Herr Erdogan und die Kinderzahl
Mehrere Medien berichteten (hier die FAZ), dass Herr Erdogan seine in Europa lebenden Landsleute aufgefordert habe, mehr Kinder zu zeugen: „Im eskalierenden Streit mit Europa hat der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan seine dort lebenden Landsleute aufgefordert, ihren Einfluss auszuweiten und mehr Kinder zu zeugen. ‚Macht nicht drei, sondern fünf Kinder, denn Ihr seid die Zukunft Europas‘, sagte Erdogan am Freitag im westtürkischen Eskisehir. ‚Das wird die beste Antwort sein, die ihr auf die Unverschämtheiten, Feindseligkeiten und Ungerechtigkeiten, die man Euch antut, geben könnt.‘“
Dass türkische Frauen in Europa drei Kinder bekommen ist eine Tatsachenbehauptung, die sich prüfen lässt.
Österreich und Deutschland
Die Frage lässt sich für Europa zwar nur annäherungsweise beantworten, aber die Tendenzen sind eindeutig. In Österreich, wo die Mütter zur Geburt nach ihrer Religionszugehörigkeit gefragt werden, zeigt sich, dass der Anteil der Kinder muslimischer Mütter in Österreich sinkt.
Da anzunehmen ist, dass der größere Teil dieser Musliminnen aus der Türkei stammt, die ebenfalls einen Großteil der Mütter mit nicht-österreichischer Staatsangehörigkeit stellen, trifft die Darstellung Erdogans von drei Kindern nicht zu. Die Fertilitätsrate ist seit 1992 kontinuierlich von 2,3 Kindern pro Frau auf 1,9 im Jahr 2015 gesunken. Mehr als zwei Kinder sind auch bei den eingebürgerten Türkinnen nur noch selten. Während sie 1980 noch ca. 4 Kinder bekamen, ist die Rate in Österreich auf unter 2 gesunken.
Für Deutschland, wo die Religionszugehörigkeit der Mütter zwar nicht statistisch erhoben wird, gibt es aber direkt Informationen zu türkischstämmigen Müttern. Im Mikrozensus 2012 mit Daten zur weiblichen Bevölkerung in Deutschland, nach Migrationsstatus und Anzahl der geborenen Kinder, zeigt sich der Rückgang der Geburtenrate von türkischstämmigen Müttern.
In den beiden älteren Altersgruppen verringert sich die Anzahl der Frauen mit drei und mehr Kindern von 67 auf 43 Prozent und die durchschnittliche Anzahl der Kinder von türkischstämmigen Müttern verringert sich von 3,33 auf 2,39 Kinder. Die Gesamt-Geburtsrate aller türkischstämmigen Frauen liegt (in Deutschland, 2012) bei 1,73. Eine Geburtenzahl, die ebenfalls unter der von Herrn Erdogan genannten Zahl von drei Kinder von türkischstämmigen Frauen in Deutschland liegt.
Eine Betrachtung der Situation in der Türkei selber, zeigt Hinweise, dass Herr Erdogan Forderungen und Wünsche mit der Realität verwechselt.
Türkei
Bereits seit mehreren Jahren (hier in 2010) fordert Herr Erdogan die Frauen in der Türkei auf, mindestens drei Kinder zu zeugen.
Das Statistische Institut der Türkei veröffentlicht jährlich regional differenzierte Statistiken zur Geburtenrate (hier für 2015).
Die Gesamttendenz seit 2001 ist eine Verringerung der Geburtenrate von 2,37 (im Jahr 2001) auf 2,14 (im Jahr 2015) mit der geringsten Geburtenrate von 2,02 (im Jahr 2011).
Doch die insgesamt gesehen sinkenden Geburtenraten für die gesamte Türkei haben noch zwei interne Komponenten.
Zum einen die unterschiedlichen Geburtenraten in den (Statistischen) Provinzen der Türkei, die (in 2014) eine Spanne von 1,7 bis 3,9 aufweisen.
Dabei sind drei große Regionen zu unterscheiden. Erstens die westliche und nördliche Türkei mit Geburtenraten unter 2,1, die zentrale Türkei mit Geburtenraten über 2,1 aber unter 3,0 und die östliche/südöstliche Türkei mit Geburtenraten über 3,0.
Die politische Thematik ist, dass diese Regionen, die den Vorstellungen von Herrn Erdogan von einem Mittelwert von drei Kindern und mehr pro Frau entsprechen, vorwiegend von Kurden bewohnt sind.
Diese Geburtenraten beziehen sich auf die statistischen Regionen. Differenziert man noch weiter auf die Ebene der Provinzen, so beträgt der höchste Wert 4,52 in Şanliurfa im Südosten und Şirnak (ebenfalls in Südostanatolien, an der Grenze zu Syrien und dem Irak) mit einer Geburtenrate von 4,23. Die geringste Geburtenrate (1,47) hat Edirne im europäischen Teil der Türkei und Karabük (1,55) in der westlichen Schwarzmeerregion im Norden.
Zum anderen entwickeln sich die Geburtenziffern unterschiedlich.
Die Tageszeitung Die Welt hat das (aufgrund der Angaben der Zeitung Hürriyet) übernommen. Die vier Bereiche der Veränderungen sind nicht genau aber annähernd deckungsgleich mit den Geburtenraten selber. Dort, wo sie gering sind, sinken sie weiter, und dort, wie sie bereits deutlich überdurchschnittlich sind, steigen sie noch weiter.
Insofern entspricht die Tatsachenbehauptung von Herrn Erdogan, dass türkischstämmige / türkische Frauen eine Geburtenrate von drei Kinder haben, weder in Österreich und Deutschland (stellvertretend für Europa) noch in der Türkei der Realität. Die einzige Region, für die das zutrifft, ist das überwiegend von Kurden bewohnte Südostanatolien.
(CF)