Kirchenaustritte evangelische und katholische Kirche
Die Gesamtzahl der Kirchenaustritte in Deutschland (Landeskirchen und Bistümer) ist 2016 zwar etwas geringer als in den Jahren 2013 bis 2015, bewegt sich jedoch (mit Ausnahme dieser drei Jahre) mit 352.000 auf einem hohen Niveau. Bei der evangelischen Kirche ist der Mitgliederschwund im Jahr 2016 der Zweithöchste seit 1995. Bei den Katholiken liegt die Zahl zwar niedriger als 2013, ist aber immer noch auf einem sehr hohen Niveau und übersteigt die jährlichen Mitgliederverluste der Jahre 1980 bis 2009 - ohne dass für 2016 ein direkter Anlass zu erkennen wäre.
Historische Entwicklung 1953 - 2016
Während in den 1960er Jahren Kirchenaustritte kaum eine Bedeutung hatten, sind diese seit Mitte der 1970er Jahre permanent gestiegen. Einzelne gesellschaftliche, insbesondere steuerliche „Ereignisse“, führten zu Austrittswellen, die ihre Spitzen 1970 (Konjunkturzuschlag/Mehrwertsteueränderung), 1974 (Stabilitätsabgabe), 1991 (Kirchensteuer in östl. Bundesländern und Solizuschlag), 2010 (Missbrauchsskandal) und 2014 (Änderung der Kapitalertragssteuer) hatten. Seit 1969 (evangelische Kirche) bzw. 1990 (katholische Kirche, außer 2005-2007) liegen die Austrittszahlen jeweils über 100.000 Mitglieder.
Betrachtet man die Austrittszahlen aus der evangelischen und aus der römisch-katholischen Kirche in den Jahren vor der deutschen Vereinigung, also im früheren Bundesgebiet bis 1989, so ist zu erkennen, dass Austritte bis Ende der 1960er Jahre kaum eine Rolle gespielt haben. Im Zeitraum von 1970 bis 1975 sind dann sehr viel mehr Mitglieder aus ihrer Kirche ausgetreten, was sich 1975 zu einer stärker ausgeprägten Austrittswelle entwickelte. Die Austrittszahlen aus der evangelischen und katholischen Kirche weisen sehr ähnliche Muster auf, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau. Die Ursachen für die Zunahme der Austrittszahlen sind weniger in konkreten kirchlichen Vorkommnissen, sondern eher in „weltlichen“ Gründen zu suchen. Insbesondere sind Änderungen der steuerlichen Seite der allgemeinen Ausgaben zu sehen, wie z. B. die Einführung/Erhöhung der Mehrwertsteuer im Jahr 1968 und des Solidaritätszuschlages 1991. Kirchenmitglieder, die sowieso schon ihre Bindung zur Kirche verloren hatten, haben diese Mehrbelastungen durch Austritt und damit durch Einsparung der Kirchensteuer kompensiert.
Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre versuchten sich besonders junge Menschen von den Zwängen und Vorschriften der Kirche zu lösen und wendeten sich freieren Lebensformen zu. Der Zeitgeist der 68er Generation griff auf alle Gesellschaftsbereiche über und führte insbesondere bei der jungen Generation zu tiefgreifenden Werte- und Einstellungsänderungen.
Der große Anstieg der Austrittszahlen Anfang der 1990er Jahre hat seine Ursache in der Wiedervereinigung Deutschlands und der damit verbundenen Übernahme des westdeutschen Kirchensteuerrechts. Alle diejenigen, die bereits in der DDR aus der Kirche ausgetreten waren, sind nach der Wiedervereinigung wieder ‚nominelle‘ Kirchenmitglieder gewesen, da ihr Kirchenaustritt von den Landeskirchen nicht anerkannt wurde. Somit sind diese dann nochmals kirchensteuerrechtlich in großer Zahl ausgetreten.
Bis 2010 zeigt sich, dass innerhalb der evangelischen Kirche eine erheblich größere ‚kritische Masse’ des Kirchenaustritts vorhanden war, als in der katholischen Kirche. Doch mit dem Bekanntwerden der Missbrauchsvorwürfe innerhalb der katholischen Kirche brach auch für viele Katholiken die Glaubwürdigkeit der kirchlichen Werte zusammen und sie traten aus.
Die Entwicklung der katholischen Austrittszahlen verläuft inzwischen fast parallel zu der der Austritte aus der evangelischen Kirche. Ein mit einem nachhaltigen Rückgang der Austrittsbereitschaft verbundener „Wir sind Papst“-Effekt durch die Wahl von Joseph Kardinal Ratzinger zum Papst im Jahr 2005 konnte nicht festgestellt werden.
Noch nie sind in Deutschland so viele Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten wie im Jahr 2014. Die Zahl der Austritte sowohl aus der katholischen Kirche, als auch aus der evangelischen ist in Deutschland enorm gestiegen: Im Jahr 2014 traten 217.611 Menschen (ohne Militärseelsorge) aus der katholischen und reichlich 270.000 Menschen aus der evangelischen Kirche aus. Das sind erheblich mehr als im Jahr 2010, als viele Menschen die Kirchen wegen des Missbrauchsskandals verließen.
Die Kirchenvertreter führen die steigende Zahl der Austritte unter anderem auf die Neuregelung des Kirchensteuereinzugs zurück. Seit Anfang 2015 leiten Banken und Sparkassen die Kirchensteuer auf Kapitalerträge automatisch an die Finanzämter weiter. Bisher war es der Ehrlichkeit des Steuerzahlers überlassen, ob er bei der Kirchensteuer seine Kapitalerträge angab. Die Frage der Geldinstitute nach der Konfessionszugehörigkeit, warf viele Fragen und Zweifel auf. Die Beteuerung, dass es keine neue Steuer ist, konnte kaum glaubhaft vermittelt werden, weder in der Bank noch in der Öffentlichkeit. Das Bekanntwerden einer im Grunde marginale Änderung im Steuerrecht ließ bereits 2014 die Zahl der Kirchenaustritte nach oben schnellen.
Die EKD hat jüngst in einer Pressemeldung einen Teil der neuesten statistischen Erhebungen veröffentlicht, wobei sie die „hohe Verbundenheit der Kirchenmitglieder“ lobte. Doch die Gesamtbilanz der Mitgliederzahlen bleibt bei beiden Großkirchen im negativen Bereich. Bei der evangelischen Kirche ist der Mitgliederschwund im Jahr 2016 der Zweithöchste seit 1995. Bei den Katholiken liegt die Zahl zwar niedriger als 2013, ist aber immer noch auf einem sehr hohen Niveau und übersteigt die jährlichen Mitgliederverluste der Jahre 1980 bis 2009.
Die jüngste Mitgliederbefragung der evangelischen Kirche (2014) lässt aber auch auf andere Ursachen schließen: Wer heute die Kirche verlässt, ruft auch nicht im stillen Kämmerlein nach Gottvater, Gottsohn oder dem Heiligen Geist. „Der dargestellte Trend eines deutlichen Rückgangs der religiösen Sozialisation lässt durchaus gravierende Veränderungen in der künftigen religiösen Landschaft der Bundesrepublik erahnen. Fehlende religiöse Erfahrungen, kombiniert mit abnehmendem religiösem Wissen, führen möglicherweise dazu, dass vielen (gerade jüngeren) Menschen ein Leben ohne Religion als selbstverständlich erscheint und dass dementsprechend die Bereitschaft, wiederum eigene Kinder religiös zu erziehen, erkennbar sinkt.”
(SFE)