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Kirchenaustritte 2006 und 2018 nach Alter

Am Beispiel der Kirchenaustritte in München, die für 2006 und 2018 nach Alter ausgewertet wurden, zeigt sich das unterschiedliche Verhalten der evangelischen und der römisch-katholischen Kirchenmitglieder – und welche Konsequenzen die Diskussion um den Missbrauch in der katholischen Kirche hat: Die Austrittszahlen steigen nicht nur bei den Jüngeren, sondern auch bei den älteren Katholiken deutlich, was eher ungewöhnlich ist.

Von Carsten Frerk.

Die im Mittelpunkt dieser Betrachtung stehenden beiden Jahre 2006 und 2018 stehen für zwei unterschiedliche Situationen.*) 2006 ist ein ruhiges, „normales“ Jahr mit bundesweit niedrigen Austrittszahlen, die sich ebenso in Berlin, wie in München zeigen.

Das Jahr 2018 steht für die aktuelle Situation von gestiegenen und weiter steigenden Austrittszahlen.

Auch wenn die Zahlen nur für die Stadt München gelten (dazu die Anmerkung zur Methode und ‚Unschärfe‘ im Anhang) kann davon ausgegangen werden, dass sie von der Tendenz her generalisierbar sind – zumindest für die deutschen Großstädte.

Zum Hintergrund: In der Biografie des Lebens eines interessierten Deutschen gibt es eine erste Phase – von etwa 14 bis 18 Jahren – in der sich häufig auch mit Fragen der Religion und Philosophie beschäftigt wird, allerdings noch ohne Konsequenzen. In der zweiten Phase – von etwa 19 bis 30 Jahren – geht es dann vor allem um eine selbstbestimmte Orientierung wie Organisation des Lebens und damit auch – für christlich Getaufte – um das Thema, wie nah oder fern die Verbindung zur „Mutter Kirche“ erlebt wird. Eine schwache Kirchenbindung wird dann auch in der Frage münden, ob man dieser Organisation seinen ‚Mitgliedsbeitrag‘ zahlt oder ob man aus der Kirche austreten muss, um die Kirchensteuerzahlung zu beenden.

Diesen typischen Verlauf zeigen die Daten für 2006.


Anmerkung: Aus Gründen der Übersichtlichkeit sind die Tabellen und Grafiken auf die Altersjahrgänge der 14 bis 75 Jährigen begrenzt. Mit 14 Jahren wird man kirchenrechtlich erwachsen und kann selber aus der Kirche austreten, Ältere als 75 werden kaum noch aus der Kirche austreten. 2006 sind bei den Kirchenaustritten jünger als 14 Jahre 14 Evangelische und 18 Katholiken, älter als 75 Jahre sind 20 Evangelische sowie 11 Katholiken. Das bleibt jeweils im 0,5 Prozent-Bereich. 2018 steigen zwar diese Zahlen (unter 14: 38 Evangelische, 31 Katholiken; älter als 75: 33 Evangelische sowie 84 Katholiken) bleiben aber auch im 1 Prozent-Bereich und weniger.

Diese Verteilungen entsprechen im Großen und Ganzen dem Verlauf, wie ihn die EKD 1985 in einer Totalerhebung aller evangelischen Kirchenaustritte veröffentlicht hat: Mitte der Zwanziger ist der erste hohe Gipfelpunkt, Mitte der Vierziger folgt ein flacherer zweiter Gipfelpunkt. In München liegt 2006 der erste Gipfelpunkt in der zweiten Hälfte der Zwanziger, danach verändern sich die Austrittsanteile der Jahrgänge in einer sich stetig verringernden Zick-Zack-Linie. Das Fehlen des zweiten Gipfelpunktes („midlife crisis“) könnte darauf verweisen, dass sich die Überlegungen zum Kirchenaustritt seitdem über die verschiedenen Jahrgänge ‚verbreitert‘ haben.

Die Mittelwerte pro Jahrgang liegen bei 0,9 Prozent (Katholiken) sowie 1,4 Prozent (Evangelische) und ab den 54-Jährigen werden die Anteile unterdurchschnittlich.

Der Median (der Wert, der eine Population in zwei gleich große Hälften teilt) liegt bei 36 Jahren – was heißt, dass es keine exklusive Besonderheit der Jüngeren ist, aus der Kirche auszutreten.

Die Kurve der Altersverteilung verläuft zudem – wenn auch auf unterschiedlichen Niveaus – für Evangelische wie Katholiken insgesamt parallel zueinander

2018 haben sich die Anteile der Kirchenaustritte in den Jahrgängen gegenüber 2006 verdoppelt.

Der Mittelwert ist 2018 auf 1,8 Prozent (Katholiken) sowie 2,3 Prozent (Evangelische) angestiegen und die Kurve der katholischen Kirchenaustritte hat sich den evangelischen Verteilungen deutlich angenähert.

Die Zusammenstellungen der Anteile in den Jahrgängen von 2006 und 2018 – jeweils getrennt für Evangelische wie für Katholiken -, verdeutlicht die Veränderungen.

Legt man zugrunde, dass der Umgang des katholischen Klerus mit den Missbrauchsfällen und bekannt gewordene Finanzskandale zu Diskussionen und folgenden Austritten führen, dann haben die 23- bis 35-Jährigen Katholiken besonders ablehnend reagiert: Ihre Austrittsanteile in den Jahrgängen haben sich gegenüber 2006 verdoppelt. Aber auch bei den Älteren haben sich die Anteile deutlich erhöht. Das ist insofern bemerkenswert, als man annehmen konnte, dass Katholiken mit Anfang 50 ihre Frage der Kirchenmitgliedschaft weitgehend geklärt haben. Der Mittelwert der Austritte in den Jahrgängen steigt von 0,9 auf 1,8 Prozent.

Wie sehr es die Katholiken 2018 betroffen hat, das zeigt sich auch im Anstieg der Kirchenaustritte bei den Älter-als-75-Jährigen (2006: 11), der sich 2018 auf 88 Personen beläuft. Was es persönlich bedeutet, wenn zwei 88-Jährige und ein/e 90-Jährige/r Katholik/in aus der Kirche austreten, das lässt sich nur erahnen.

Bei den evangelischen jüngeren Jahrgängen zeigt sich für 2018 in München einerseits ebenso diese Verdoppelung der Anteile der Jahrgänge noch deutlicher als bei den Katholiken und andererseits sind gleichzeitig die Anteile bei den Älteren nur leicht höher als 2006. Das könnte dafür sprechen, dass die jüngeren Evangelischen erheblich empfindlicher auf diese (katholisch-)kirchlichen Probleme reagieren und es die evangelischen Älteren nur etwas mehr als üblich berührt.

Diese deutlich werdende ‚Verjüngung‘ der Kirchenaustritte – der Median hat sich von 36 (in 2006) auf 32 Jahre (2018) verschoben, zeigt – wie es andere Umfragen verdeutlichen -, die stärker werdende Unzufriedenheit mit der Institution Kirche.

Insofern als beide Kirchen von dieser ‚Verjüngung‘ der Kirchenaustritte betroffen sind, werden sie größere Auswirkungen haben, da die jüngeren Ausgetretenen ihre Kinder nicht mehr taufen lassen und sich dadurch die Spirale der Mitgliederrückgänge verstärkt.

Kirchenaustritte intern

Betrachtet man die Kirchenaustritte in ihrer ‚internen‘ Zusammensetzung – zum einen mit Bezug des jeweiligen Jahrgangs und seinem Anteil an allen Austritten, zum anderen die Anteile der Jahrgänge der Mitglieder an den gesamten Kirchenmitgliedern, so zeigen sich weitere Details.

2006 zeigt sich bei den Kirchenmitgliedern eine deutliche ‚Delle‘ des Anteils der katholischen wie evangelischen Kirchenmitglieder bei den 40- bis 60-Jährigen. Hypothese: Darin bilden sich die Kirchenaustritte vor einer Generation ab, weil die Anteile der Konfessionsfreien in München in diesen Altersgruppen besonders hoch sind. Durch diese ‚Delle‘ haben die Anteile der Kirchenmitglieder pro Jahrgang dadurch zwei ‚Gipfelpunkte‘, einmal deutlich davor und einmal etwas geringer danach, Die evangelischen Kirchenmitglieder sind – auch wenn es insgesamt weniger sind als die Katholiken – jünger: ihre Anteile an den 25- bis 40-Jährigen ist höher als diejenigen der Katholiken.

Bei den Kirchenaustritten ist der Verlauf der Anteile für die Mitglieder beider Kirchen insgesamt parallel.

2018 hat sich der zweite kleine Gipfelpunkt, 12 Jahre später, auf die 72- bis 80-Jährigen verschoben und die Anteile sind geringer geworden, sei es durch Abwanderungen, Austritte oder Verstorbene. Der Altersaufbau der katholischen wie evangelischen Kirche haben sich angeglichen und ebenso parallel sind die erheblich angestiegenen Anteile an den Kirchenaustritten für beide Kirchen bei den 23- bis 30-Jährigen.

Das Zusammenführen der Anteile der Kirchenaustritte im Jahr 2006 bzw. im Jahr 2018 verdeutlicht noch einmal die bereits angesprochene ‚Verjüngung‘ der ausgetretenen Mitglieder. Dieser Zuwachs bei den 23- bis 30-Jährigen in 2018 ist so groß, dass – im Vergleich zu 2006 – der Anteil der 36- bis 46-Jährigen 2018 unter die relativen Anteile der gleichen Altersgruppe in 2006 sinkt.

Es lassen sich zudem zwei Gruppen bestimmen: Zum einen die 19- bis 35-Jährigen, die mit ihren Austritten die Kirchenaustrittszahlen dominieren, zum anderen die 36- bis 55-Jährigen, bei denen der Anteil der Altersgruppe an allen Kirchenaustritten sich verringert, aber immer noch überdurchschnittlich ist. Mit anderen Worten: Bis zum 16. Lebensjahr passiert bei den Kirchenmitgliedern – was den Kirchenaustritt betrifft – kaum etwas, Danach beginnen die Anteile zu steigen und werden ab dem 19. Lebensjahr überdurchschnittlich. Nach dem 55. Lebensjahr sind die Kirchenaustritte dann ‚kein großes Thema mehr‘, die Anteile verringern sich zunehmend, und nach dem 80. Lebensjahr sind es nur Vereinzelte, die aus der Kirche austreten.

Das gilt so für 2006 und 2018, in München.

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*) Mit bestem Dank an die Mitarbeiter das Statistischen Amtes der Landeshauptstadt München, die diese Auswertungen aus dem Melderegister durchgeführt und fowid zur Verfügung gestellt haben.

Vom Statistischen Amt wurden auch die Anmerkungen zur Methode und „Unschärfe“ der Daten übermittelt: „Da wir von den Kirchen die Austritte nicht nach Alter aufgeschlüsselt geliefert bekommen, behelfen wir uns hier mit den Einwohnermeldedaten: Wechselt eine Person den Religionsstatus vom Dez. 2005 auf Dez. 2006 (bzw. von Dez. 2017 auf Dez. 2018), definieren wir das als Austritt. Was dabei aber unberücksichtigt bleibt, sind die Bevölkerungsbewegungen innerhalb dieses Jahres: Von Personen, die aus München wegziehen, fehlt uns der Status zum Endjahr. Personen, die zuziehen, bleiben ebenso unberücksichtigt, da sie im Vorjahr nicht betrachtet werden können. Ebenfalls unberücksichtigt bleiben unterjährige Wiederaufnahmen. In geringem Maße unterliegt das Einwohnermelderegister auch noch eigenen „Schwankungen“ (Korrekturen, Nachmeldungen …). Gegenüber den von den Kirchen registrierten Austritten haben wir hier also eine gewisse Unschärfe, daher sind diese Auswertungen als Schätzungen zu verstehen; sie erheben nicht den Anspruch, bis auf die letzte Person genau zu sein.“