfaktor sinkender Religiosität herausstellen sollte, würde dies aus einer liberal-aufklärerischen Perspektive interessante Fragen aufwerfen: Kann eine Gesellschaft Eigenverantwortung fördern und Sozialausgaben reduzieren, ohne gleichsam religiöser zu werden? Führen Säkularisierungsprozesse zwangsläufig zu einem immer umfassenderen Staat? Ersetzt ein solcher Staat letztlich nur die metaphysische Abhängigkeit von Gott durch die physische des Sozialwesens, wie es konservative Kommentatoren befürchten? Karl Marx hätte eine solche Ironie sicherlich ein Lächeln entlockt.