Stuttgarter Atlas der Religionen
Die Stadt Stuttgart finanzierte als bundesweit einmaliges Projekt den „Stuttgarter Atlas der Religionen“. Dieser Religionsatlas wurde vom „Rat der Religionen“ angestoßen und vom Statistischen Amt der Stadt Stuttgart ausgeführt. Der Atlas der Religionen mache Religionen „sichtbar, diese können angesprochen, eingeladen und schließlich verstanden werden“. Eine genauere Durchsicht der Publikation zeigt detailliert, dass dieser Anspruch noch nicht einmal im Ansatz eingelöst wurde. Mit diesem „Stuttgarter Atlas der Religionen“ ist leider die Chance vertan worden, die bunte Vielfalt von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in der Stadt und der Region zu zeigen.
Von Werner Koch und Carsten Frerk.
Der „Stuttgarter Atlas der Religionen“ ist ein gewichtiges Dokument: DIN A4, 191 Seiten, durchgehend vierfarbig gestaltet, Kunstdruckpapier, 700 Gramm schwer, Verkaufspreis 8 Euro.
Angeregt wurde diese Broschüre, laut katholisch.de, von dem katholischen Stadtdekan Christian Hermes. Offizielle Herausgeberin ist das Statistische Amt der Landeshauptstadt Stuttgart, mit einem Vorwort des Oberbürgermeisters Fritz Kuhn und einem Vorwort von Stadtdekan Msgr. Dr. Christian Hermes, der als „Projektverantwortlicher für den Atlas der Religionen im Rat der Religionen Stuttgart“ genannt wird.
Der „Rat der Religionen“ wurde 2016 in Stuttgart gegründet. Vorläufer waren der ACK (Arbeitskreis Christlicher Konfessionen, 1972 gegründet), und – nach 9/11-2001 - der „Runde Tisch der Religionen“, 2003 gegründet. Der Rat hat 19 Mitglieder und versteht sich als autonome und vom Staat unabhängige Organisation (S. 64):
„Die in Stuttgart gewählte Organisationsform verleiht dem Rat eine hohe Autonomie und Unabhängigkeit in der Wahl seiner Themen und in der Äußerung seiner Positionen und bewahrt die Kommune vor der Verlegenheit, ihre pflichtmäßige religiös-weltanschauliche Neutralität zu gefährden.“
Wie es zu dieser staatlichen Neutralität passt, dass der „Stuttgarter Atlas der Religionen“ offiziell von der Landeshauptstadt Stuttgart herausgegeben wird und von einem Beamten der Stadtverwaltung konzipiert und koordiniert wurde, wird nicht erläutert.
Laut Satzung des Rates der Religionen (1) sind die drei wichtigsten Ziele des Rates:
„Der Rat der Religionen verfolgt das Ziel, Kontakt, Verständnis und Dialog der Religionen in Stuttgart untereinander und mit der Stadtgesellschaft zu fördern und zu pflegen sowie gemeinsam interessierende Themen zu beraten und Positionen dazu abzustimmen. Dieser Zweck wird insbesondere verwirklicht, indem der Rat (1) den interreligiösen Dialog im Geist des Friedens und der Verständigung, der Achtung und der Toleranz, des Vertrauens und der Akzeptanz pflegt; (2) sich für die Religionsfreiheit im Sinne des Art. 4 Grundgesetz einsetzt; (3) sich in Stuttgart für die gemeinsamen Anliegen der Religionen sowie für ein friedliches, gerechtes und tolerantes Miteinander aller Bürger, der religiösen und der nichtreligiösen, einsetzt.“
Dieser Vertretungsanspruch, unter Einbeziehung der Nichtreligiösen, steht allerdings im grundsätzlichen Widerspruch zum Ausschluss von Weltanschauungsgemeinschaften (S. 64):
„Ebenso hat der Rat entschieden, ‚Weltanschauungsgemeinschaften‘ aufgrund ihrer grundsätzlich ablehnenden Haltung gegenüber den Religionen nicht aufzunehmen, auch wenn diese innerhalb des staatlichen Religionsrecht analog zu den Religionsgemeinschaften als Verwirklichungsformen der verfassungsmäßigen Religionsfreiheit verstanden werden.“
Entsprechend dieser religiös begrenzten Auffassung ist die zentrale Argumentationslinie – so die Darstellung des Bürgermeisters Dr. Martin Schairer und des Koordinators im Statistischen Amt, Dr. Ansgar Schmitz-Veltin in der Einführung (S. 10) -, dass die Bedeutung der Religion in Stuttgart immer noch groß ist.
„Auch wenn die Zahl der Kirchenmitglieder seit vielen Jahren zurückgeht und heute weniger als die Hälfte der Stuttgarter Bevölkerung formal Mitglied einer der beiden großen Volkskirchen ist, so bleibt die Bedeutung von Religion in der Stadt und ihrer Gesellschaft noch immer groß. Stuttgart ist bunter geworden, neben die großen Kirchen sind weitere Glaubensgemeinschaften getreten – christliche wie nichtchristliche. Der Anteil der Stuttgarterinnen und Stuttgarter, der sich keiner religiösen Richtung zuordnet, ist nicht bekannt. Er dürfte – unter Zugrundelegung von Befragungsdaten und Schätzungen – bei rund einem Viertel der Einwohner liegen. Rund drei Viertel der Stuttgarterinnen und Stuttgarter bezeichnet sich selbst als zumindest etwas religiös, ein Fünftel glaubt sehr stark an Gott oder etwas Göttliches.“
Diese „Verbuntung“-These ist unter Theologen – als Beispiel der renommierte Pastoraltheologe Paul Zulehner in „Wandlung“ – beliebt, um den Begriff der „Säkularisierung“ zu vermeiden.
Das Ergebnis sieht so aus, dass die Daten aus dem Melderegister, die eine Mehrheit der Bürger zeigen, die nicht Mitglied in einer Religionsgemeinschaft mit dem Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts sind, sich nun zu einem Viertel „Nicht-Religiöse“ verändert haben.
Medial hat das Erfolg. So melden die Stuttgarter Nachrichten die Titelzeile „Der Glaube ist so bunt wie die Stadt selbst“, die Diözese Rottenburg-Stuttgart schreibt: „Die religiöse Vielfalt hat uns überrascht“ und katholisch.de titelt: „Stuttgarter ‚Atlas der Religionen‘: Drei Viertel nennen sich religiös“.
Die Sichtweise der „Verbuntung“ wird auch grafisch konsequent verwendet. Die Kirchenmitglieder/Religiösen werden in (‚lebendigen‘) Farben dargestellt – violett, gelb, rot, grün – während die Nicht-Christen/Nicht-religiösen als grau dargestellt werden (grau = farblos). Das gilt auch für die großen Karten zu den Stuttgarter Stadtbezirken, in der die Karte 4, S. 46 (Mitglieder sonstiger Religionsgemeinschaften / Ohne Mitgliedschaft in einer öffentlichen-rechtlichen Religionsgemeinschaft) und die Karte 6, S.48 (Anteile gar nicht religiöser Einwohner) in diversen Abstufungen von Grau dargestellt werden. (‚Graue Mäuse‘?)
Religiosität
Da diesem Thema ein sehr großer Raum eingeräumt wurde und es gleichsam die Begründung für die Publikation insgesamt ist, sei diesem Aspekt ebenso ein größerer Raum gewidmet.
Bereits in der Stuttgarter Bürgerumfrage 2008 wurde nach der Religiosität gefragt und die Ergebnisse unter: „Religionszugehörigkeit und Religiosität in Stuttgart. Ergebnisse der Lebensstilbefragung in Stuttgart 2008“ veröffentlicht. Darin heißt es u.a.:
„Im Rahmen der Auswertung werden für jede der betreffenden Fragen die Antwortmöglichkeiten zu einem Wert („Stuttgarter Religiositätsbarometer“) zusammengefasst. Damit werden die Ergebnisse zur Einschätzung der eigenen Religiosität (Frage 32), zum Nachdenken über Religiosität (Frage 33), zum Glaube an Gott oder etwas Göttliches (Frage 34), zu Erfahrungen mit Gott oder etwas Göttlichem (Frage 35) sowie zur privaten und öffentlichen Religionsausübung (Frage 36) zu einem Wert verdichtet und Vergleiche zwischen Angehörigen der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften (Frage 31) und unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen ermöglicht. […]
In der Lebensstilbefragung wurden im Anschluss an die Frage zur eigenen Religionszugehörigkeit die Befragten zur Einschätzung der eigenen Religiosität gebeten. Die Ergebnisse zeigen, dass sich sechs Prozent der Befragten als ‚sehr religiös‘ und weitere 13 Prozent als ‚ziemlich religiös‘ einschätzen. Diesem ‚religiösen Fünftel‘ stehen mehr als doppelt so viel Befragte (45 %) gegenüber, die sich als ‚gar nicht religiös‘ oder ‚weniger religiös‘ einstufen. 36 Prozent der Befragten und damit mehr als ein Drittel schätzt sich als ‚durchschnittlich religiös‘ ein.“
Im Fragebogen der Bürgerumfrage 2019 wird zwar der gleiche Fragensatz verwendet, aber anders ausgewertet.
Im Atlas der Religionen werden die Auswertungen zum Teil aufgenommen, die in publizierten Ergebnissen zur Religiosität der Bürgerbefragung 2019 in einem Fachartikel (Ansgar Schmitz-Veltin: „Woran glaubt Stuttgart? Dimensionen der Religiosität im Zeitvergleich“) publiziert wurden.
Die Darstellungen zur Religiosität im „Atlas der Religionen“ entstammen Auswertungen aus der Bürgerumfrage 2019, die ebenfalls wiederum auf den Vorgaben des Religionsmonitors 2007 der Bertelsmann-Stiftung beruhen. Da der Religionsmonitor die Auswertungslogik detailliert darstellt, sei die Vorgehensweise kurz erläutert.
Am 15.12.2007 veröffentlichte die Bertelsmann-Stiftung eine Pressemitteilung zu den Ergebnissen des Religionsmonitors mit der Überschrift: „Jeder fünfte Bundesbürger ist ein hochreligiöser Mensch“, in der es heißt:
„In der deutschen Bevölkerung sind Glauben und Religiosität noch weit stärker verbreitet, als dies zumeist vermutet wird. So können rund 70 Prozent der Menschen hierzulande als religiös eingestuft werden und nahezu jeder Fünfte sogar als hochreligiös. Lediglich 28 Prozent weisen in ihrer persönlichen Identität keinerlei religiöse Dimensionen auf. Auch im zeitlichen Trend kann keine anhaltende Säkularisierung breiter Bevölkerungsschichten festgestellt werden. Gleichzeitig herrscht in Deutschland eine sehr bunte Vielfalt an religiösen Einstellungen, Bindungen und Identitäten, die auch zwischen Geschlechtern, Altersgruppen und der geographischen Herkunft große Unterschiede aufweist. Dies ist das Fazit des neuen Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung, die die bislang detaillierteste weltweite repräsentative Erhebung zu diesem Thema vorgenommen hat.“
Die Forscher des „Religionsmonitors“ der Bertelsmann-Stiftung haben den Befragten fünf Fragen als Indikatoren zur Messung der Zentralität der Religiosität gestellt:
- Intellekt: Wie oft denken Sie über religiöse Themen nach?
- Ideologie: Wie stark glauben Sie daran, dass es Gott oder etwas Göttliches gibt?
- Öffentliche Praxis: Wie häufig nehmen Sie an /Gottesdiensten /Synagogengottesdiensten /Gemeinschaftsgebeten / Tempel (gehen) /spirituellen Ritualen oder religiösen Handlungen /teil?
- Private Praxis: Wie häufig beten Sie? / Wie häufig meditieren Sie?
- Erfahrung: Wie oft erleben Sie Situationen, in denen Sie das Gefühl haben, dass Gott oder etwas Göttliches in Ihr Leben eingreift? / Wie oft erleben Sie Situationen, in denen Sie das Gefühl haben, mit Allem Eins zu sein?
Die Antworten auf die fünf Fragen wurden von 1 bis 5 kodiert (1 = nie / gar nicht; 2 = selten / wenig; 3 = gelegentlich / mittel; 4 = oft / ziemlich; 5 = sehr oft / sehr). Dem entsprechend erstreckt sich der Zentralitätsindex von 5 bis 25 Punkten. 5 Punkte haben die Befragten, die alle fünf Fragen mit „nie / gar nicht“ beantwortet haben, 25 Punkte diejenigen, die auf alle fünf Fragen mit „sehr oft / sehr“ geantwortet haben.
Wer 5 – 10 Punkte hatte, wurde als „nicht religiös“ eingestuft, von 11 – 19 Punkten wurde man als „religiös“ bewertet und von 20 – 25 Punkten ist der Befragte „hoch religiös“.
Diese Art der Methodik erhielt umgehend Widerspruch und so hieß es u.a. „Märchenstunde bei Bertelsmann“.
„So geschieht denn auch das Wunder, dass bereits die erste Frage („Wie oft denken Sie über religiöse Themen nach?“) jeden interessierten Atheisten der sich mittels Lektüre der Kriminalgeschichte des Christentums in religiösen Fragen fortbildet, zum Hochreligiösen mutieren lässt. Ganze 5 Punkte bringt die ehrliche Antwort ein.“
Wer also für diese Frage fünf Punkte bekam, von den anderen vier Fragen zweimal mit „niemals“ beantwortete ( 2 x 1 Punkt), die Gottesdienstbegleitungen des Opas im Rollstuhl als „gelegentlich“ bewertete (= 3 Punkte) und gelegentlich das Glücksgefühl hat, „mit allem eins zu sein“ (= 3 Punkte) hat 5+2+3+3 = 13 Punkte und ist somit – auch als Säkularer – „religiös“. Das liegt dann auf der Linie „Wenn Wissenschaft zum Humbug wird“. Oder analog Heinrich Bölls Erfahrung: „Und Atheisten?“ Er lachte noch immer. „Die langweilen mich, weil sie immer nur von Gott sprechen.“ (Ansichten eines Clowns.)
Das wird im Religionsmonitor 2013 fortgeschrieben. Kernergebnis ist: „Religion hat einen positiven Einfluss auf den Zusammenhalt in der Gesellschaft“ (Prof. Dr. Detlef Pollack und Dr. Olaf Müller).
Im Atlas der Religionen wird auf die Bürgerumfrage 2019 Bezug genommen und es werden (wie in der Lebensstilumfrage 2008) vier Kategorien der Religiosität gebildet: Gar nicht / wenig / mittel /stark.
In den zusammenfassenden Auswertungen werden dann jedoch die vier Kategorien anders zusammengefasst. Während es 2008 zusammengefasst 55 Prozent (also gut die Hälfte) sich als zumindest mittel-religiös verstehen, sind es 2019 (unter Einberechnung der „weniger Religiösen“) 74 Prozent (also Dreiviertel der Bevölkerung), die als zumindest etwas religiös zusammengezählt werden.
Das kann man so machen, verdeutlicht aber die damit verbundene Absicht, der Behauptung einer Realität von Religiosität, die man methodisch aber eher herbeizwingt.
Exkurs: Vielfalt
Der bereits anfangs zitierten Sichtweise einer ‚Verbuntung‘ entspricht, dass der Begriff „Vielfalt“ 22mal im „Stuttgarter Atlas der Religionen“ genannt wird, dreimal in der Einleitung des Oberbürgermeisters (S. 3), dreimal vom katholischen Stadtdekan (S. 4) sowie auf den Seiten 9, 12 (2 x), 17, 42, 50, 71 und den Seiten 81, 84, 88, 91, 92, 101, 121, 17, 189 – also durchgehend, aber stets in einem vorrangig religiösen Kontext.
Welche Rolle spielt aber Religion für die Vielfalt in einer Gesellschaft? Für die Akzeptanz im Sinne eines „Friedens und Zusammenhalts unserer Stadtgesellschaft“ (Stuttgarter Rat der Religionen).
Für die Rolle der Religionen für den Zusammenhalt in Vielfalt hat die Robert-Bosch-Stiftung „Das Vielfaltsbarometer 2019“ entwickeln lassen.
Dafür werden sieben Dimensionen betrachtet, die für die Akzeptanz von Vielfalt von Bedeutung seien:
Es wird deutlich, das Religion nur eine der benannten sieben Dimensionen darstellt. Entsprechend der Auffassung des Oberbürgermeisters von Stuttgart sowie des „Rates der Religionen“ müsste Religion eine wesentliche Dimension sein. Die Ergebnisse der Robert-Bosch-Stiftung sagen jedoch etwas anderes:
„Neben regionalen Unterschieden lassen sich mitunter deutliche Unterschiede in der Akzeptanz einzelner Vielfaltsdimensionen beobachten. So ist in Deutschland die Akzeptanz von Menschen mit Behinderung (83 Punkte) und nicht-heterosexueller Orientierung (77 Punkte), aber auch von Menschen mit anderer ethnischer Herkunft (73 Punkte) hoch. Auch Offenheit gegenüber Menschen eines anderen Lebensalters (70 Punkte), eines anderen Geschlechts (69 Punkte) und gegenüber sozioökonomisch Schwachen (58 Punkte) ist noch mehrheitlich vorhanden. Lediglich gegenüber Religion und religiöser Vielfalt (44 Punkte) scheint die Skepsis zu überwiegen; allerdings legen die Ergebnisse nahe, dass es sich trotz der öffentlich-medialen Fokussierung nicht allein um ein Votum über „den Islam“ handelt, sondern sich in der geringen Zustimmung eher eine allgemeine Distanz gegenüber religiösen Lebensweisen und Traditionen zeigt.“
Eine Übersicht der sieben Dimensionen in den einzelnen Bundesländern zeigt, dass die Bedeutung der Religion in allen Bundesländern den geringsten Stellenwert hat:
Entwicklung und Struktur von Religionsgemeinschaften
Die Darstellungen zur Entwicklung und Struktur von Religionsgemeinschaften (S. 22 – 41) sind im Großen und Ganzen die Duplikate der bereits bestehenden Ausarbeitungen und Fachveröffentlichungen der Mitarbeiter des Statistischen Amtes. Nun auf Hochglanz.
Evangelische und katholische Kirche
Für beide Religionsgemeinschaften werden die „Eintritte der unter 18-Jährigen“ in 18 Jahreskästchen dargestellt. Der Eintritt (Duden-Synonyme: Anfang, Antritt, Auftakt, Beginn) ist gemeint als der Beginn der Kirchenmitgliedschaft. (In die Kirche eintreten – oder aus ihr austreten – kann man nach staatlichem Recht und kirchenrechtlich erst mit 14 Jahren.) Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, wenn es dann heißt: „Das Medianalter für alle Eintritte in die römisch-katholische Kirche liegt bei 0 Jahren“ (S. 26). Nach Darstellung der Altersgruppen der Mitgliedschaft und der Austritte sowie Migrationshintergrund, war es das. Kein Wort – bei den Evangelischen – zu den Pietisten (Stuttgart als „Hauptstadt der Pietisten“, den „Piet-Kong“, den Bibelanstalten, den evangelischen Freikirchen, u.a.m.).
Muslime
In dem bereits zitierten ausführlichen Bericht zur Auswertung der Bürgerumfrage 2019 (Ansgar Schmitz-Veltin: „Woran glaubt Stuttgart? Dimensionen der Religiosität im Zeitvergleich.“) werden die Ergebnisse der Selbstbeschreibung der Religionszugehörigkeit genannt.
„In der Bürgerumfrage 2019 gaben rund zwei Drittel der Befragten an, einer Religionsgemeinschaft anzugehören. Der größte Teil hiervon entfällt mit 34 Prozent auf die evangelische Kirche, weitere 23 Prozent auf die römisch-katholische Kirche. Fünf Prozent gehören einer anderen christlichen Gemeinschaft an, während knapp sechs Prozent angeben, einer nichtchristlichen Religionsgemeinschaft anzugehören. Hiervon entfallen wiederum zwei Drittel auf islamische Religionsgemeinschaften.“
Das heißt, mit anderen Worten, rund vier Prozent der Bevölkerung Stuttgarts bezeichnen sich 2019 selbst als Muslime.
Nun gibt es aber auch eine fachliche Ausarbeitung des Statistikamtes (Pasquale Frisoli und Attina Mäding: „Muslime in Stuttgart 2017. Neue Schätzung zur Zahl der in Stuttgart lebenden Muslime“) in der es bereits einleitend heißt: „Für Muslime ist die praktische Ausübung des Glaubens das entscheidende Kriterium, nicht die Mitgliedschaft.“ In der Ausarbeitung wird zwar sorgfältig auf die verschiedenen Methoden der Schätzung der Anzahl der Muslime eingegangen (ebenso wie im „Atlas der Religionen“), aber dann wird eine präzise Schätzung genannt (ebenso wie im „Atlas der Religionen“): „Für das Jahresende 2017 ergeben sich aus der Schätzung etwa 59 000 in Stuttgart lebende Bürger muslimischen Glaubens. Das entspricht einem Anteil von etwa zehn Prozent aller Einwohner.“
In den Ausarbeitungen des Statistischen Amtes ist die auch im Atlas der Religionen übernommene Abbildung zur „Öffentlichen und privaten Praxis nach Religionszugehörigkeiten 2019“ enthalten, aus der hervorgeht, dass bei den „nicht-christlichen Gemeinschaften“, bei denen es sich überwiegend um Muslime handelt, 63 Prozent nicht in den Gottesdienst gehen (gelbe Felder), also keine derartige religiöse Praxis leben.
In dieser Hinsicht könnte es angebracht sein, die formalen Schätzungen von Muslimen als 10 Prozent der Bevölkerung auf die Hälfte zu reduzieren und das wären dann um die fünf Prozent, was der Selbstbeschreibung im der Bürgerumfrage 2019 recht genau entsprechen würde.
Aber ein einem Artikel zur „muslimischen Bevölkerung in Stuttgart“ zu den Glaubensrichtungen des Islams nur die Anmerkung zu finden: „Ebenso unberücksichtigt bleibt bei dieser Schätzung die Frage nach dem Anteil der Glaubensrichtungen (z. B. nach Schiiten, Sunniten) innerhalb des Islams“, zeigt die Begrenztheit dieser Ausführungen und eine pauschale, undifferenzierte Darstellung des Islams und seiner vielfältigen Glaubensrichtungen, die man von einem „Atlas“ differenzierter erwarten darf.
Die Daten dafür liegen vor, unter anderem vom Bistum Rottenburg-Stuttgart, die eine sogfältige Übersicht über die „Islamischen Einrichtungen in Baden-Württemberg“ publiziert hat, unterteilt nach inhaltlicher Orientierung und Zugehörigkeit zu einem islamischen Verband.
Für Stuttgart lassen sich die Verbandszuordnungen und damit auch die inhaltlichen Auffassungen der einzelnen Einrichtungen/Moscheegemeinden, d. h. ihre „Buntheit“, herausfiltern:
Diese Übersicht, die mit der im „Atlas der Religionen“ dargestellten Übersicht nur gering übereinstimmt, zeigt, wie wenig die islamischen Verbände und Moscheevereine in dem Stuttgarter Atlas berücksichtigt sind.
Infoteil
Den größten Platz in dem Stuttgarter Religionsatlas hat der „Infoteil“ mit einem Umfang von 117 Seiten (das entspricht einem Anteil von 61 Prozent des Umfangs): „Übersicht: Die religiöse Landschaft in Stuttgart“ (S. 72/73). Da sind genannt: 57 Gemeinden und Gemeinschaften der evangelischen Landeskirche, 60 Gemeinden der römisch-katholischen Kirche, 17 Gemeinden der neuapostolischen Kirche, 53 weitere christliche Kirchen und Gemeinschaften, 1 jüdische Gemeinde, 22 Organisationen des Islam, 18 weitere Religionen, religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften, insgesamt 228.
Aber es ist auffallend, dass keine Seitenangaben hinter den Nennungen in der Liste stehen und das hat seinen Grund, denn von den „weiteren christlichen Kirchen und Gemeinschaften“ fehlen 24 (von 53 genannten), vom „Islam“ 16 (von 22), von den „weiteren Religionen, religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften“ fehlen 9 (von 18) – allerdings einschließlich der Humanisten Baden-Württemberg, die vom Rat der Religionen ausdrücklich ausgeschlossen worden waren.
Es gibt – mit wenigen Ausnahmen - keine Angaben zu den Mitgliederzahlen, zur durchschnittlichen Zahl der Besucher von Veranstaltungen, über die Anzahl und Art von Veranstaltungen u. a. m., um zumindest anzudeuten, welchen Bezugsrahmen die Gemeinden haben, wie viele Stuttgarter Bürger sie tatsächlich vor Ort erreichen. Insofern bietet der „Stuttgarter Atlas der Religionen“ keinen Einblick oder Zugang zur gelebten Realität der Religionsgemeinschaften in Stuttgart. Es fehlt zum Beispiel ein Register mit einer Übersicht, welche Sprachen von welchen Gemeinden/ Organisationen angeboten werden. Und welchen Sinn es hat, dass beispielsweise von den 17 Gemeinden der neuapostolischen Kirche neun den – bis auf Adresse und Jahreszahl – identischen Text veröffentlichen lassen, erschließt sich einem suchenden Leser nicht.
Ein kleines Taschenbuch mit den Adressen, Gebetszeiten und den Internetseiten hätte den gleichen Zweck erfüllt. So ist es eine umfangreiche „Blei-/Buchstabenwüste“, die eher dokumentiert, wie Religion verwaltet, aber nicht, wie sie gelebt wird.
Fazit
Mit diesem „Stuttgarter Atlas der Religionen“ hat die Landeshauptstadt Stuttgart leider die Chance vertan, die bunte Vielfalt von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in der Stadt und der Region zu zeigen – mit Statistiken, Berichten, Reportagen, Fotos, Interviews – aus denen dann ein lebendiges Bild dieser Aktivitäten entstanden wäre.
Erschließt sich einem Suchenden, wie ein Wald aussieht, welche Eigenarten und Besonderheiten er hat, wenn man die Anzahl der Bäume und Baumsorten gezählt hat? Für die Förster und Waldarbeiter mag das vielleicht eine sinnvolle Information sein, für die Besucher und Wanderer im „Religions-Wald“ – für die dieser Religionsatlas ja ausdrücklich gedacht ist - wohl kaum.
So haben die Statistiker im Rahmen der Möglichkeiten des Melderegisters und zwei knappen Umfragen 2008 und 2019 redlich und korrekt dargestellt, was sie dazu berichten können. Ein „Atlas“, den man zur Hand nehmen könnte, um sich in übersichtlicher Form zu informieren, ist das jedoch nicht.
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Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt (Hrsg.) „Stuttgarter Atlas der Religionen“, 2020, 190 Seiten, 8 Euro.