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Weltanschauung und Sexualität

Fowid-Statistikbeobachter: Katholisch.de berichtet über einen „Wandel im Denken über Sexualität“ und titelt: „Studie: Christen in Deutschland haben überdurchschnittlich viel Sex“. Endlich einmal positive Nachrichten über Religion und Kirche – könnte/sollte man wohl denken. Eine genauere Betrachtung der zugrundeliegenden Studie zeigt jedoch, dass diese Meldung die empirischen Ergebnisse falsch darstellt.

1.Medien
2. Die Studie
3. Kontext
4. Fazit

1. Medien

Eine Meldung der KNA (Katholischen Nachrichten-Agentur) wurde in ‚Religions-Medien‘ rasch weiterverbreitet: „Studie: Christen haben überdurchschnittlich viel Sex“ (ORF.Religion), „Überraschende Studie: Gläubige Christen haben mehr Sex“ (OE24), „Deutsche Studie zeigt: Christen haben überdurchschnittlich viel Sex“ (Salzburger Nachrichten), „Mehr Leidenschaft, weniger Tabus“ (domradio/KNA) und: „Was die große Sexualitätsstudie über Christen verrät“ (Jesus.de). Einzig die letztgenannte Meldung geht über die KNA-Meldung hinaus und referiert einen längeren differenzierenden Text zu den Ergebnissen der Studie.

Der Artikel (die KNA-Meldung) beginnt mit der Aussage „Christinnen und Christen in festen Beziehungen haben in Deutschland häufiger Geschlechtsverkehr als der Durchschnitt der Bevölkerung“ und verweist dazu auf eine „neue Sexualitätsstudie des Forschungsinstituts empirica für Jugend, Kultur & Religion in Kassel“. 

„Christinnen und Christen in festen Beziehungen haben in Deutschland häufiger Geschlechtsverkehr als der Durchschnitt der Bevölkerung […]. Für die Untersuchung befragten die Wissenschaftler mehr als 10.000 nach eigener Aussage gläubige Personen online. Demnach gaben 26 Prozent der befragten Frauen und 21 Prozent der Männer an, in den vergangenen vier Wochen mehr als zehnmal Sex gehabt zu haben – deutlich mehr als in der Gesamtbevölkerung, wo dies nur 8 Prozent der Frauen und 10 Prozent der Männer angaben.
Anders stellt sich das Bild laut Forschungsinstitut bei Singles dar: Vor allem alleinstehende Männer leben demnach deutlich enthaltsamer. 89 Prozent von ihnen erklärten, in den vergangenen vier Wochen keinen Sex gehabt zu haben. In der Gesamtbevölkerung liegt dieser Anteil laut Studie bei 68 Prozent.“

Die Studie selbst (Tobias Künkler, Lucas B. Döbel, Dorothé Müller, Jennifer Paulus, Tabea Peters, Leonie Preck, Daniel Wegner, Ramona Wanie: „SEXUELLE EINSTELLUNGEN UND VERHALTENSWEISEN (HOCH-)RELIGIÖSER CHRIST:INNEN“) grenzt bereits im Titel den Begriff der „Christen“ auf „(hoch)religiöse Christ:innen“ ein.

Nach den Ergebnissen der ALLBUS-Umfrage 2023 sind (Religiositätsskala Werte 9 + 10 einer 10er-Skala) 12 Prozent der EKD-Evangelischen „hochreligiös“, 35 Prozent der Freikirchler und 16 Prozent der römischen Katholiken. Das sind insgesamt 15 Prozent der „Christen“, d. h. der formalen Kirchenmitglieder.

Der Gesamtbezug des Vergleichs der „Christen in festen Beziehungen“ zum „Durchschnitt“ wird in der Studie selbst nicht quantifiziert, aber in einem Bericht zur Fachtagung zur Studie der Aspekt des „mehr Sex“ so formuliert:

„Die Studie zeigt: Glaube und sexuelles Verhalten existieren oft in einem Spannungsfeld. Christ*innen haben zwar in Partnerschaften mehr Sex als der bundesdeutsche Durchschnitt, doch christliche Singles deutlich weniger. Christ*innen sind nicht prüder und nicht homogener als andere – so ein weiteres Ergebnis der Studie. Gleichzeitig leben viele entgegen ihrer eigenen sexualethischen Überzeugungen, was besonders bei Themen wie Masturbation, Homosexualität oder Pornografie Schuldgefühle verstärkt.“

In einer Zusammenfassung der Studienergebnisse werden dann zwar Daten genannt, aber ohne Quellenangabe:

„Bei einem differenzierten Vergleich nach Alter, Geschlecht und Beziehungsstatus zwischen den quantitativen Daten der Sexualitätsstudie und einer repräsentativen Studie über die Gesamtbevölkerung in Deutschland, zeigt sich deutlich: Die Befragten der Sexualitätsstudie, die in einer festen Beziehung oder verheiratet waren, hatten häufiger Geschlechtsverkehr als der Durchschnitt der Bevölkerung. Beispielsweise war der Anteil mit über zehnmal Geschlechtsverkehr in den letzten vier Wochen bei Befragten der Sexualitätsstudie deutlich hoher im Vergleich zu Personen der Gesamtbevölkerung, die in einer Beziehung sind (Frauen: 26 % zu 8 %; Manner: 21 % zu 10 %).“

Als Vergleichsgrößen zur Gesamtbevölkerung bieten sich zwei Studien an. In der Bevölkerungsrepräsentativen „ElitePartner-Studie 2023“ werden Vergleichsdaten genannt, die zu den Kategorien der Empirica-Sexualitätsstudie passen. In den drei Häufigkeitskategorien von „Fast täglich“ bis „Mehrmals im Monat“ befinden sich 59 Prozent der Befragten.

In eben diesen drei Kategorien sind in der ElitePartner Studie – ebenfalls für die in einer Partnerschaft Lebenden – höhere Häufigkeiten genannt. In der Altersgruppe der 18-29-Jährigen sind es 83 Prozent, bis es – abnehmend – bei den 50-59-Jährigen 60 Prozent sind und in der ältesten Altersgruppe 56 Prozent.

Der Endbericht für die Pilotstudie „Liebesleben 2017“ der Universitätsklinik Hamburg enthält keine vergleichbaren Fragen und entsprechend keinen Vergleich. In dem aus dem gleichen Projekt stammende Publikation „Gesundheit und Sexualität in Deutschland. Bericht für die Befragten“ (2018/2019) wird nach der Häufigkeit des Sex mit heterosexuellen Partnern in den letzten vier Wochen gefragt und (S.12) von den in einer Beziehung lebenden Befragten geben 71 Prozent an: 1–10-mal, weitere 9 Prozent: 11 +. (Nach einem weiteren Infoblatt beträgt der Anteil (mehr als 10-mal im Monat) in der Altersgruppe der 18-35-Jährigen rund 13 Prozent.) Insgesamt haben also 80 Prozent mehr als einmal Sex im Monat. Das sind auch höhere Anteile als die 59 Prozent in der CVJM-Empirica-Studie.

2. Die Studie

Die Dokumentation der Studie selbst kann als beispielhaft und vorbildlich angesehen werden. Alle wesentlichen Aspekte empirischer Forschung werden thematisiert. Vor allem in den Diskursanalysen „Bücher“ (Kapitel 2.2) Diskursanalyse Zeitschriften (Kapitel 2.3) sowie die Diskursanalyse Social Media wird ausführlich thematisiert, dass es dabei eine Fokussierung auf den evangelikal-pietistisch geprägten Kontext gegeben hat (SCM-Verlage). Das Kapitel 3 (S. 35 ff) „geht als qualitative Untersuchung vor allem der Frage nach, welche Spannungen und Dilemmata zum Thema Sexualität junge Christ:innen wahrnehmen und wie sie damit umgehen.“ Kapitel 4 (S. 45 ff) referiert Aspekte der quantitativen Online-Befragung (Stichprobe, Datenerhebung, Skalendokumentationen, Messinstrumente, etc.), in Kapitel 5 (S. 73ff.) werden - unter dem Aspekt „Ergebnisse“ - zwei Grundverständnisse analysiert. Wer immer sich mit den Diskursen über Sexualität aus religiöser Perspektive beschäftigen will, z. B. Themen wie „Reinheit“ oder „Legitimität von Sex in der Ehe“ u. a. m., findet hier umfangreiche, differenzierte Informationen.

Aus dieser Dokumentation lässt sich auch beschreiben, wer die Befragten der Studie sind. 54 Prozent sind 18-37-Jährige, der Frauenanteil beträgt 61 Prozent. Abitur / Universitätsabschluss / Promotion haben 83 Prozent und einer festen Beziehung leben 80 Prozent. Nach Religionszugehörigkeit sind 41 Prozent Mitglied in einer Landeskirche der EKD, 8 Prozent römische Katholiken und 38 Prozent Mitglied einer evangelischen Freikirche. Als „Hoch-Religiös“ werden 75 Prozent eingestuft. 78 Prozent gehen regelmäßig (mindestens einmal im Monat) in den Gottesdienst und 60 Prozent beten mehrmals am Tag. 94 Prozent stimmen der Aussage zu: „Ich habe ein liebvolle Beziehung zu Gott“ und für 62 Prozent spielte in der Erziehung der christliche Glaube eine große Rolle.

Wenn man es pointiert formulieren will, so ist es das Klientel der Hochschule des CVJM. Es wird auch kein Anspruch auf Repräsentativität erhoben, die Ergebnisse stehen für sich selbst: die bereits beschriebenen Befragten. Nichts anderes wird in der Dokumentation behauptet.

3. Kontext

2023, bei Ankündigung der Feldarbeit zur Studie, gab es eine Kontroverse „Religion und Sex: Neue Studie schlägt hohe Wellen.“

„Der Zusammenhang zwischen Religion und Sexualität ist tiefgreifend und oft kompliziert. Die Sexualitätsstudie der Stiftung Christliche Medien und des Instituts Empirica will diesen Zusammenhang unter deutschsprachigen Christinnen und Christen erforschen.
Doch schon kurz nach der Veröffentlichung des Online-Fragebogens ist eine hitzige Debatte in den sozialen Medien entbrannt. Kritik kommt dabei aus allen Lagern. Von Konservativen bis Progressiven stören sich viele Teilnehmende daran – allerdings aus verschiedenen Gründen.“

Die Empirica-Studie steht in einem Zusammenhang, der spätestens seit 2013 sichtbar wurde.

2013 erbrachte eine YouGov-Umfrage in Großbritannien, dass nur wenige Katholiken den Lehren der Kirche folgten. (Guardian)

„Die YouGov-Umfrage ergab jedoch keine Hinweise darauf, dass Katholiken sich wegen sexueller ‚Sünden‘ schuldiger fühlen als andere religiöse Menschen. Allerdings zeigte sich, dass religiöse Menschen im Allgemeinen mehr Schuldgefühle haben als nicht-religiöse, wobei Baptisten, Muslime und Pfingstler am stärksten davon betroffen sind.
Auf die Frage, ob sie sich wegen vier von der katholischen Kirche verurteilten sexuellen Aktivitäten – vorehelicher Sex, außerehelicher Sex sowie der Konsum von Pornografie und Verhütungsmitteln – schuldig fühlen würden, gaben nur 14 % der Katholiken an, dass sie sich wegen der meisten oder allen dieser Aktivitäten schuldig fühlen würden.“

2014 ergab eine Umfrage: „Auch junge Katholiken wollen Sex vor der Ehe“ (Deutschlandfunk) und (2014): „Die meisten Katholiken lehnen kirchliche Sexualmoral ab“ (Bischofskonferenz)

„Die meisten Gläubigen schließen ihre Ehe in der Perspektive und Hoffnung einer lebenslangen Verbindung. Die kirchlichen Aussagen zu vorehelichem Geschlechtsverkehr, zur Homosexualität, zu wiederverheirateten Geschiedenen und zur Geburtenregelung finden hingegen kaum Akzeptanz oder werden überwiegend explizit abgelehnt.
Das katholische Familienbild wirkt auf viele zu idealistisch und lebensfern. Insbesondere die Vorgaben der Kirche zur Sexualmoral und zur Familienplanung, welche nur die natürliche Empfängnisregelung zulässt, sind nur für sehr wenige Paare relevant.“

In Deutschland war bereits 2015 für die Evangelischen bekannt: „Die Trendwende setzt sich durch“ (ZEIT).

„Mit Blick auf die Beurteilung sexueller Orientierungen und deren theologischer sowie gemeindepraktischer Bedeutung lassen sich in der jüngeren Vergangenheit deutliche Tendenzen zu einer Liberalisierung und zur Anerkennung einer selbstbestimmten Sexualität in den evangelischen Landeskirchen verzeichnen.“

Doch die entsprechende Studie: „Peter Dabrock, Renate Augstein, Cornelia Helfferich und andere: „Unverschämt schön. Sexualethik: evangelisch und lebensnah“ erschien der EKD zu heikel: „Was die EKD nicht sagen wollte“.

Das hat die Studie der Hochschule des CVJM jetzt für die – vor allem jüngeren, verheirateten Abiturientinnen und Akademikerinnen – der EKD und der evangelischen Freikirchen bestätigt. Im Widerstreit zwischen konservativ-dogmatischen und liberalen Grundverständnis von Religion, Glaube und Lebensführung ist es kein Widerspruch „hochreligiös“ zu sein und eine positive Einstellung zur Sexualität zu haben und zu leben.

4. Fazit

Unter dem Aspekt einer Aufmerksamkeitsökonomie ist es der Katholischen Nachrichten-Agentur gelungen, mit einer maßlos übertriebenen Schlagzeile das mediale Interesse für eine spezielle Studie zu erzeugen, an der Katholiken (mit 8 Prozent) nur geringfügig beteiligt sind. Die KNA hat damit vermutlich einen größeren Kreis von Leserinnen und Leser jenseits der Religionssoziologie gefunden, als bei einer sachgerechten Berichterstattung.

(Carsten Frerk)