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Kirchenaustritte von Frauen

In der Religionssoziologie gab es lange u. a. zwei ‚Wahrheiten‘. Zum einen: Unter den Frauen sind die Anteile der Kirchenmitglieder höher als die der Männer, und zum zweiten, dass mehr Männer aus der Kirche austreten als Frauen. Das hat sich in den vergangenen Jahren geändert und die Daten, die aus einzelnen Landeskirchen und Bistümern vorliegen, belegen, dass inzwischen mehr Frauen als Männer aus den Kirchen austreten.

1. Vorbemerkungen
2. Die frühere Situation
3. Die Veränderungen
Exkurs: Österreich / Wien
4. Ursachen?

1. Vorbemerkungen

Im Zuge der Arbeit für eine Übersicht zu den Kirchenaustritten 2023 fiel auf der Internetseite des Erzbistums Hamburg eine Grafik auf, die die Kirchenaustritte im Erzbistum 2022 darstellte, jeweils in Altersgruppen für Frauen und Männer. Weitere Vergleichszahlen (für 2017) zeigten, dass die Unterschiede 2017 nur geringfügig waren, 2022 aber deutlicher mit - beinahe durchgängig - einer höheren Austrittszahl von katholischen Frauen.

Der Unterschied in der Anzahl der Kirchenaustritte, der 2017 bedeutete 50 Frauen mehr, vergrößerte sich 2022 auf 1.406 mehr Frauen als Männer. Der Anteil an den Kirchenaustritten von Frauen erhöhte sich entsprechend von 50,5 auf 55,6 Prozent aller Austritte. Methodische Erfahrung besagt, dass dieses Ergebnis zu prüfen sei, ob es nicht eine ‚nivellierende Bedingtheit‘ geben könnte, z. B., dass der Anteil von Frauen unter den Kirchenmitgliedern im Erzbistum höher ist als die von Männern und deshalb die Unterschiede gar keine seien, da mehr Frauen – bei gleichem Austrittsverhalten – eben bedeutet, dass die Kirchenaustritte der Frauen auch entsprechend höher sind.

Nun ergab sich, dass die Anzahl der Frauen in den Altersgruppen tatsächlich höher ist. als die Anzahl der männlichen Katholiken. Ab der Altersgruppe der 16-Jahre-und Älteren gibt es durchgängig mehr Frauen als Männer, was sich auch im Gesamtergebnis darstellt, dass 54 Prozent der Kirchenmitglieder im Erzbistum Frauen sind.

Nun galt es, diese beiden Informationen zusammenzubringen, was heißt, die Anteile der Frauen bei den Kirchenaustritten und bei den Kirchenmitgliedern zu vergleichen.

In den ‚Differenzen‘ zwischen dem Anteil der Frauen in den Altersgruppen der Mitglieder und dem Anteil bei den Kirchenaustritten zeigt sich der Unterschied (in Prozentpunkten), was heißt, dass 2022 in zehn Altersgruppen (von 17) tatsächlich mehr Frauen ausgetreten sind als Männer. 2017war das nur in fünf Altersgruppen der Fall.

Die höheren Kirchenaustritte der Frauen zeigen sich vor allem bei den 46-65-Jährigen, aber auch bei den 76-80-Jährigen. Die Altersgruppe der Unter-15-Jährigen sollen dabei nicht bewertet werden, da bei ihnen angenommen werden kann, dass sie von den Eltern ‚mitgenommen‘ wurden oder auch nicht.

In den Altersgruppen der 21-65-Jährigen Frauen verlaufen die Anteile gleichsam parallel. Bemerkenswert ist, dass in beiden Jahren die Altersgruppen der 51-55 und der 56-60-jährigen Frauen, die ‚Spitzenwerte‘ der höchsten Austrittszahlen realisieren.

2. Die frühere Situation

Die ‚klassische‘ Situation illustriert zum einen eine Statistik der Ev. Landeskirche Württemberg über die Anteile von (so wörtlich) „Frauen und Mädchen“ in den Jahren 2002 bis 2011.

Bei den Kirchenaustritten stellen die „Frauen und Mädchen“ einen Anteil von unter 45 Prozent, bei den „ehrenamtlich unentgeltlich Tätigen“ von 70 Prozent. Was darauf hindeutet, wie wichtig die Frauen für die ‚Kirche im Alltag‘ bei Pfarrfesten, im Kirchengemeinderat, etc. sind.

Ein zweites Beispiel zeigt die Situation der Kirchenaustritte in Bielefeld, 1994: Sowohl bei den EKD-Evangelischen wie bei den römischen Katholiken treten mehr Männer als Frauen aus. (Die unterschiedliche Anzahl ergeben sich aus den damaligen Religionsverteilungen in Bielefeld.)


3. Die Veränderungen

Wie sehr diese Unterschiede verschwunden sind, zeigen – neben dem eingangs bereits erwähnten Erzbistum Hamburg -, auch die Evangelische Landeskirche von Westfalen. In einem Vergleich der Anzahl der Kirchenaustritte 2021 und 2022 zeigt sich nicht nur die erhöhte Anzahl 2022, sondern auch, dass die älteren Kirchenmitglieder stärker daran beteiligt sind.

In der Betrachtung für die Austritte 2022 zeigt sich dann der Unterschied zwischen den Austritten von Männern und Frauen. Während bei den Unter-40-Jährigen mehr Männer als Frauen austreten, sind es bei den 41-Jährigen-und Älteren - mit Gipfelpunkt Anfang 50 – die Frauen mit deutlich mehr Austritten.

Dieses ‚Muster‘ von zwei Gipfeln ist schon seit längerem bekannt. So zum Beispiel in einer EKD-Erfassung aus dem Jahr 1985.

Zum einen der erste Gipfelpunkt bei den Mitte-20-Jährigen, für die bei Beginn der Berufstätigkeit und einer Entfremdung zur Kirche die Kirchenaustritte folgten. Ein zweiter Gipfelpunkt ist dann (EKD 1995) bei den Mitte-40-Jährigen bzw. (EKvW 2022) bei den Mitte-50-Jährigen.

Das zeigt sich auch 2017 / 2022 in der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR). 2022 sind die Unterschiede zwischen Frauen und Männern bei den Jüngeren geringer geworden, d. h. das Austrittsverhalten gleicht sich an, und bei dem zweiten Gipfel, den 51-60 Jährigen, sind es deutlich mehr Frauen.

In der evangelischen Nordkirche (mit Zahlen für 2019) wird das ebenfalls sichtbar, dass im Jahr 2019 zwar 16.303 Männer austreten, aber 16.829 Frauen.


Exkurs: Österreich / Wien

Das Statistische Jahrbuch der Stadt Wien nennt für 2022 insgesamt 557.785 römische Katholiken, von den 305.000 Frauen sind. Das ist ein Anteil von 54,7 Prozent. An Kirchenaustritten wurden 2022 für die Stadt Wien insgesamt 15.037 registriert. Unterteilt nach Geschlecht waren davon 53,4 Prozent Frauen. (Vgl. dazu den fowid-Artikel „Kirchenaustritte in Wien: Ein genauerer Blick“)

Auch wenn sich dieser Anteil auf alle Religionsgemeinschaften bezieht, dürfte er für die römischen Katholiken ebenso gelten, für die 13.480 Austritte erfasst sind. Das sind 90 Prozent der 15.037 Religionsaustritte insgesamt.

4. Ursachen?

Zu den Gründen gibt es noch keine genaueren empirischen Untersuchungen, jedoch ‚einzelne‘ Stimmen. Im April 2021 berichtete das domradio unter der Überschrift „Zerreißprobe der Mitglieder“ über den Kirchenaustritt von zwei Gründungsfrauen der Reforminitiative „Maria 2.0“ und das Verständnis dafür seitens der Katholischen Frauengemeinschaft.

„Die Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands (kfd) im Bistum Münster zeigt Verständnis für den Kirchenaustritt zweier Mitgründerinnen der katholischen Reforminitiative Maria 2.0. Der Schritt spiegele den Frust, die Verletzungen und die Zweifel vieler Frauen und Männer wider, die sich der Kirche verbunden fühlten und sich dort engagierten, erklärte der Verband am Mittwochabend in Münster. Er mache die Zerreißprobe deutlich, in der sich reformwillige Katholikinnen und Katholiken befänden.“

Diese Frustrationen kommentiert (im Juni 2023) auch Christiane Florin im Deutschlandfunk: „Die katholische Kirche sitzt auf hohem Ross in tiefer Krise“.

„Das hohe Ross ist auch in tiefsten Krisenzeiten ein beliebtes bischöfliches Transportmittel. Amtsbrüder Woelkis, etwa der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, beschwören die Gläubigen zu bleiben und für Veränderungen zu kämpfen – für Veränderungen, die der bereits erwähnte Vatikan erkennbar nicht will und für die sogenannten Reformer unter den Bischöfen auch nicht entschieden streiten. So wichtig ist das dann doch nicht mit den Frauen und den Laien.
Zu den 522.821 neuen Ex-Mitgliedern [2022] gehören Menschen, die seit Jahrzehnten engagiert waren; Menschen, die auf den ersten Gehaltszettel schauen und sich fragen, wofür sie das da zahlen; Menschen, die ihren Glauben verloren haben, und solche, die fest entschlossen sind, ihn außerhalb der Kirchenmauern zu bewahren.“

Bereits 2017 hatte sie das Buch „Der Weiberaufstand“ veröffentlicht. Untertitel: „Warum Frauen in der katholischen Kirche mehr Macht brauchen.“ In der Erläuterung dazu heißt es:

„Je älter ich werde, je mehr Erfahrungen ich mit und in der katholischen Kirche gesammelt habe, desto mehr fallen mir die Nadelstiche auf. Die selbstverständlichen Benachteiligungen, die Ignoranz, die Arroganz, die sich als Demut tarnt, das Nicht-Ernstnehmen, nur weil das Gegenüber eine Frau ist. Würde man so handeln und reden, weil dieses Gegenüber eine dunkle Hautfarbe hat, dann wäre man Rassist. Handelt und redet man so, weil das Gegenüber eine Frau ist, was ist man dann? Katholisch.“

Und, die berichteten Entwicklungen in den beiden großen katholischen Frauenverbänden, die in den vergangenen zehn Jahren rund ein Drittel ihrer Frauen verloren haben, zeigt auch, dass es neben dem männlichen Patriarchat auch ein weibliches von Verbandsfunktionärinnen gibt, dem sich die selbstbewusst gewordenen Frauen nicht mehr beugen. Der Münchener Merkur hat sich Mitte 2023 im Südwesten des Münchener Umlands umgesehen und berichtet: „Bei Kirchenaustritten führen die Frauen.“

„In Krailling hat die katholische Kirche heuer mehr Mitglieder (31) als die evangelische (22) verloren. Und es wenden sich überwiegend Frauen ab (32 von 53). In Gräfelfing traten heuer bereits 88 Menschen aus den beiden großen Kirchen aus, 62 Katholiken und 26 Protestanten. ‚Nicht so viele wie 2022, ansonsten schon um einiges mehr‘, sagt der in der Gemeinde zuständige Standesbeamte mit Blick auf die vergangenen Jahre. Auch in Gräfelfing verabschieden sich vor allem die Frauen. Von den 88 Austritten im ersten Halbjahr 2023 waren 59 weiblich. Gräfelfings katholischer Pfarrer Markus Zurl hatte im vergangenen Jahr sogar eine Kommunionsmutter unter den Austritten.“

Carsten Frerk