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"Muslime" in Deutschland. Eine Annäherung

Die Frage und die Antwort darauf, „Wie viele Muslime leben in Deutschland?“ spielt nicht nur für aktuelle politische Diskussionen eine Rolle (Islam-Konferenz, Integrationsgipfel, etc.) sondern hat auch für andere Diskussionen (Moschee-Bauten) eine nicht unwesentliche Dimension. Wer auf die Frage, wie viele Muslime in Deutschland leben, eine eindeutige Antwort gibt, hat schlicht Falsches gesagt.

Von Carsten Frerk

Die Antwort weiß bisher niemand genau und alle Zahlenangaben dazu beruhen auf Schätzungen - mit eigenartigen Grundannahmen. Dennoch werden an vielen Stellen diese Zahlen mit einer kommentarlosen Absolutheit veröffentlicht, so dass der Eindruck entstehen kann, es seien zuverlässige Zahlen. Das stimmt jedoch nicht.

Die Bundesregierung hat am 18. April 2007 (BT-Drucksache 16/5033) - in der Antwort auf die Große Anfrage der Fraktion Bündnis90/Die Grünen vom 29. Juni 2006 (BT-Drucksache 16/2085) Übliches und Widersprüchliches dazu veröffentlicht.

Als Zahlenangabe wird anfangs „rund 3,4 Mio. Muslime in Deutschland“ (Seite 2) genannt, dann wird von „grobe Schätzung“ (S. 4) geschrieben und dass die genaue Zahl nicht bekannt sei, da die Ausländerbehörden die Religionszugehörigkeit nicht durchgehend erfasst hätten. Sie werde „erst seit wenigen Jahren und auch nur als freiwillige Angabe gespeichert“. Schließlich heißt es, in „Fortschreibung“ der nicht weiter ausgeführten „Herleitung“ der Zahlen für 1999/2000 „kann die Anzahl der in Deutschland lebenden Muslime derzeit auf 3,1 bis 3,4 Mio. Menschen geschätzt werden, darunter etwa 1,0 - 1,1 Mio. mit deutscher Staatsangehörigkeit.“ (S. 6)

Dann folgt eine Aufstellung des Statistischen Bundesamtes zum 31. Dezember 2005 (Ausländerzentralregister (AZR), Einbürgerungsstatistik) mit der Anmerkung: Diese Aufstellung „dient als Grundlage, wobei jedoch beachtlich ist, dass nicht bei allen der gezählten Personen von islamischer Glaubenszugehörigkeit ausgegangen werden kann.“ (S. 6).

Einerseits wird zudem festgestellt: „Viele Muslime in Deutschland haben die Notwendigkeit erkannt, sich in geeigneter Weise zu organisieren.“ (S. 3) und andererseits liegen „keine gesicherten Daten vor. Nur eine Minderheit unter den Muslimen dürfte eine Vereinsmitgliedschaft im rechtlichen Sinne erworben haben.“ (S. 5)

Dennoch werden in den amtlichen Feststellungen schlicht alle Migranten, die aus einem „mehrheitlich muslimischen“ Land kommen (wie in der Tabelle 1), als „Muslime“ gezählt. Da wird weder ein Unterschied zwischen - beispielsweise -, Sunniten, Schiiten, Aleviten und Ahmadis gemacht, noch wird reflektiert, dass die 33 Prozent konfessionsfreien Deutschen es sehr eigenartig finden würden, wenn sie - aufgrund der „christlichen Mehrheit“ in Deutschland -, pauschal insgesamt dem Christentum zugeordnet werden würden.

Da die Konfessionsfreien und Atheisten in Deutschland im Alltag eher türkische, iranische, libanesische und andere vorgebliche Muslime (als Migranten) kennen, die sich selbst nicht als religiöse Muslime oder überhaupt als Muslime verstehen, vermerken sie diese vereinfachten Zuordnungen als doppelt unzutreffend und problematisch.

Basis für diese vereinfachenden Zuordnungen ist die (letzte) Volkszählung vom Mai 1987. Das wird als „Statistische Ausgangslage“ betrachtet. „Damals bekannten sich 1.650.952 Personen zum Islam, darunter 47.966 deutsche Staatsbürger sowie 1.324.875 türkische Staatsangehörige. Unter den zu diesem Zeitpunkt in Deutschland lebenden 1.422.732 türkischen Staatsangehörigen bekannten sich somit etwa 93 Prozent zum Islam.“ ( Bundestags-Drucksache 14/4530, vom 08.11.2000, S. 4) Anders berechnet waren 1987 von den sich in Deutschland zum Islam Bekennenden rund 80 Prozent Migranten mit türkischer Staatsangehörigkeit.

Diese hohen Prozentsätze formaler Merkmale dienen seitdem als Basis für die Verallgemeinerungen (so gut wie) alle Türken sind Muslime und (beinahe) alle Muslime sind Türken. Und weil das bei den Türken so ist - deren Staat nun explizit nicht als „muslimischer Staat“ bezeichnet werden sollte - ist das bei allen anderen Migranten aus „muslimischen Staaten“ ebenso.

Diese Vorgehensweise begrenzt sich nicht nur auf formale Merkmale, sondern übersieht, dass sich in den seitdem vergangenen zwanzig Jahren einiges geändert hat. Es sind nicht nur andere ‚mus­limische‘ Migranten nach Deutschland gekommen (zum Beispiel aus Ex-Jugoslawien) und es sind gerade die Jüngeren (in Deutschland Geborenen), die ein anderes Verhältnis zur Religion haben (können) wie ihre Eltern, die zudem durch ihr Leben im deutschen Alltag davon (wahrscheinlich) auch nicht unbeeinflusst geblieben sind (Säkularisation).

Da jedoch immer auf die formale Religionszugehörigkeit abgehoben wird, soll auf diese Frage zuerst etwas näher eingegangen werden.

Wie wird man Mitglied in einer Religionsgemeinschaft?

Im Unterschied zur christlichen Kirchenmitgliedschaft, die einen Kircheneintritt voraussetzt - der durch die explizite Taufe erlangt wird - ist man Muslim (wie auch Jude) schlicht durch die Geburt. Ein muslimischer Vater hat muslimische Kinder (wie andererseits im Judentum die Mutter die Religionszugehörigkeit weiter gibt). Die Zahl der Konvertiten, die ihre neue Religionszugehörigkeit zum Islam (oder zum Judentum) vor dafür befugten Personen erklären, ist marginal.

Insofern scheinen die Ergebnisse der repräsentativen Studien zur „Situation ausländischer Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen in der BRD“1 (in der auch die Religionszugehörigkeit abgefragt wurde,) einerseits die amtlichen Verfahren zu bestätigen, dass es eine Berechtigung habe, alle Türken vereinfacht als „Muslime“ einzustufen, da 2001 rund 85 Prozent der befragten Migranten aus der Türkei angaben, der „islamischen Religionsgemeinschaft“ anzugehören. Diese Selbsteinstufung lag sogar über den Angaben der Studie von 1995, in der 82 Prozent der befragten türkischen Migranten diese Zugehörigkeit2 angaben.

Andererseits steht eine derartige Zuordnung, die man wie ‚automatisch‘ durch die Geburt erwirbt häufig außer Disposition - für einen Deutschen etwa vergleichbar mit seiner Staatsangehörigkeit, die man „nun einmal hat“ - ob man sie mag und will oder nicht. Fragt man einen Deutschen, der es beispielsweise problematisch findet, Deutscher zu sein, welcher Staatsangehörigkeit er sei, wird er ohne ein Wimperzucken und Nachdenken „deutsch“ antworten.

Damit wird ein Aspekt der politischen bzw. kulturellen Selbstverständlichkeit eines Menschen be­rührt, der jenseits von äußerlichen Zuordnungen liegt.

Aus vielen religionssoziologischen Untersuchungen zur christlichen Religionszugehörigkeit ist hinlänglich bekannt, dass die formale Zugehörigkeit zu einer christlichen Religionsgemeinschaft noch nicht sehr viel über den christlichen Glauben und die tatsächliche Religiosität eines formellen Kirchenmitglieds aussagt.

Beispiele dafür sind für Deutschland die „Atheisten nach Religionszugehörigkeit3, wobei sich zeigt, dass 57 Prozent der Atheisten erwartungsgemäß „konfessionsfrei“, d. h. ohne eine Kirchenmitgliedschaft sind, aber dennoch 29 Prozent der Atheisten evangelische und 12 Prozent katholische Kirchenmitglieder sind.

Gleichermaßen sind rund 4 Prozent der „Konfessionsfreien“ als „gottesgläubig4 zu betrachten, während nur noch 23 Prozent der Evangelischen und 36 Prozent der Katholiken als „(gottesgläubige) Christen“ zu betrachten sind, da die anderen Kirchenmitglieder an eine allgemein höhere Macht oder Geist glauben, Zweifelnde, Agnostiker oder Atheisten sind.

Wir wissen darum, dass es ebenso „evangelische Atheisten“ wie „katholische Atheisten“ etc. gibt, bei denen formelle Zuordnung zu einer Religionsgemeinschaft und inhaltliche Überzeugung ihrer Glaubenslehre nicht (mehr) übereinstimmen.

Die Religionsgemeinschaften haben selber allerdings kein Interesse daran, diese inhaltlichen Defizite aufzudecken, da sie ihre gesellschaftliche Position und Bedeutung aufgrund der höheren Zahlen der formellen Zugehörigkeiten von „Mitgliedern“ definieren und nicht über die tatsächlich geringeren Zahlen der tatsächlich „Gläubigen“. Während in Deutschland derzeit formal noch rund 31 Prozent Katholiken und 31 Prozent Evangelische sowie 33 Prozent Konfessionsfreie in der Bevölkerung gezählt werden - also rund 62 Prozent „Amts-Christen“ - so sind es tatsächlich nur noch rund 24 Prozent „gläubige Christen“, die an einen persönlichen Gott glauben.5

Für Religionen (wie dem Islam und dem Judentum), die formell keinen Eintritt oder Austritt kennen, werden die Anteile der impliziten „Konfessionsfreien“ zudem deutlich höher sein, da sie sich formal nicht als „Nicht zugehörig“ erklären können.

Andererseits sagt das eigene religiöse Selbstverständnis noch nichts über die eigene oder fremdbestimmte kulturelle Zuordnung aus. Anders formuliert: Die Feststellung einer Religionszugehörigkeit als bloße „ethnisch-kulturelle Herkunftsverortung“6 besagt noch nichts über die persönliche Religiosität.

So fuhr vor ein paar Jahren ein überzeugter Atheist aus Deutschland nach Indien. Dort plauderte man auch über die Alltagsgewohnheiten und der Atheist erzählte auf Befragen, dass er Schweinefleisch und Rindfleisch esse, Zigarren rauche und Alkohol trinke, woraufhin die Hindus in die Hände klatschten, lachten und feststellten: „Er ist ein Christ!“ Der Atheist war sichtlich irritiert.

Da alle Weltreligionen neben ihren transzendentalen Glaubensvorstellungen auch eine Vielzahl von spezifischen Alltagsgeboten im Programm haben - seien es Reinheitsgebote, Essensregeln, Verhaltensanweisungen, Haartrachten, etc. - wird man landläufig einen Menschen, der beispielsweise kein Schweinefleisch ist, keinen Alkohol trinkt, penible Sauberkeit beachtet, eine dunklere Hautfarbe hat und einen schmalen Schnurrbart trägt … als Muslim betrachten - egal ob er im Sinne des Islam als gläubig zu betrachten ist oder nicht.

Gläubige Religionsmitglieder

In der auf das Christentum bezogenen Religionssoziologie hat sich die Häufigkeit des Gottesdienstbesuchs als verlässlicher Indikator für das Ausmaß der inhaltlichen Übereinstimmung mit den Lehren der entsprechenden Religion erwiesen.7 Da es sich bei den drei abrahamitischen Religionen um Buchreligionen handelt, die für ihren „Gottesdienst“ das öffentliche Gebet im jeweiligen Gotteshaus vorschreiben, ist der Gottesdienstbesuch auch für den Islam als Indikator für religiöse Überzeugung einzusetzen.

Die bereits zitierte „Repräsentativstudie 2001“8 ermittelte für Migranten aus der Türkei Werte, die bereits andeuten, dass zwischen den Zuordnungen „Migranten = Türken = Muslime“ erhebliche Unterschiede bestehen.

Unter Berücksichtigung des für Muslime vorgeschriebenen wöchentlichen „Freitagsgebets“ sind es 32 Prozent der „Türken = Muslime“, die als religiös zu betrachten sind, 25 Prozent sind distanziert hinsichtlich des Gottesdienstbesuches und 37 Prozent - in dieser Hinsicht die größte Gruppe - ist als kaum oder überhaupt nicht als religiös zu betrachten. (Zusammenfassungen aufgrund Tabelle 2)

Der geringere Anteil von Frauen unter den regelmäßigen Gottesdienstbesuchern lässt sich einerseits daraus erklären, dass nur den muslimischen Männern der (außerhäusige) Gottesdienstbesuch vorgeschrieben ist - für Frauen ist er freiwillig und sie werden zudem in einem Nebenraum der Moschee separiert.

Es bietet sich jedoch noch eine andere - plausiblere - Erklärung an, die in den Ergebnissen einer 1999 in Nürnberg durchgeführten Untersuchung mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 16 bis 25 Jahren mit Migrationshintergrund9 implizit dargestellt ist. (vgl. Tabelle 3 und Tabelle 4)

Für junge ‚muslimische Frauen‘ (zu rund 90 Prozent mit türkischem Migrationshintergrund), die einer „klassischen Rollenverteilung“ nicht zustimmen (Aussage: „Die Aufgabe des Ehemannes ist es Geld zu verdienen, die Aufgabe der Ehefrau, sich um Heim und Familie zu kümmern.“), ergibt es auch keinen Sinn, sich bei dem Moscheebesuch mit größter Wahrscheinlichkeit genau das, was sie ablehnen, als religiöse Predigt und Wahrheit anhören zu sollen.

Ein anderer Aspekt der bereits zitierten „Repräsentativstudie 2001“ ist (so in Tabelle 3), dass sie im Vergleich zu anderen Studien deutlich höhere Werte für „Gottesdienstbesuch“ benennt. Das mag vorrangig darin begründet sein, dass die Frage lautete: „Wie oft besuchen Sie in Deutschland Gottesdienste oder andere religiöse Veranstaltungen?“. Diese Frageerweiterung über den Gottesdienstbesuch hinaus erfasst insbesondere für Muslime weitere Aktivitäten als nur den Gottesdienstbesuch. Eine Moschee ist nur zum Teil Gebetsraum und hat wesentliche weitere Areale als muslimische Sozial- und Kultureinrichtung. Die Frageerweiterung - und zusätzlich bei drei Antwortmöglichkeiten sowohl das „regelmäßig“ sowie die mittlere schwammige Formulierung des „manchmal“ -, führt zu überhöhten Werten des vermeintlichen Gottesdienstbesuches, der in dieser Fragestellung jede weitere als religiös zu verstehende Veranstaltung mit erfasst und mit „regelmäßig“ und „manchmal“ einen breiten Spielraum der Interpretation eröffnet.

Die grundsätzliche Feststellung der Jugendstudie in Nürnberg, dass Jugendliche in Deutschland, die zwar „Islam“ als Religionszugehörigkeit nennen, überwiegend aber als „wenig religiös“ zu betrachten sind, zeigt sich auch in einer groß angelegten Jugendstudie10, in der 10.474 Schüler der 9. Jahrgangsstufe (15 - 16-Jährige) in Hamburg, Hannover, München und Leipzig sowie im Landkreis Friesland befragt wurden.

Hinsichtlich des Besuchs eines Gotteshauses gehen von den befragten 869 „islamischen“ Jugendlichen 68 Prozent selten oder nie ins Gotteshaus (36,8 Prozent niemals, 31,2 Prozent mehrmals im Jahr), 9,5 Prozent gehen mehrmals im Monat in die Moschee und 22,5 Prozent einmal in der Woche oder häufiger (12,7 Prozent gehen 1x pro Woche, 7,7 Prozent mehrmals wöchentlich und 2,1 Prozent täglich.)

Zudem setzt diese Studie drei Vergleichsbezüge, die für eine Betrachtung von ‚Muslimen‘ normalerweise nicht beachtet werden.

Zum einen wird festgestellt, dass ‚muslimische‘ Jugendliche sich deutlich stärker „religiös“ verstehen als ihre christlichen Altersgenossen, insbesondere im Vergleich zu den evangelischen Schülern. Da für die christlichen Jugendlichen in den Großstädten Religion keinen ethnisch-kulturellen Bezugspunkt mehr darstellt, ist natürlich der Vergleich ausgeprägter.

Zum anderen ist diese stärker bekundete Religiosität bei den männlichen ‚muslimischen‘ Schülern stärker feststellbar als bei den ‚muslimischen‘ Schülerinnen - was sich bei allen anderen Religionen gegenteilig darstellt. Dort sind die Mädchen religiöser als die Jungen.

Drittens ermittelt die Studie einen signifikanten Unterschied zwischen ‚muslimischen‘ Jugendlichen mit türkischem bzw. nordafrikanischen Migrationshintergrund (von denen 49,7 Prozent bzw. 47,2 Prozent die Religion als für sie persönlich „sehr wichtig“ bewerten) und ‚muslimischen‘ Jugendlichen aus Ex-Jugoslawien (von denen nur 36,8 Prozent Religion für sich selbst als „sehr wichtig“ ansehen). Eine Verkürzung der Sichtweise auf „Türken“ nivelliert also nicht nur Unterschiede, sondern misst diesem Merkmal auch eine zu hohe Bedeutung bei, da die tatsächliche religiöse Praxis mit der subjektiven Bedeutung nicht parallel geht, da diese jungen ‚Muslime‘ „zu gewissen Anteilen ihre eigenen Formen von Religionspraxis und eigene Auffassung vom Islam entwickeln.“11

Defizite der Forschung

Wissenschaftliche empirisch repräsentative Untersuchungen sind außer den bereits genannten Spezialstudien nur noch wenige zu finden12 und auch diese stehen primär unter dem Aspekt der sicherheitspolitischen Abklärung bzw. der Angst, ob bzw. dass die heranwachsenden Jugendlichen mit Migrationshintergrund als „fundamentalistische“ oder „gewalttätige“ Gefahr für die deutsche Gesellschaft zu betrachten sind, etwa im Tenor „Zeitbombe“ oder „Verlockender Fundamentalismus“. Da diese Studien alle mit öffentlichen Geldern finanziert werden, kann man deshalb konstatieren, dass bisher kein öffentliches Interesse daran bestand.

Allerdings sind in den Allgemeinen Bevölkerungsumfragen der Sozialwissenschaften (ALLBUS)13, die seit 1980 alle zwei Jahre durchgeführt werden, auch Fragen zur Religionszugehörigkeit - also auch zum Islam - , zum Gotteshausbesuch und weitere Variablen vorhanden.

Dafür gilt jedoch die methodische Einschränkung, dass die in diesen Daten erfassten ‚muslimischen‘ Befragten von entsprechend geringer Anzahl sind (3- 4 Prozent der Befragten), was allerdings ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht. So sind es 2002 nur 64 Befragte, 2004 dann 88 und 2006 schließlich 111 Befragte mit der Religionszugehörigkeit „Islam“.

Das größte Problem dieser kleinen Zahlen ist jedoch nicht die Frage statistischer Signifikanz oder die von breiteren Fehlertoleranzen, sondern die Möglichkeit von systematischen ‚Ausreißern‘. Das lässt sich jedoch mit einem Vergleich der Daten des Mikrozensus14 relativ gut prüfen. Die beiden vorhandenen Merkmale Altersverteilung und Geschlecht zeigen nur kleinere Abweichungen vom Mikrozensus, indem ‚muslimische‘ Männer in den ALLBUS-Daten 2006 (55 Prozent) häufiger vertreten sind, als bei den Migranten insgesamt (51 Prozent). Die Abweichungen in den Altersgruppen deuten darauf hin, dass die Altersgruppe der 30-45-Jährigen in den ALLBUS-Daten stärker vertreten ist, als in der Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Allerdings sollen diese Vergleiche nicht überstrapaziert werden, da sie zwei unterschiedliche Gruppen vergleichen: ‚muslimische‘ Befragte mit allen Migranten in Deutschland.

Gehen wir also davon aus, dass es keine systematischen Ausreißer in den ALLBUS-Daten gibt, so können wir jetzt die Daten der letzten Volkszählung von 1987 mit den Angaben der Befragten 2006 vergleichen.

Bekannten sich 1987 noch 93 Prozent der in Deutschland lebenden Türken zum ‚Islam‘, so sind es 2006 nur noch 84 Prozent. Waren 1987 von den ‚Muslimen‘ in Deutschland rund 80 Prozent Türken, so sind es nach den Angaben des Ausländerzentralregisters 2006 für die Migranten, die aus einem ‚muslimischen Land‘ zugewandert sind, nur noch 72 Prozent mit türkischen Hintergrund - was den ALLBUS Daten von 66 Prozent sehr nahe kommt. Die ALLBUS-Zahl hat dann auch die höhere Plausibilität, da von den ALLBUS-Befragten mit Herkunftsland „Türkei“ 16 Prozent nicht den ‚Islam‘ als Religionszugehörigkeit benennen (9 Prozent der Befragten mit türkischem Migrationshintergrund sind konfessionslos).

Religiosität

Die Häufigkeit des „Gottesdienst-“ oder „Gotteshausbesuches“ lässt sich auch deshalb auf muslimische Religionszugehörige übertragen, da die Pro-Kopf-Relation15 von 2.600 Moscheen und „3,2 Millionen Muslimen“ 1: 1.231 beträgt (was den christlichen Relationen von Kirchenmitgliedern zu Kirchengebäuden entspricht: evangelisch = 1 : 1.164, katholisch = 1 : 1.050) und die Muslime (außer auf dem flachen Land) insofern keine allzu großen Probleme haben dürften, eine Moschee in erreichbarer Nähe zu finden. Reduziert man zudem die Zahl der sich aus religiösen bzw. ethnisch-kulturellen Gründe zum „Islam“ Bekennenden um die 16 Prozent, die sich nach ALLBUS explizit nicht dazu bekennen, so sind es in dieser Pauschalität nur noch 2,7 Millionen zu 2.600 Moscheen, was die Pro-Kopf-Relation auf das beste Niveau bringt: 1 : 1.040.

Bei aller Achtsamkeit, die Prozentangaben nicht als statistisch sehr belastbar anzusehen, ergeben sich für den Gottesdienstbesuch von Befragten mit der Religionsangabe „islamisch“ folgende Verteilungen:

Die Zusammenfassung der sechs Antwortmöglichkeiten (Spalte 2-7) in drei Kategorien (Spalte 8 -10) reduziert zum einen die Fehlertoleranz und verdeutlicht einfacher drei Gruppen von Religiosität. Rund ein Fünftel der 2006 sich selbst als ‚Muslime‘ Bezeichnenden sind als „religiös“ zu betrachten (18 Prozent in Spalte 5), ein weiteres Fünftel ist eher indifferent (19,8 Prozent in Spalte 9) und drei Fünftel leben keine religiöse Praxis (62,1 Prozent in Spalte 10).

Der sich im Laufe der drei Befragungsjahre darstellende Trend einer Verringerung des Gottesdienstbesuches (selten oder nie steigt von 46,9 Prozent auf 62,1 Prozent) sollte dabei argumentativ nicht zu sehr belastet werden.

Diese Ergebnisse entsprechen zum einen den Angaben, die in der Bundestagsdrucksache16 zur Zahl der „Teilnehmer des wöchentlichen Freitagsgebets“ genannt werden (493.000) und die (auf 2,7 Mio. sich dem „Islam“ zugehörig Bekennende bezogen) einen Anteil von 18,3 „Religiösen“ unter den ‚Muslimen‘ ergeben.

Zum anderen entsprechen diese Verteilungen der Religiosität der Kirchenmitglieder der beiden großen Amtskirchen in Deutschland.

Die Grundtendenz - dass die Mehrheit ein distanziertes Verhältnis zu ihrer organisierten Religion hat - ist die gleiche. Bei den ‚muslimischen‘ Religionszugehörigen scheint dagegen die Kluft zwischen „Religiösen“ und „Nicht-Religiösen“ deutlicher zu sein, d. h. die „Indifferenten“ (Spalte 9) sind bei den ‚Muslimen‘ weniger häufig als bei den christlichen Kirchenmitgliedern.

Zum dritten entsprechen diese Relationen für Deutschland Feststellungen in den Niederlanden. „Nach Herman Beck, Islamwissenschaftler an der Universität Tilburg, hat die Zahl der atheistischen Ex-Muslime zugenommen. Vor einigen Jahren waren es bereits 15 Prozent und heute bedeutend mehr. Die relativen Zahlen der Moscheebesucher werden nicht viel anders sein als die der Kirchenbesucher. Die meisten Muslime sind genauso liberal wie der durchschnittliche Katholik. Liberale Muslime lehnen zwar den Glaubensabfall ab, lehnen aber auch jeden Religionszwang ab. Eine Islamisierung der Niederlande, wie sie z. B. Wilders proklamiert, ist somit eine Legende. Die Zahl der Moscheen bleibt gleich und ist mit 430 nicht sehr groß. Nur 3 bis 5 Prozent der Gläubigen gehört zu fundamentalistischen Kreisen. Wohl nimmt die Beteiligung an den reinen rituellen Formen des Islams zu, aber das ist auch der Fall bei den christlichen Kirchen: es gehört auch für Nichtgläubige zu ihrer Kultur.“17

Männer / Frauen und Altersverteilungen

Während einerseits die Verteilungen eine gewisse Ähnlichkeit aufweisen, ist die Haltung der männlichen Muslime entschiedener - entweder die Moschee wöchentlich zu besuchen oder ihr ganz fern zu bleiben.

In der Altersverteilung zeigt sich, dass die jüngste Gruppe der ‚Muslime‘ auch den geringsten regelmäßigen Moscheebesuch benennt. Hinsichtlich der Nicht-Religiösen, die „seltener als mehrmals im Jahr“ oder „nie“ in eine Moschee gehen, sind die Anteile in allen Altersgruppen vergleichbar. (Die älteste Gruppe der 60-jährigen und Älteren ist zu gering belegt.)


Erstes Fazit

Die Religiosität von Befragten, die sich selber zum ‚Islam‘ bekennen, unterscheidet sich in den Anteilen der Intensität - gemessen an der Häufigkeit des Gotteshausbesuchs - nicht grundsätzlich von den Einstellungen der Mitglieder der christlichen Amts-Kirchen in Deutschland.

Eine Minderheit von rund einem Fünftel (18 Prozent) der sich als ‚Muslime‘ Bezeichnenden ist in religiöser Hinsicht als tatsächlich und praktizierend „religiös“ anzusehen, ein weiteres Fünftel (19,8 Prozent) hat ein eher distanziertes Verhältnis zur praktizierten Religion und drei Fünftel (62,1 Prozent) sind als Nicht-Religiöse anzusehen. Insofern ist eine Unterscheidung vorzunehmen zwischen einem Fünftel „religiösen ‚Muslimen‘ “ und drei Fünfteln vermutlich „ethnisch-kultureller Muslime“, für die eine entsprechende religiöse Praxis keine Bedeutung hat. Diese Verteilungen bleiben auch in den Differenzierungen nach Geschlecht und Altersgruppen insgesamt erhalten - sind also als weitgehend durchgängig zu betrachten.

Insofern ist die Bezeichnung „Muslim“ erheblich zu differenzieren. Nicht nur hinsichtlich der verschiedenen Glaubensgemeinschaften des Islam, sondern auch und gerade hinsichtlich der Religiosität, da gerade die religiöse Zuordnung bei mehr als drei Fünfteln der ‚Muslime‘ keinen Sinn ergibt. Insofern ist die Forschung gefragt, diese Zuordnungen inhaltlich genauer zu klären.

Religiosität und sexuelle Selbstbestimmung

Das sexuelle Selbstbestimmungsrecht ist (neben den Rechten der Frauen) zuverlässiger Indikator für die Akzeptanz der Allgemeinen Menschenrechte einer Kultur und von Religionsgemeinschaften.

Sowohl die Bibel wie auch der Koran enthalten sehr präzise Verweigerungen dieses Menschen­rechtes, indem die Homosexualität verdammt wird.

Eine Auflistung der Einstellungen von Befragten, die sich einer bestimmten (oder keiner) Religion zugeordnet haben, zeigt unmissverständlich, dass mit (implizit unterstelltem) Ansteigen der „Schriftgläubigkeit“ auch die Intoleranz gegenüber der sexuellen Selbstbestimmung ansteigt. In der Spitzengruppe dieser Intoleranz befinden sich an erster Stelle die Nicht-Christlichen Religionsan­gehörigen (zu 85 Prozent sich als ‚Muslime‘ bezeichnend), gefolgt von den Mitgliedern evangelischer Freikirchen: Beide Gruppen betrachten Homosexualität mehrheitlich als „schlimm“.

Wie sehr diese religiöse Prägung auch ‚Muslime‘ beeinflusst, die (gemessen an der Häufigkeit des Moscheebesuchs) als „nicht-religiös“ eingestuft wurden, zeigt die folgende Tabelle.

Dass von Denjenigen, die Homosexualität als „sehr schlimm“ empfinden, knapp die Hälfte (47 Prozent) „religiöse“ ‚Muslime‘ sind, überrascht ebenso wenig wie die hohe Akzeptanz des „gar nicht schlimm“ (86 Prozent) durch die „nicht-religiösen“ ‚Muslime‘. Bemerkenswert sind dagegen die hohen Anteile dieser „nicht-religiösen“ ‚Muslime‘ bei denjenigen, die eine negative Haltung zum sexuellen Selbstbestimmungsrecht der Menschen äußern.

Weitergehende Untersuchungen müssen klären, wie stark auch „Nicht-religiöse“ ‚Muslime‘ durch den Islam kulturell geprägt wurden - eine Tatsache, die auch jedem deutschen Atheisten bewusst sein sollte, wie stark er eigentlich von christlichen Tradition kulturell beeinflusst ist.

Zweites Fazit

Es konnte angedeutet werden, dass unter dem Aspekt der Integration in eine eher aufgeklärten Gesellschaft, die zunehmend lernt, die Allgemeinen Menschenrechte zu respektieren - gezeigt an der Frage der Akzeptanz sexueller Selbstbestimmung -, die sich als ‚Muslime‘ Verstehenden sich in einer Gruppe mit den Mitgliedern evangelischer Freikirchen und orthodoxer christlicher Religionsgemeinschaften befinden. Allen gemeinsam ist eine ausgeprägte Schriftgläubigkeit und eine entsprechende kulturelle Prägung.

Insbesondere die Jugendlichen mit Migrationshintergrund aus „überwiegend islamischen Ländern“ sind in ihren Haltungen und Einstellungen recht gut erforscht. Dabei zeigte sich - wie in der bereits erwähnten Jugendstudie18 - dass auch ‚muslimische‘ Religiosität mit einer Reihe von problematischen Merkmalen und Einstellungen verbunden ist:

  • Mit steigender Religiosität verringert sich die sprachlich-soziale Integration, d. h. je religiöser, desto weniger integriert und integrierbar. (S. 316)
  • Gewalt als Mittel der Kindererziehung („Viktimisierung durch Kindesmisshandlung“) ist bei stark religiösen Muslimen deutlich stärker verbreitet. (S. 328)
  • Bei jungen Migranten ist die Ausprägung der Religiosität umso höher, je niedriger das Bildungs­niveau ihrer Eltern ist. (S. 310)
  • Entsprechend sind stark religiöse Jugendliche „durch eine Mehrzahl von sozialen Benachteili­gungsfaktoren gekennzeichnet“. (S. 353)

Diese Feststellungen bedürfen einer generellen Erforschung.

Erst dann lässt sich beispielsweise begründet klären, ob die Bauten der Großmoscheen nicht nur den Bedürfnissen einer Minderheit (eines Fünftel) der ‚Muslime‘ dient, sondern auch, ob und inwiefern diese „Religiösen“ Einstellungen und Werthaltungen vertreten, deren Institutionalisierung den Allgemeinen Menschenrechten und den entsprechenden Artikeln des Grundgesetzes widersprechen.

1 Situation ausländischer Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen in der Bundesrepublik Deutschland. Repräsentativuntersuchung 2001, Teil A: Türkische, ehemalige jugoslawische, italienische sowie griechische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen in den alten Bundesländern und im ehemaligen West-Berlin. Forschungsbericht im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Januar 2002.
2 Vgl. Tabellenband, Tabelle 7.14
6 Susanne Worbs und Friedrich Heckmann: „Islam in Deutschland: Aufarbeitung des gegenwärtigen Forschungsstandes und Auswertung eines Datensatzes zur zweiten Migrantengeneration“, in: Bundesministerium des Inneren (Hrsg.) „Islamismus“ (Texte zur Inneren Sicherheit), Berlin, 2003 (5. Aufl. 2006), Seite 161.
7 Dafür - als ein Beispiel - für die evangelische Kirche: http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Gottesglau
be_und_Kirchgangshaeufigkeit_Evangelisch%2C%202002.pdf
8 vgl. Anmerkung 2
9 Susanne Worbs und Friedrich Heckmann: „Islam in Deutschland“, vgl. Anmerkung 6.
10 Karin Brettfeld und Peter Wetzels: „Junge Muslime in Deutsche: Eine kriminologische Analyse zur Alltagsrelevanz von Religion und Zusammenhängen von individueller Religiosität mit Gewalterfahrungen, -einstellungen und -handeln“, in: Bundesministerium des Inneren (Hrsg.) „Islamismus“ (Texte zur Inneren Sicherheit), Berlin, 2003 (5. Aufl. 2006), S. 251 -369.
11 ebd., Seite 298.
12 Vgl. dazu die Literaturübersicht unter: http://www.gesis.org/Information/SowiNet/sowiOnline/islam/
14 Statistisches Bundesamt. „Bevölkerung mit Migrationshintergrund - Ergebnisse des Mikrozensus 2005.“ Fachserie 1, Reihe 2.2. Im Internet unter: https://www-ec.destatis.de/csp/shop/sfg/bpm.html.cms.cBroker.cls?CSPCHD=… truktur,vollanzeige.csp&ID=1020312
15 Zahlen aus Antwort der Bundesregierung zur rechtlichen Gleichstellung des Islam in Deutschland 2007, S.8 (vgl. vollständige Quellenangabe in Tabelle 1)
16 ebd. Seite 7.
18 Vgl. Fußnote 11 (Brettfeld und Metzels „Junge Muslime in Deutschland“)