Die Entwicklung nichtehelicher Geburten in Europa
Mitte des 20. Jahrhunderts war die Heirat vor der Geburt in Europa noch die Norm. In den letzten Jahrzehnten zeigt die Anzahl nichtehelicher Geburten jedoch einen Aufwärtstrend. Ein Blick auf die demografische Forschung zeigt, dass diese Entwicklung keineswegs einheitlich verläuft und auch innerhalb Deutschlands große Unterschiede im Verhältnis ehelicher zu nichtehelicher Geburten feststellbar sind.
Von Jan-Tobias Peterle
Entwicklung in Europa
Wie die folgende Statistik von Eurostat zeigt, gibt es einen deutlichen Wandel im Verhältnis ehelicher zu nichtehelicher Lebendgeburten in Europa zwischen den Jahren 1960 und 2015. Während Mitte des 20. Jahrhunderts die eheliche Geburt - mit einem durchschnittlichen Anteil von über 90 Prozent - die Norm war, lag der Anteil nichtehelicher Geburten im Jahr 2015 im europäischen Durchschnitt bei über 42 Prozent. Zwischen den einzelnen Ländern bestehen jedoch große Unterschiede. So wies beispielsweise Island 2015 mit 63,8 Prozent den höchsten Anteil an nichtehelichen Geburten in Europa auf, wo hingegen es 2015 in Griechenland nur 8,8 Prozent nichteheliche Geburten gab. Betrachtet man die 28 EU-Länder, sowie Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz, lässt sich dabei eine Drittelung der Verhältnisse ausmachen. In 10 Ländern beläuft sich der Anteil der nichtehelichen Geburten unter einem Drittel, in 13 Ländern zwischen einem Drittel und der Hälfte sowie in 9 Ländern über 50 Prozent.
In einer Studie des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung wird deutlich, dass diese Unterschiede im Vergleich zwischen den verschiedenen Regionen Europas besonders deutlich zu Tage treten. Die grafische Umsetzung zeigt den generellen Anstieg des Anteils der nichtehelichen Geburten.
Die nordeuropäischen Länder wie Schweden oder Norwegen weisen den höchsten Anteil an nichtehelichen Geburten auf. Auch Westeuropa folgt diesem Trend. Die südlichen und östlichen Bereiche Zentraleuropas weisen zwar eine ebenfalls steigende Anzahl an nichtehelichen Geburten auf, diese sind jedoch mit durchschnittlich etwa 25 Prozentpunkten deutlich unterhalb der Werte in West und Nordeuropa angesiedelt. Eine Ausnahme bildet hier Osteuropa. Dort sind die Zahlen der nichtehelichen Geburten in den letzten Jahren rückläufig.
Entwicklung in Deutschland
Auch innerhalb der einzelnen Nationen gibt es deutliche Unterschiede. Wie ein Vergleich des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung der Verhältnisse von nichtehelichen Geburten in Deutschland zeigt, ist der Anteil nichtehelicher Geburten in Deutschland zwar deutlich angewachsen, jedoch hat sich diese Entwicklung in den einzelnen Gebieten sehr unterschiedlich ausgeprägt. Während sich 1937 der Anteil an nichtehelichen Geburten insbesondere in den heutigen westdeutschen Bundesländern Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Hessen und dem Saarland im einstelligen Bereich bewegte, wiesen die Gebiete des heutigen Ost, Nord- und Süddeutschlands einen signifikant höheren Anteil an nichtehelichen Geburten auf. Auffallend ist dabei, dass sich der 1937 im Verhältnis höhere Anteil an nichtehelichen Geburten vor allem in Bayern heute dem im Verhältnis weit geringeren Anteil nichtehelicher Geburten in Westdeutschland angeglichen hat auch wenn die Tendenz insgesamt steigend ist.
Dieser Ost-West-Unterschied in Deutschland hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen der Bundesrepublik und der DDR deutlicher ausgeprägt. Vergleicht man die Zahlen von 1950 mit denen des Jahres 2014 zeigt sich, dass der Anteil der nichtehelichen Geburten in Deutschland zwar insgesamt deutlich zugenommen hat, jedoch Ostdeutschland mit 58,8 Prozent einen etwa doppelt so hohen Durchschnittsanteil an nichtehelichen Geburten als Westdeutschland mit 28,4 Prozent aufweist.
Gründe für eheliche/nichteheliche Geburten
Die Definition von Ehe sowie deren juristische Ausprägungen sind einem stetigen Wandel unterworfen und weisen im Ländervergleich deutliche Unterschiede auf. Ein Beispiel hierfür ist die Ehe zwischen homosexuellen Partnern, die im europäischen Vergleich sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Auch gibt es neben dem klassischen Ehemodell aus Mann und Frau in manchen Ländern verschiedene rechtliche Alternativen wie die eingetragene Lebenspartnerschaft. Aufgrund der Verschiedenheit der rechtlichen Definition und Ausprägung von Ehe ist der länderübergreifende Vergleich dieser Konzepte in der Praxis nicht immer möglich. Statistikern stehen zu diesem Thema daher nur relativ wenige zuverlässige Datensätze zur Verfügung. Ob Paare vor der Geburt ihres Kindes verheiratet sind oder nicht, hängt von verschiedenen Faktoren ab.
Religiöse Rahmenbedingungen?
Der Wissenschaftler Sebastian Klüsener, der am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock (MPIDR) an dem Thema forscht, nennt für den Rückgang nichtehelicher Geburten in Osteuropa unter anderem einen Bedeutungszuwachs von Religion und eine Rückkehr zu alten Traditionen. Die Statistik scheint dies zu belegen. So beträgt der Anteil ehelicher Geburten in eher traditionell und religiös geprägte Länder wie Polen, Griechenland und der Türkei über 70 Prozent, während im Vergleich eher als säkularisiert geltende Länder wie Schweden und Norwegen über 50 Prozent nichteheliche Geburten aufweisen. Spielt unter den verschiedenen Faktoren für den Anteil nichtehelicher Geburten die weltanschaulich-religiöse Moral, ausschließlich die Ehe als akzeptablen Rahmen zur Kinderzeugung zu befürworten, eine herausragende Rolle? Eine Sortierung nach Anteilen der nichtehelichen Kinder und Markierung der überwiegend römisch-katholischen bzw. orthodoxen sagt dazu: ja durchaus, aber nicht unbedingt und nicht monokausal.
Die 12 Staaten mit den niedrigsten Anteilen nichtehelicher Geburten haben durchweg religiöse Mehrheiten und Prägungen. Andererseits haben Slowenien und Bulgarien, mit orthodoxen Mehrheiten, und das immer noch katholische Frankreich u. a. die höchsten Anteile nichtehelicher Geburten. Das verweist auf die Parallelität zu den Geburtenziffern in Europa bei denen Frankreich ebenso zu den „Spitzenreitern“ zählt und was darauf verweist, dass die gesellschaftliche Anerkennung und Förderung von Eltern und Kindern wesentlichere Elemente sein können als die religiöse Moral und Kontrolle. Wie sehr jedoch Religion und gesellschaftliche Moral und deren Kontrolle eine Rolle spielen können, darauf verweist der Anteil an nichtehelichen Geburten in der Türkei, der sich auf gerade einmal 2,8 Prozent beläuft.
Eine interessante Ausnahme bildet hier beispielsweise das im deutschen Vergleich sehr christlich geprägte Bundesland Bayern, welches der MPIDR-Analyse zufolge bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts teilweise einen höheren Anteil nichtehelicher Geburten aufwies als die damaligen Gebiete des heutigen Ostdeutschlands. Als Grund hierfür gilt eine lokale Erbtradition, die Bauern erst nach der Übernahme des väterlichen Hofes mit 34 Jahren die Heirat und damit die Elternschaft gestattete. Möglicherweise auch, weil häufig erst geheiratet wurde, wenn der männliche Hoferbe geboren war. Wie die damalig erhöhte Anzahl an nichtehelichen Geburten belegt und das bayerische Erbrecht, das die nichtehelichen den ehelichen Kindern gleichstellte, zeigt, wurde diese Tradition in der Praxis eher weniger umgesetzt. Inzwischen haben sich die Geburtenverhältnisse in Bayern dem westdeutschen Durchschnitt angeglichen.
Neben religiösen und sozialen Traditionen und Normen spielt auch die rechtliche und wirtschaftliche Autonomie der Eltern, insbesondere die der Mütter, eine große Rolle in der Entwicklung der Anteile ehelicher und nichtehelicher Geburten. Die Ehe bietet auch ökonomische Vorteile und Absicherungen die je nach Ausprägung zusätzliche Anreize für eine Heirat geben. Die auffallende Diskrepanz zwischen den Anteilen in West- und Ostdeutschlands beruht neben dem historischen Hintergrund wie der Besserstellung ostdeutscher Mütter, auch auf ökonomischen Unterschieden wie den auch heute noch im Vergleich zu Ostdeutschland deutlich unterschiedlicheren Einkommen von Männern und Frauen in Westdeutschland. Die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der DDR trug zur höheren Erwerbstätigkeit der Frauen bei.
Der Demograf Klüsener hält hierzu fest, dass zwar die Quote im Westen in den letzten Jahrzehnten gestiegen sei, weil rechtliche Benachteiligungen für nichtehelich geborene Kinder abgebaut wurden, die nichtehelichen Geburten in den alten Bundesländern jedoch aber auch in Zukunft hinter dem Europatrend zurückbleiben würden, solange die Ehe als Strategie zur materiellen Absicherung für Frauen wichtig bleibe.
Neben ökonomischen Faktoren ist die Möglichkeit einer Ehescheidung und deren gesellschaftliche Akzeptanz ebenfalls ausschlaggebend. Auch die Verfügbarkeit und Verbreitung der Verwendung von Verhütungsmitteln und die Möglichkeit von Schwangerschaftsabbrüchen haben einen Einfluss auf die Anzahl ungeplanter nichtehelicher Geburten.
Zukünftige Entwicklungen
Eine Zukunftsprognose ist daher nur bedingt möglich. Die Zahlen zeigen, dass die Anzahl nichtehelicher Geburten in gesamteuropäischer Perspektive kontinuierlich steigt, der Trend sich aber in den letzten Jahren wieder etwas abgeschwächt hat. Die Tendenzen in den osteuropäischen Ländern hingegen skizzieren momentan einen umgekehrten Trend. Dessen weitere Entwicklung wird nicht zuletzt von der Frage abhängen, in wieweit diese am Prozess der europäischen Integration, die auch eine Angleichung der wirtschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse zwischen ihren Mitgliedsländern bewirkt, teilhaben werden. Das „Trendsetting“ der nordeuropäischen Länder, - die neben der frühen Offenheit für andere Partnerschaftsmodelle als die religiös abgesegnete Ehe auch ein entsprechendes gesellschaftliches Umfeld und juristische Rahmenbedingungen schufen, die das traditionelle Frauen- und Familienbild als nur eine Variante von Partnerschaftsbeziehungen verdeutlichten – und das sich dann auch in Westeuropa fortsetzte, erscheint jedoch eher als das Modell der Zukunft.