Die „No-Religion“-Bevölkerung Großbritanniens
Nachdem sich gezeigt hat, dass die Konfessionsfreien in England und Wales mittlerweile die größte Weltanschauungsgruppe darstellen, haben sich jetzt auch kirchliche Sozialforscher in England mit den Konfessionslosen beschäftigt, um zu klären, was das für Personen sind, die offensichtlich von den Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften nicht mehr erreicht werden.
Die Studie zu den „No-Religion“-People in Großbritannien wurde von Stephen Bullivant, Professor für Theologie und Religionssoziologie und Direktor des “Benedict XVI Centre for Religion and Society” an der St. Mary’s Universität in Twickenham/London durchgeführt. Finanziert durch die Studie durch die John Templeton Foundation, einer evangelikalen Stiftung in den USA. Das allein verweist bereits darauf, dass die Konfessionsfreien im kirchlichen Focus ernsthaft wahrgenommen werden.
Die Auswertung der Studie „The ‚no religion‘ population of Britain“ beruht auf der Analyse der verfügbaren Daten des British Social Attitudes Survey (BSA), der (seit 1983) jährlich durchgeführt wird und dem European Social Survey (ESS) der alle zwei Jahre (seit 2002) realisiert wird. Die Mehrheit der Daten in der Studie stammen aus der aktuellsten Runde der BSA: Der 2015er Datensatz wurde den Forschern im Dezember 2016 freigegeben.
Zwei Notizen zur Terminologie. Die primäre Kategorie der Studie ist der Anteil der erwachsenen (d. h. 18+) britischen Bevölkerung die mit der Angabe „Keine Religion“ aufgezeichnet werden, wenn sie (im BSA) gefragt wurden „Betrachten Sie sich als einer bestimmten Religion zugehörig?“ oder (im ESS) „Betrachten Sie sich selbst einer bestimmten Religion oder Konfession zugehörig?“. Das heißt, „keine Religion“ ist eine Frage der religiösen Zugehörigkeit oder Identität ohne weitere Vertiefung in nichtreligiösen Überzeugungen. Aus Gründen der Vereinfachung werden diese Personen als „Nichtreligiös „oder einfacher als Kurzschrift „Nones“ bezeichnet.
Hinsichtlich der Religionsgemeinschaft, in der die Befragten aufgewachsen sind, wird der Begriff „gebürtig“ verwendet. Die Auswertung nennt zehn Schlüsselergebnisse.
1. Diejenigen, die sich als „keiner Religion“ zugehörig bezeichnen (d. h. „Nones“) sind 48,6 Prozent der britischen erwachsenen Bevölkerung. Das sind rund 24,3 Millionen Menschen.
Da in der Fragestellung auf die Zugehörigkeit Bezug genommen wird, sei es formal oder in der eigenen subjektiven Identifikation, ist die Gruppe durchaus als die „Konfessionsfreien“ zu bezeichnen, auch wenn es sich in Deutschland an dem formalen Kriterium der Kirchenmitgliedschaft orientiert. Die nachfolgenden Ergebnisse haben zudem große Ähnlichkeiten zu den „Konfessionsfreien“ in Deutschland. (Abb. 1)
2. In einer regionalen Untergliederung zeigt sich, dass in sieben Regionen die „Nones“ die Mehrheit stellen. Die Stadt London („Inneres London“) hat bei weitem die wenigsten „Nones“ in Großbritannien (31 Prozent), verglichen mit 58 Prozent in Südostengland (östlich und südlich von London) und 56 Prozent Nones in Wales sowie 55 Prozent in Schottland. (Abb. 2)
Die Stadt London hat auch – als internationaler Handels- und Finanzplatz - den höchsten Anteil der Mitglieder nicht-christlicher Religionen (28 Prozent).
3. In einer Zeitreihe der Daten aus den British Social Attitudes Surveys (BSA) seit 1983 bekennt sich anfangs die Mehrheit der Befragten zur anglikanischen Staatskirche.
Der konfessionsfreie Teil der Bevölkerung ist seit 1993 größer als die Anglikaner und wächst kontinuierlich – im Durchschnitt bis 2015 um 0,5 Prozent Prozentpunkte pro Jahr. (1982 und 1992 war die Frage nicht gestellt worden.) Im Jahr 1983 identifizieren sich 67 Prozent der Briten mit irgendeiner Art von christlicher Religionsgemeinschaft. Im Jahr 2015 waren es 43 Prozent.
Im selben Zeitraum haben sich die Mitglieder von nichtchristliche Religionen – auf niedrigem Niveau - mehr als vervierfacht. Die Entwicklung des Anteils der Konfessionsfreien kontrastiert deutlich zu den Anteilen der Religionen, in denen die Befragten aufgewachsen sind. 29 Prozent sind gebürtige Anglikaner, 14 Prozent Katholiken und 28 Prozent gehörten anderen christlichen Religionsgemeinschaften an (z. B. der Church of Scotland). (Abb. 4)
Bezogen auf die aktuell Konfesssionsfreien (Abb. 5) sind 38 Prozent gebürtige Konfessionsfreie („cradle Nones“), 25 Prozent sind als Anglikaner aufgewachsen, 11 Prozent als Katholiken, 25 Prozent in anderen christlichen Religionsgemeinschaften und zwei Prozent innerhalb nicht-christlicher Religionsgemeinschaften. Aus einem anderen Blickwinkel (Abb. 6) sind 92 Prozent der aktuellen Konfessionsfreien auch als solche aufgewachsen, 44 Prozent der Baptisten sind heute Konfessionsfrei, 42 Prozent der früheren Presbyterianer, 41 Prozent der Anglikaner und 37 Prozent der Katholiken nennen sich heute als „No Religion“.
Im Kontrast dazu sind es nur 14 Prozent der Juden in Großbritannien, 10 Prozent der Muslime,10 Prozent der Sikhs und sechs Prozent der Hindus, die sich von ihrer früheren Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft distanziert haben.
4. Die britischen Nones sind überwiegend weißer Hautfarbe (95 Prozent) und männlich (55 Prozent). In der Altersverteilung der Konfessionsfreien (Abb. 7) sind unter den 18- bis 34-Jährigen die Frauen wie Männer gleichermaßen „Nones“.
5. Im Altersaufbau der Konfessionsfreien wie der Mitglieder von Religionsgemeinschaften (Abb. 8) wird deutlich, dass – abgesehen von der kleineren Anzahl nicht-christlicher Religionsgemeinschaften – die „Nones“ jünger sind als der Durchschnitt: 35 Prozent sind unter 35, verglichen mit 29 Prozent aller erwachsenen Briten. Zum Vergleich: Nur 6 Prozent der Anglikaner sind unter 35 Jahren und 45 Prozent sind 65 Jahre und älter.Mit anderen Worten: Die Anglikaner sind weit überaltert und es fehlt ihnen der Nachwuchs, so dass hinsichtlich ihrer Anhänger keine Kehrtwende zu erwarten ist. Aber die Basis für den Anstieg des Anteils der Konfessionsfreien sind nicht nur die früheren Mitglieder von Religionsgemeinschaften, sondern ebenfalls der ansteigende ‚eigene‘ konfessionsfreie Nachwuchs (Abb. 9). Der Anteil der gebürtigen Konfessionsfreien („Cradle Nones“) steigt mit den Geburtsjahrgängen seit 1935 beständig an (Abb. 9, rote Linie). Insgesamt gesehen stellen die „Nonverts“ (die sich früher mit einer Religionsgemeinschaft identifizierten) nur rund dreißig Prozent der heutigen Konfessionsfreien.
6. Hinsichtlich der formalen Bildungsabschlüsse wurden die Unter-25-Jährigen nicht berücksichtigt, da sie zu jung sind, um einen höheren Universitätsabschluss zu haben. Im Vergleich zu anderen Gruppen (Abb. 10) entspricht der Anteil der Universitätsabschlüsse unter den Konfessionsfreien dem Durchschnitt der britischen Bevölkerung (26 bzw. 25 Prozent).
Die Anglikaner haben den geringsten Anteil (17 Prozent) mit höheren Bildungsabschlüssen, während die Mitglieder der nicht-christlichen Religionen (Juden, Hindus, Muslime, etc.) den höchsten Anteil (36 Prozent) mit universitären Bildungsabschlüssen in ihren Reihen haben.
7. Die religionsbezogene Herkunft der heutigen Konfessionslosen nach Altersgruppen (Abb. 11) verdeutlicht noch einmal, dass der Trend zur ansteigenden Konfessionsfreiheit sich wahrscheinlich fortsetzen wird. Während unter den heute älter als 65-Jährigen der Anteil der „cradle Nones“ nur 18 Prozent betrug, steigt dieser Anteil mit den jünger werdenden Altersgruppen stetig an und beträgt bei den 18- bis 24-Jährigen 54 Prozent.
Die ‚Eigendynamik‘, dass die Anteile der Konfessionsfreien sich in der 2. und 3. Generation vergrößern, zeigt sich auch in der Kohäsion der Konfessionsfreien, d. h. in der Frage wie viele derjenigen, die religionsfrei aufgewachsen sind, bleiben es auch? Es sind (Abb. 12) insgesamt 92 Prozent der konfessionsfrei Aufgewachsenen, die es auch bleiben. Drei Prozent sind aktuell Anglikaner, 0,4 Prozent Katholiken und jeweils zwei Prozent identifizieren sich mit anderen christlichen bzw. nicht-christlichen Religionsgemeinschaften.
7. Heißt jedoch, dass man sich selbst keiner Religion zuordnet, dass man nicht religiös ist? (Abb. 13) Die Mehrheit der Konfessionsfreien (65 Prozent) glaubt nicht an Gott (38 Prozent) oder versteht sich als Agnostiker (27 Prozent). Weitere 16 Prozent sind ‚Transzendentale‘, d. h. sie glauben zwar nicht an Gott aber an eine irgendwie geartete höhere Macht. 9 Prozent sind im Zweifel, was sie nun glauben und 11 Prozent glauben an Gott – acht Prozent trotz aller Zweifel und drei Prozent glauben zweifelsfrei an Gott. (Verteilungen, wie sie auch vergleichbar in Deutschland festgestellt worden sind.)
8. Auch hinsichtlich der eigenen Religiosität, die, falls vorhanden, auf einer 10er-Skala angegeben werden konnte, zeigt sich (Abb. 14) dass rund vier Fünftel (85 Prozent) der Konfessionsfreien sich als überhaupt nicht religiös (43 Prozent), ein bisschen religiös, Stufe 1+2 (26 Prozent) bzw. etwas religiös, Stufe 3+4 (16 Prozent) einstuften.
In die intensivsten Kategorien der Religiosität (Stufen 8-10) ordneten sich 2,3 Prozent der „No Religion“-Personen ein. 9. Entsprechend diesen Verteilungen in der Bewertung der eigenen Religiosität, zeigt sich auch die Häufigkeit, mit der Konfessionsfreie einen Gottesdienst besuchen. (Abb. 15) Dreiviertel (75 Prozent) der „Nones“ nehmen niemals an einer religiösen Veranstaltung teil und 23 Prozent gelegentlich (15 Prozent selten, 8 Prozent an Feiertagen). Das gleiche zeigt sich bei der Frage nach der Häufigkeit von Gebeten, wozu 76 Prozent der „Nones“ „niemals“ sagen und 4 Prozent „jeden Tag“.
10. Insofern kann man die Personen der „No-Religion“-Bevölkerung Großbritanniens in drei Gruppen untergliedern: 3,1 Prozent (oder 800.000) sind religiös (sie stufen sich selber als hoch religiös ein und beten mindestens einmal im Monat), 11,5 Prozent (oder 2,8 Mio.) sind semi-religiöse (sie stufen sich als hoch religiös ein oder beten mindestens einmal im Monat) und 85,4 Prozent (oder 20,7 Mio.) sind nicht-religiöse Konfessionsfreie.
(CF)