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Niederlande: Katholiken 1960-2022

Die katholische Bischofskonferenz der Niederlande hat einen Bericht vorgelegt, der den Zusammenbruch des katholischen Glaubens in den Niederlanden konstatiert: “The ‘Pastoral Council’ and the Collapse of the Catholic Faith in the Netherlands” (Der Pastoralrat und der Kollaps des katholischen Glaubens in den Niederlanden). Die Daten, als Tatsachen, sprechen für sich, die Begründung für die Entwicklung ist jedoch fraglich bzw. falsch.

Die Daten

1960 betrug der Anteil der römischen Katholiken in den Niederlanden 40 Prozent. (Vgl. den fowid-Artikel zu den Niederlanden 1849-2018) Bis 2006 – also in 46 Jahren - reduzierte sich dieser Anteil allmählich auf 30 Prozent. Von 2007- 2021 – also in 15 Jahren - auf 21 Prozent. Das heißt, die ‚Geschwindigkeit‘ der Verringerungen hat sich gleichsam verdreifacht.

Nach den neuesten Daten für 2022 sind 57,2 Prozent der über-15-Jährigen Bevölkerung konfessionsfrei, 18,2 Prozent römisch-katholisch, 13,2 Prozent Protestanten, 5,6 Prozent Muslime und 5,9 Prozent ‚Andere‘.

Für den Gottesdienstbesuch stellte das Zentrale Statistikamt der Niederlande bereits 2001 die Diskrepanz zwischen den Kirchenmitgliedern und ihrem Gottdienstbesuch fest: „Dutch less devout“. Die Verringerungen seien zwar für alle Religionsgemeinschaften feststellbar, aber für die römisch-katholische Kirche besonders gravierend. Waren 1977 noch 60 Prozent von ihnen mindestens einmal im Monat in die Kirche gegangen, seien es 2001 nur noch 30 Prozent, also die Hälfte davon.

Hintergrund der aktuellen Bewertungen der Bischofskonferenz ist auch die Auswertung des „Center for Applied Research in the Apostolate (CARA)“ der World Values Surveys zum Gottesdienstbesuch der römischen Katholiken weltweit: „Where Is Mass Attendance Highest and Lowest?” mit dem Ergebnis, dass der Gottesdienstbesuch der römischen Katholiken in den Niederlanden am geringsten sei: 7 Prozent. Das jedoch steht durchaus in Widerspruch, wie viele der römischen Katholiken in den Niederlanden sich als „religiöse Person“ verstehen: 78 Prozent.

Dass dieses Phänomen sich nicht nur auf die Katholiken in den Niederlanden beschränkt, zeigt eine Gallup-Untersuchung über den Gottesdienstbesuch von Katholiken und Protestanten in den USA von 1955-2003: „Catholics Trail Protestants in Church Attendance“. Während der Gottesdienstbesuch der Protestanten stabil bleibt, sogar leicht ansteigt, verringert sich der Gottesdienstbesuch der römischen Katholiken in diesem Zeitraum von 74 auf 40 Prozent.

Das Gleiche gilt für Deutschland: der Gottesdienstbesuch von Katholiken verringert sich im Zeitraum 1955 bis 2022 von 48,4 auf 5,7 Prozent.

Die weiteren Daten zu den Entwicklungen in den Niederlanden, die Grundlage für die Einschätzung sind, dass der katholische Glaube zusammengebrochen sei, finden sich in dem „Ad-Limina Bericht 2022“ - „die im Kirchenrecht vorgesehene Verpflichtung der Diözesanbischöfe, alle fünf Jahre den Papst zu besuchen und einen Rechenschaftsbericht über das Bistum zu geben“ (katholisch.de) - in der die Entwicklung 2012 – 2021 in den Niederlanden dargestellt wird.

Der Rückgang der Kasualien in diesen zehn Jahren liegt bei rund 65 Prozent. Dass die Beschränkungen durch die Coronapandemie nicht der ursächliche Grund sind, zeigt sich bereits in den Veränderungen von 2012 auf 2019, vor Corona, als der Rückgang bei den Taufen, den Erstkommunionen und den Firmungen bereits rund 50 Prozent beträgt, d. h. sich die Anzahl der Kasualien also bereits halbiert hat.

Vergleicht man diese Entwicklungen mit den Daten des Kirchlichen Lebens der Deutschen Bischofskonferenz in Deutschland für 2012 mit denen für 2021 so sind die Verringerungen innerhalb der römischen Katholiken in Deutschland durchgehend erheblich geringer. Im gleichen Zeitraum sind es bei den Taufen in den Niederlanden Minus 60 Prozent, in Deutschland 15 Prozent, bei den Erstkommunionen 65 vs. 23 Prozent, bei den Firmungen 69 vs. 28 Prozent und bei den Kirchlichen Hochzeiten sind es 77 vs. 57 Prozent.

Begründung / Interpretationen

In dem bereits zitierten Artikel im „National Catholical Register“ erfolgt nun für diese Entwicklung eine Art Schuldzuweisung an den „Pastoralen Rat“, dass Mitte der 1960er Jahre durch diese Gruppe eine Bewegung ausgelöst worden sei, deren Konsequenten man heute sehe.

„Nach Ansicht des niederländischen Kardinals lässt sich der Niedergang der Kirche in den Niederlanden auf die Ereignisse Mitte der 1960er Jahre zurückführen, mit der unmittelbaren Folge, dass in nur einem Jahrzehnt, zwischen 1965 und 1975, die Zahl der Kirchenbesucher um die Hälfte zurückging. Dieser dramatische Trend hat sich bis heute fortgesetzt, wenn auch in weniger drastischer Weise als im ersten Jahrzehnt. Die fast 60 Jahre andauernde Erosion des Glaubens haben Kardinal Eijk zu der bitteren Erkenntnis geführt, dass ‚Christus für die meisten Niederländer heute eine praktisch unbekannte Figur geworden ist‘. […] ‚In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre‘, so Kardinal Eijk, ‚entschied sich eine große Gruppe junger Menschen, die heute Großeltern sind, sonntags nicht mehr in die Kirche zu gehen. […] Sie gaben den Glauben an Christus nur sehr wenig oder gar nicht an ihre Kinder weiter, geschweige denn an ihre Enkel. Ältere Katholiken sterben, und junge Katholiken lassen in den meisten Fällen ihre Kinder nicht mehr taufen.‘
Einige Wissenschaftler, die sich mit der Kirche in den Niederlanden im 20. Jahrhundert befassen, vertreten die Auffassung, dass die tiefe Glaubenskrise im Land nicht verstanden werden kann, ohne das sogenannte ‚Pastoralkonzil‘ zu berücksichtigen, ein wichtiges katholisches Ereignis, das zwischen 1966 und 1970 in Noordwijkerhout, einer Stadt im Westen der Niederlande, im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil stattfand. […] Die Bischöfe übergaben ihre Mission an Leute, die in den Niederlanden eine andere Kirche schaffen wollten und deren Reform selbst in Angriff nahmen, ohne das Zentrum der Weltkirche, d.h. den Papst und die römische Kurie, zu konsultieren, obwohl letztere begann, den Weltepiskopat zu konsultieren, um ihn in die Fortführung der Kirche nach dem Zweiten Vatikanum einzubeziehen.‘“

Es ist bemerkenswert, wie sehr sich diese Sichtweise auf rein innerkirchliche Vorgänge bezieht, für die anscheinend keine gesellschaftliche Umgebung zu existieren scheint.

Das Zweite Vatikanische Konzil war notwendig geworden, nachdem sich nach dem II. Weltkrieg die weltpolitische Konstellation radikal verändert hatte. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren frühere europäische Kolonial- und Regionalmächte (Frankreich, Spanien, Portugal, Österreich, Italien, Deutschland alle katholisch oder mit entsprechenden Anteilen) noch in der Macht – mit denen allen der Vatikan Konkordate abgeschlossen hatte: alles, bis auf Frankreich, faschistische Diktaturen -, mit denen man im sowohl im Autoritären der Staatsführung, wie im Antikommunismus und Antisemitismus Gemeinsamkeiten hatte. Am Ende des Zweiten Weltkrieges gab es nur noch zwei und völlig andere Weltmächte: die (evangelischen) USA und die (atheistische) Sowjetunion. Darauf galt es als Kirche zu reagieren.

Die USA hatten nicht nur ihre Truppen mit nach Europa gebracht, sondern auch den Rock’n Roll und Jazz, die Pin Up’s, Penicillin und die Pille, die Nylonstrümpfe, Petticoats, Blue Jeans und Coca-Cola als Weihnachtsmann – eine Lebenseinstellung, die von großen Teilen der Jugend begeistert angenommen wurde: Es lebe das Individuum! Ebenso wie der atheistische, französische Existentialismus der menschlichen Selbstbestimmung, der mit Baskenmütze, Gauloises und schwarzem Kaffee/Rotwein die Notwendigkeit der Selbstbestimmtheit des Seins propagierte. Also: Schluss mit der Blockflöte, den klassischen Gedichten, den Talaren und den Tischgebeten sowie dem sonntäglichen Zwang zum Kirchgang.

Das Zweite Vatikanum hatte versucht, sich mit dem „Aggiornamento“ dieser Welt zu öffnen – es blieb aber, bei rhetorischer Akzeptanz auch anderer Wege zur ‚Seligkeit‘, die ideologische Auffassung bestehen, dass ausschließlich der katholische Weg und seine Dogmen der einzig richtige sei.

Ein Artikel des SPIEGEL (vom September 1965) „Tee bei der Tante“ veranschaulicht die seinerzeitige Situation.

„Hollands Katholiken gehen eifriger zur Kirche als ihre Glaubensbrüder anderswo in Europa. 80 Prozent der 4,5 Millionen niederländischen Katholiken sind praktizierende Gläubige. 9300 holländische Geistliche, darunter 70 Bischöfe, dienen als Missionare in der ganzen Welt.
Als einzige katholische Gemeinschaft in Europa breitet sich die holländische immer weiter aus. Nach dem Krieg waren die Katholiken in den Niederlanden mit 38,5 Prozent der Bevölkerung noch in der Minderheit. 1960 hatten sie die Protestanten überrundet. […]
Der niederländische Klerus legte Kirchendogmen freimütiger aus als die römischen Kurialen. Holländische Priester äußerten sich ungeniert über Zölibat und Empfängnisverhütung. Katholische und protestantische Pfarrer führten gemeinsame Trauungen bei Mischehen ein. Hollands katholischer Klerus entschloß sich sogar zu einer gemeinsamen Bibelübersetzung mit den Protestanten, und auf dem Konzil in Rom fielen holländische Geistliche durch ihren Reformeifer den Kurienkardinälen unangenehm auf.
Im Herbst 1962 kam es zum offenen Zusammenstoß. Der Jesuitenpater van Kilsdonk, Studentenpfarrer in Amsterdam, übte vor katholischen Intellektuellen harte Kritik an der vatikanischen Bürokratie. »Der Apparat der römischen Kurie steht einem gesunden Dialog zwischen Rom und dem Kirchenvolk im Wege«, erklärte der Pater. ‚Die weltweite Glaubenskrise ist auf das Übergewicht der Kurie zurückzuführen.‘
Das Heilige Offizium in Rom forderte die Entlassung des ketzerischen Jesuiten. Die Holländer weigerten sich. Das vergaß ihnen die Kurie nicht. Sie sprach inoffiziell von ‚nördlicher Benebelung‘ und schwärzte die Holländer offiziell wegen ‚unzulässiger Praktiken‘ bei der Ritenkommission an.“

Im April 1969 hieß es dann: „Splittern und spalten“ und ausführlich werden die Gegensätze zwischen der römischen Kurie und den Reformern, zu denen auch die Niederländer gehören, geschildert. Ein Vertreter der damaligen „Neuen Theologie“ ist auch der spätere Benedikt XVI.

„So kritisiert auch der Tübinger Theologe Joseph Ratzinger den ‚ärgerlichen Kurialstil‘ der päpstlichen Rundschreiben und deren ‚spätantike Sprachgestalt‘. Hans Küng wiederum plädiert dafür, die feudalen Titel der römischen Prälaten und deren Kleidung abzuschaffen, weil sie die nichtkatholischen Christen abstoßen: ‚Römischer Apparat‘ und ‚römisches System‘, äußere unevangelische Pracht und Macht, byzantinisches Hof zeremoniell, barocke Ausdrucksformen und absolutistische Regierungsweisen machen es den von uns getrennten Christen sehr schwer, im Papst den Fischer von Galiläa wiederzuerkennen, dessen Nachfolger zu sein er beansprucht.‘“

Im Januar 1980 lautete die Schlagzeile dann: „Ein Minenfeld.“ „Hollands Episkopat zerfällt im Streit zwischen Konservativen und Progressiven. Der Papst soll schlichten.“

„Wohl in keiner anderen europäischen Kirchenprovinz wird so offen diskutiert, werden so viele Kirchenregeln radikal in Frage gestellt wie in den Niederlanden – ob es nun um die Rolle der Laien, den Priesterzölibat oder das kirchliche Abtreibungsverbot geht.
Unter den gut fünf Millionen niederländischen Katholiken haben sich die Spannungen zwischen einer traditionalistischen Minderheit und der am Zweiten Vatikanischen Konzil orientierten reformfreudigen Mehrheit verschärft. Im Episkopat stehen zwei erzkonservativen Bischöfen (Gijsen und Simonis) vier progressive Oberhirten gegenüber. […]
Roms Schwierigkeiten mit den Niederländern hatten in den 60er Jahren begonnen. Damals verurteilte der Vatikan den niederländischen ‚Neuen Katechismus‘, weil dessen Aussagen etwa über die päpstliche Autorität, die Existenz der Engel und die Sünde ‚zweideutig‘ seien. Die Kurie verurteilte auch den in Holland einberufenen ‚Pastoralrat‘, eine Art Kirchenparlament – obgleich dieses Forum den Wünschen des Konzils entsprach.“

Der Vatikan, mit Papst Paul VI, hat sich seinerzeit für die Konservativen entschieden. Die aktuelle Stellungnahme der niederländischen Bischofskonferenz, die den erwähnten „Pastoralrat“ – nach rund 60 Jahren - als den ‚Schuldigen‘ für den Niedergang benennt, ist eine Fortsetzung dieser Konservativen.

Sie verkennen zum einen, dass die Konservativen selbst der Kern des Problems sind: Kirche findet nicht in einem gesellschaftsfreien Raum statt und wenn vor allem junge Menschen Antworten auf ihre Fragen suchen, und sie nicht in der Kirche bekommen, ist es nicht verwunderlich, wenn sie sich abwenden.

Zum anderen ist es ein zu enger Horizont, der nicht sieht, dass sich weltweit - in den entwickelten Gesellschaften - die Gefolgschaft der römisch-katholischen Kirche verringert.

Carsten Frerk