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Deutschland (2): Der evangelische Norden

Deutschland ist das einzige Land in Europa, dass nicht von einer Mehrheitsreligion dominiert wurde, sondern in dem sich historisch zwei christliche Hauptdenominationen behauptet haben. Tendenz: Im Norden und Osten protestantisch, im Westen und Süden katholisch. Der evangelische Norden und Osten hat sich jedoch mittlerweile auf die Bundesländer Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Hessen reduziert.

Von Carsten Frerk

Die drei Stadtstaaten im Norden (Hamburg, Bremen und Berlin) sind, ebenso wie die Bundesländer im Osten, mittlerweile mehrheitlich konfessionsfrei. (Sie werden in Teil 4 „Der entkirchlichte Osten“ sowie in Teil 5 „Die säkularisierten Städte“ dieser Serie dargestellt.) Auch Baden-Württemberg, das bis in die 1960er Jahre eine leichte evangelische Mehrheit hatte, hat seit 1970 eine katholische Mehrheit.

Da die Situation in Hessen bereits ausführlich in „Konfessionen und Religiosität in Hessen“ dargestellt wurde, beschränkt sich dieser Text auf die Bundesländer Schleswig-Holstein und Niedersachsen.

Schleswig-Holstein

Nachdem bereits 1536 das Königreich Dänemark lutherisch geworden war, verkündete Christian III. am 9. März 1542 mit der Kirchenordnung von Johannes Bugenhagen auch in den Herzogtümern Schleswig und Holstein die lutherische Glaubensrichtung als verbindliche Konfession. Dabei ist es bis heute geblieben - abgesehen von diversen formalen Veränderungen der Kirchenorganisation.

Neben den in den Quellen genannten Ergebnissen der Volkszählungen, die nur gedruckt vorliegen, sind elektronisch abrufbar: die Ergebnisse der Volkszählung von 1939[1] und die Übersicht 1939-1987[2], sowie die Angaben zum ALLBUS 2002.[3]

Schutzsuchende

Die gravierendsten Veränderungen zeigen sich in den Angaben zur Bevölkerung, die bis 1945/1950 – im Vergleich zu 1939 - um rund eine Million Personen ansteigt, bei einer ortsansässigen Bevölkerung von 1,5 Millionen Personen.

In der Volkszählung 1950 werden die Zahlen zu den Schutzsuchenden genannt: 859.827 „Heimatvertriebene“ (aus den ehemaligen Ostgebieten) und 133.918 „Zugewanderte“ (vor allem aus der sowjetischen Zone), zusammen 993.345 Menschen. Bei einer Gesamtbevölkerung von 2.594.648 Personen waren das 38,3 Prozent der Einwohner.

Die Ausarbeitung „Das Flüchtlingsgeschehen in Schleswig-Holstein infolge des 2. Weltkriegs im Spiegel der amtlichen Statistik“ verdeutlicht mit seinen detaillierten Zahlen, was in einem historischen Bericht lakonisch heißt: „Die Unterbringung der Flüchtlinge wurde zur zentralen Belastungsprobe im Zusammenleben mit den Einheimischen.“ Der Hunger war ein ständiger Begleiter, ebenso wie die Furcht vor einer kulturellen Überfremdung durch die Schutzsuchenden, vorwiegend aus Ostpreußen und Pommern.

Hinsichtlich der Religionszugehörigkeiten hat sich dadurch jedoch kaum etwas verändert, denn der Anteil der Mitglieder der beiden großen Amtskirchen blieb konstant bei 94 Prozent. Die Katholiken konnten dabei ihren geringen Anteil (von 3,8 Prozent) auf 6 Prozent erhöhen.

Der Anteil der Konfessionsfreien blieb von 1939 bis 1970 konstant bei rund 6 Prozent. Das weitere gesellschaftspolitische Geschehen bildet sich dann in der Volkszählung von 1987 ab, als der Anteil der Konfessionsfreien sich beinahe verdreifacht hatte: von 5,9 auf 17,0 Prozent, oder: von 148.300 auf 433.700 Personen.

In dieser Volkszählung 1987 bekennen sich 33.285 Personen als Muslime. Das sind, bei einer damaligen Gesamtbevölkerung Schleswig-Holsteins von 2.554.241 Personen, 1,3 Prozent. Das flache Land ist für Muslime, die 1987 zu 53 Prozent in Städten über 100.000 Einwohner leben, nicht attraktiv.

2011, Altersgruppen

Die im Zensus 2011 erhobenen formalen Religionszugehörigkeiten zeigen, dass in Schleswig-Holstein nur die Evangelisch-Lutherischen und die Konfessionsfreien eine bemerkenswerte Rolle spielen.

Während sich bei den absoluten Zahlen der Mitglieder der evangelischen Landeskirche sich die drei Gipfelpunkte des allgemeinen Geburtenzyklus darstellen (in den Geburtenjahrgängen 1937-1941, 1962-1966 und 1992-1996) zeigt sich bei den Konfessionsfreien ein solcher Gipfelpunkt nur bei den (in 2011) 45-49-Jährigen (Geburtsjahrgänge 1962-1966). Die Älteren sind nur in geringerer Anzahl aus der Kirche ausgetreten, und bei den Jüngeren, mit einem Tiefpunkt der (in 2011) 15-19-Jährigen, ist zu vermuten, dass – insbesondere auf dem flachen Land – Eltern, die selber aus der Kirche ausgetreten sind, ihre Kinder aber noch taufen lassen, um sie nicht von einem immer noch kirchlich dominierten Sozialgeschehen auszuschließen.

Das führt in den Anteilen innerhalb der Altersgruppen dazu, dass es in Schleswig-Holstein keine Altersgruppe gibt, in der die Christen nicht die absolute Mehrheit darstellen. In den drei jüngsten Altersgruppen verringern sich jedoch diese Dominanzen und in der jüngsten Altersgruppe der unter-5-Jährigen bilden die Mitglieder beider christlicher Religionen nicht mehr die Mehrheit (48,3 Prozent). Die Nicht-Christen (mit 47,4 Prozent) haben dazu schon beinahe aufgeschlossen.

Vergegenwärtigt man sich den internen Altersaufbau und die jeweiligen Gesamtzahlen der drei Religionsgruppen ist unmissverständlich, dass die Lutheraner auf unabsehbare Zeit die religiöse Mehrheit in Schleswig-Holstein stellen werden.

Anders ausgedrückt: Geht man von den Verteilungen des Jahres 2011 aus und schaut, was in zwanzig Jahren sein wird, also 2031, wenn die 65-Jährig-und älteren, die mit großen Mehrheiten christlich sind, verstorben sein werden, dann stellen die evangelischen und katholischen Kirchenmitglieder immer noch knapp 60 Prozent.

Auch wenn sich in der (für 2031) nicht geschätzten Altersgruppe der Unter-20-Jährigen ein etwas größerer Anteil der Nicht-Christen darstellen wird, ist jegliche Beantwortung der Frage, ob und wann Schleswig-Holstein keine christliche Mehrheit mehr haben könnte, nicht zu beantworten. Das liegt in zu weiter Ferne.

Landkreise und Landeshauptstadt

Um die Unterschiedlichkeit in der Religionslandschaft von Schleswig-Holstein anzudeuten, seien die zwei Landkreise Dithmarschen sowie Pinneberg und die Landeshauptstadt Kiel kurz erläutert.

Der Kreis Dithmarschen liegt an der Nordsee, nördlich der Elbe und hat rund 134.000 Einwohner. Landwirtschaftlich geprägt („Kohltage“ im September) hat es eine lange Geschichte der Unabhängigkeit und der Bauernrepublik, bei denen die Kirchenkreise das politische Gliederungsprinzip waren. Alltagssprache war lange Zeit das Plattdeutsche.

Im Zensus 2011 waren 69 Prozent der Bevölkerung evangelisch, 5 Prozent römisch-katholisch, 2 Prozent andere Christen und 24 Prozent Nicht-Christen. In allen Altersgruppen haben die evangelischen Kirchenmitglieder die Mehrheit.

Die Gipfelpunkte des Geburtenzyklus sind ausgeprägt, wobei die allmählich absinkende Zahl der Kirchenmitglieder deutlich zu erkennen ist.

Auch wenn die Zahl der Nicht-Christen, bei denen es sich weitestgehend um Konfessionsfreie handelt, recht kontinuierlich bei über 20 Prozent liegt, ist die Mehrheit der Evangelischen stabil. Die Katholiken spielen nur eine marginale Rolle.

Im Kreis Pinneberg, nordwestlich an Hamburg anschließend, leben mehr als doppelt so viele Menschen (310.000) wie in Dithmarschen. Neben den bekannten Baumschulen hat der Kreis eine vielfältige Wirtschaftsstruktur, in der sich auch die Nähe zur Metropolregion Hamburg ausdrückt. Im Zensus 2011 waren 44,9 Prozent der Bevölkerung evangelisch und 44,1 Prozent Nicht-Christen. Römisch-Katholisch sind 7 Prozent und andere Christen 4 Prozent.

Während sich in den Mitgliederzahlen der evangelischen Kirche der Geburtenzyklus darstellt, haben die Konfessionsfreien einen Gipfelpunkt bei den 45-49-Jährigen, worin sich – als Hypothese – der Zuzug von Säkularen aus Hamburg darstellt, für das ‚Wohnen im Grünen‘. Allerdings ist das ländliche Umfeld immer noch kirchlich organisiert (Kitas), so dass viele Kinder der konfessionslosen Eltern noch getauft werden.

Die Tendenz geht gegen die Mehrheit der Evangelischen, da die Konfessionsfreien bei den Unter-65-Jährigen bereits in 7 Altersgruppen die Mehrheit stellen, die Evangelischen nur in 2 Altersgruppen.

In der Landeshauptstadt Kiel (247.000 Einwohner) zeigt sich in der Gesamtverteilung eine Ähnlichkeit zu Pinneberg. 43,9 Prozent der Bewohner sind evangelisch, 41,9 Prozent Nicht-Christen, 8,5 Prozent sind katholisch und 5,6 Prozent andere Christen. Die Verteilung der Nicht-Christen/Konfessionsfreien ist jedoch gleichmäßiger als im Landkreis Pinneberg und hat mit zwei Gipfelpunkten im Geburtenzyklus eine Ähnlichkeit mit den evangelischen Kirchenmitgliedern. Das spricht dafür – als Hypothese – dass im städtischen Umfeld der soziale Druck (durch kirchliche Sozialeinrichtungen wie Kitas) die Kinder taufen zu lassen, nicht mehr vorhanden ist.

Bei den Unter-65-Jährigen stellen die Nicht-Christen in 9 (von 13) Altersgruppen die größte Gruppe, auch wenn die Mehrheit immer noch bei der zusammengefassten Gruppe der christlichen Denominationen liegt.


Niedersachsen

Traditionell evangelisch (1890: 86 Prozent), waren 1961 noch mehr als drei Viertel der Einwohner (76,2 Prozent) evangelisch, bis nach 1970 der Rückgang begann - sowohl in absoluten Zahlen der evangelischen Kirchenmitglieder wie in Prozentanteilen – und im Zensus 2011 noch knapp (51,5 Prozent) die Mehrheit stellte.

Bis 1970 blieb der Anteil der Christen stabil bei mehr als 94 Prozent. Während der Anteil der Katholiken mit um die 18 Prozent gleich bleibt, verlieren die Evangelischen in den folgenden 40 Jahren (bis 2011) rund 20 Prozentpunkte oder (bei steigender Gesamtbevölkerung) 1,2 Mio. Mitglieder.

Schutzsuchende

Noch ausgeprägter als in Schleswig-Holstein zeigt sich für Niedersachsen nach dem Zweiten Weltkrieg ein Bevölkerungszuwachs von 2,2 Millionen Menschen. Die (laut Volkszählung 1950) 1.857.988 Heimatvertriebenen (vor allem aus Schlesien) und 369.426 Zugewanderten waren mit 2.227.414 Personen rund 33 Prozent der Bevölkerung (6.797.379). Insofern haben Schleswig-Holstein und Niedersachen bis 1950 mit zusammen 3.220.759 Personen rund 34 Prozent aller (9.349.745) Schutzsuchenden aufgenommen.

Die Not war allgegenwärtig, ohne Willkommenskultur und: „Viele Konflikte hatten einen religiösen Hintergrund.“ An den Religionsanteilen hatte sich dadurch aber nur wenig geändert.

2011, nach Altersgruppen

Die zeitliche Entwicklung stellt sich in Niedersachsen ebenso wie in Schleswig-Holstein dar. Die evangelische Dominanz zeigt sich in den drei Gipfelpunkten des Geburtenzyklus, wobei der dritte Gipfelpunkt (links) geringer ausfällt und die weiteren, jüngeren Mitgliederzahlen sich stärker verringern als vorher.

Die christliche Gesamt-Mehrheit wurde bisher in keiner Altersgruppen übertroffen. Auch in dem Jahrgang mit den bisher geringsten Mitgliederzahlen christlicher Konfessionen (die Gruppe der Unter-Fünfjährigen) sind noch knapp zwei Drittel (62,8 Prozent) christlich.

Das wird sich in absehbarer Zukunft nicht ändern. Auch wenn die evangelischen Kirchenmitglieder einen deutlich älteren Altersaufbau haben als die Konfessionsfeien und anderen Nicht-Christen, sind die Gesamtzahlen – sowohl insgesamt wie in der Gruppe der 25-49-Jährigen – höher als bei den Katholiken sowie den Konfessionsfreien und anderen Nicht-Christen.

Das wird auch in dem Rechenbeispiel deutlich, wie sich 2031 die Religionsverteilungen darstellen, wenn man die (im Jahr 2011) über 65-Jährigen herausrechnet, d. h. dass die evangelischen Kirchen rund 1 Mio. Mitglieder weniger haben werden (ohne Berücksichtigung des ‚Nachwuchses‘ der 2031 Unter-20-Jährigen.)

Der Anteil der evangelischen und katholischen Kirchenmitglieder wird sich (ohne den Nachwuchs) bis 2031 von 70 auf 67 Prozent verringert haben und entsprechend ist der Anteil aller anderen (Religionsgemeinschaften und Konfessionsfreien) um 3 Prozentpunkte von 30 auf 33 Prozent angestiegen.

Landkreise und eine Stadt

Die Unterschiede innerhalb von Niedersachen verdeutlichen die beiden Landkreise Soltau-Fallingbostel (evangelisch dominiert) und Emsland (katholisch dominiert) sowie die Stadt Wolfsburg.

Im Landkreis Soltau-Fallingbostel (heute Heidekreis) leben rund 140.000 Personen und es dominieren im Zensus 2011 die evangelischen Kirchenmitglieder mit 64,6 Prozent der Einwohner. Die Katholiken sind nur hälftig (7,6 Prozent), die weiteren Christen auch geringer (3,2 Prozent) als im Landesdurchschnitt, die Konfessionsfreien und anderen Nicht-Christen mit 24,6 Prozent in vergleichbaren Anteilen.

In allen Altersgruppen haben die Evangelischen im Jahr 2011 die Mehrheit, auch wenn diese sich in den jüngsten Altersgruppen verringern.

Der Landkreis Emsland (mit 320.000 Einwohnern im Westen Niedersachsens) ist traditionell von der katholischen Kirche geprägt. Auch 2011 sind 70 Prozent der Einwohner Katholiken, 18 Prozent Evangelische, 2 Prozent andere Christen sowie 10 Prozent Konfessionslose und andere Nicht-Christen.

Die jeweiligen Anteile haben sich bei den Unter-70-Jährigen auch nur marginal verändert/variiert. Insofern ist nicht abzusehen, wann sich diese Situation verändern sollte.

Religiös pluralistischer ist die Situation in der Stadt Wolfsburg. Die „VW-Stadt“ (mit 124.000 Einwohnern) hat 2011 eine christliche Mehrheit (70 Prozent) mit 43 Prozent Evangelischen, 20 Prozent Katholiken, 7 Prozent anderen Christen sowie 30 Prozent Konfessionsfreie und andere Nicht-Christen.

Diese evangelische Dominanz verliert sich jedoch in den Jüngeren Altersgruppen und die christliche Mehrheit wird nur noch durch die Gesamtheit aller christlichen Denominationen gewährleistet.


Zwischenfazit

Hat die katholische Kirche eine größere Fähigkeit, ihre Mitglieder und deren Kinder – wodurch auch immer – an sich zu binden als die evangelischen Kirchen? Zeigt sich das nicht nur in der Fläche, sondern auch in den Städten? Dieser Frage u. a. m. werden sich die folgenden Teile dieser Serie widmen: „Der katholische Süden und Osten“ sowie „Die säkularisierten Städte.“

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[1] Sonderbeilage zu „Wirtschaft und Statistik” herausgegeben vom Statistischen Reichsamt 21. Jahrg. 1941, Nr. 9 „Die Bevölkerung des Reichs, der Reichsteile, der größeren und kleineren Verwaltungsbezirke, der Gaue der NSDAP. sowie der Großstädte nach der Religionszugehörigkeit auf Grund der Volkszählung vom 17. Mai 1939“.Verlag für Sozialpolitik, Wirtschaft und Statistik, Paul Schmidt, Berlin SW 68
[2] Christof Wolf: „Religionszugehörigkeit in Westdeutschland 1939-1987.“ Eine Zusammenstellung nach Bundesländern auf Basis von Volkszählungsdaten – Einschließlich einiger Angaben zur Pluralisierung der Religionszugehörigkeit. Köln 1999, 83 Seiten.
[3] ALLBUS 2002 - GESIS - Datenbestandskatalog DBK (Variable 329, Seite 495)