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Evangelische Kirche in Mitteldeutschland, 1991 - 2023

In den 32 Jahren seit 1991 haben die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland, sowie die vorangegangenen beiden Landeskirchen, Zeit gehabt, eine von staatlichen Einflüssen der DDR unbegleitete Existenz – mit staatlicher Unterstützung - zu realisieren. Die Ergebnisse in den Mitgliederzahlen und den Teilnehmern der Ereignisse des Kirchlichen Lebens (Kasualien) zeigen die Entwicklungen: Es gibt keine Renaissance. Im Gegenteil.

Von Carsten Frerk.

1. Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM)
2. Datengrundlagen
3. Mitgliederentwicklung/Bevölkerung
4. Zugänge / Verluste
5. Taufen
6. Konfirmationen
7. Eheschließungen / Trauungen
8. Verstorbene / Bestattungen
9. Zusammenfassung

1. Evangelische Kirche in Mitteldeutschland

Die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM) besteht seit Jahresbeginn 2009. Sie ist der Zusammenschluss der früheren Evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen und der Evangelischen-Lutherischen Kirche in Thüringen.  Ihre Fläche entspricht in etwa den Bundesländern Sachsen-Anhalt und Thüringen. Und: „Etwa jede fünfte evangelische Kirche in Deutschland steht auf dem Gebiet der EKM.“

2. Datengrundlagen

Die Datengrundlagen sind sehr verschieden. Zum einen ist es der Bericht der EKM „Kirchliches Leben in Zahlen – Statistische Übersichten 2022“ der den Zeitraum 1999 bis 2022 erfasst. Für die davor liegenden Jahre (1991-1998) wurden zum anderen die fowid-Auswertungen für die Landeskirche Thüringen und für die Kirchenprovinz Sachsen verwendet, die auf den Angaben aus den Statistischen Jahrbüchern der Bundesrepublik Deutschland (1991 – 2009) beruhen. In einer weiteren fowid-Ausarbeitung zur „Landeskirche Mitteldeutschland“ (2000-2017) wurden die Daten der vormaligen Landeskirche Thüringen und der Kirchenprovinz Sachsen zusammengesetzt. Ergänzt wurden diese Daten ggf. durch die jährlichen EKD-Publikationen „Statistiken der Äußerungen des kirchlichen Lebens in den Gliedkirchen…“ von 1997-2021. Die Daten für die beiden Bundesländer wurden dem Statistischen Jahrbuch 2023 von Sachsen-Anhalt und der Statistischen Datenbank von Thüringen entnommen.

3. Mitgliederentwicklung / Bevölkerung

Seit 1992 ist die Mitgliederentwicklung für die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (inklusive ihrer beiden Vorgänger-Landeskirchen) in der Anzahl rückläufig von 1.300.000 (1992) auf 594.610 Gemeindemitglieder (2023). (Vgl. Tabelle 1. im Anschluss des Textes).

Dieser kontinuierliche Rückgang in der Anzahl entspricht auch der fortlaufenden Verringerung im Anteil der Kirchenmitglieder an der Bevölkerung, der sich kontinuierlich von 24,3 Prozent (1992) auf 14,7 Prozent (2022) reduziert. Von einer seinerzeit erwarteten ‚Renaissance‘ der Kirche kann keine Rede sein.

Der Rückgang der Mitgliederzahlen betrifft die Evangelische Kirche in Deutschland insgesamt und ist kein besonderes Phänomen der EKM. Sie ähnelt auch der Entwicklung in anderen östlichen Gliedkirchen wie der ehemaligen Landeskirche Mecklenburg oder Pommerns, die beide in der Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland (Nordkirche) aufgegangen sind. Allerdings ist die Verringerung der Kirchenmitglieder in der EKM ausgeprägter als in der gesamten EKD.

Während die EKD (von 1991 – 2023) mit 10,6 Mio. mehr als ein Drittel ihrer Mitglieder verliert (36,5 Prozent), ist es bei der EKM mit 595.000 ein Rückgang um mehr als Hälfte (53 Prozent) der früheren Mitglieder. Diese Veränderungen verlaufen in ihren Größenordnungen durchaus parallel, bei der EKM aber ausgeprägter.

Für die EKM ist ein spezifischer Aspekt zu prüfen: Ob der Rückgang der Bevölkerungszahl in den beiden östlichen Bundesländern sich folglich auch in der Zahl der Kirchenmitglieder darstellt.

Während die Bevölkerung der beiden Bundesländer sich von 1991-2022 von 5,4 Mio. auf 4,3 Mio. verringert, also um 1,1 Mio. Bürger, verringert sich die Zahl der EKM-Kirchenmitglieder von 1,3 Mio. auf 684.000. (Vgl. Tabelle 2). Diese Daten besagen bereits, dass die Veränderungen nicht parallel zueinander verlaufen.

Die Reduktionen der Kirchenmitglieder sind gleichmäßig stärker als die der Bevölkerung. Während die Bevölkerung sich im jährlichen Durchschnitt um 0,7 Prozent verringert und 2015 wie 2021/2022 auch wieder ansteigt, ist es bei der EKM ein durchschnittlicher Verlust von 2,6 Prozent (Tabelle 3):

In absoluten Zahlen ausgedrückt verringert sich die Anzahl der EKM-Mitglieder seit 1991 durchschnittlich um 20.598 Mitglieder pro Jahr.


4. Zugänge / Verluste

In den Veränderungen zeigen sich die Salden aus Zugängen und Verlusten. Bei den Zugängen spielen die Taufen (Kindertaufen und Erwachsenentaufen) sowie die Aufnahmen (bereits christlich Getaufter) eine wesentliche Rolle. Bei den Evangelischen ist - im Unterschied zu den römischen Katholiken – die Zuwanderung ohne Bedeutung.

In der Summe verringern sich seit 2010 die Zugänge kontinuierlich, von über 7.000 jährlich auf rund 3.000. (Tabellen 4.1. und 4.2.)

Im Unterschied zur EKD gab es in der EKM bis 2009 einen Anstieg des Anteils der Zugänge, dann folgt – parallel zur EKD, aber deutlicher ausgeprägt -, ein Rückgang.

Bei den Einflussgrößen für die Verluste sind die Verstorbenen und die Kirchenaustritte zu nennen. Der Anteil der Verstorbenen hat dabei einen Anteil von rund Dreiviertel (73,4 Prozent) der Verluste (Tabelle 5).

(Der Anstieg der Kirchenaustritte 2014 ist auf die Diskussion/Einführung der Kirchenkapitalertragssteuer zurückzuführen.) Insgesamt können die Zugänge die Verluste nicht ausgleichen. Der durchschnittliche Saldo (von 1999 bis 2022) beläuft sich auf ein Minus von rund 20.300 Mitgliedern jährlich.

Berechnet man die Salden von Zugängen und Verlusten und vergleicht diese Summen mit der Mitgliederentwicklung, wird noch eine dritte ‚Restgröße‘ als Differenz sichtbar, die in den Kirchenstatistiken nicht erfasst wird/werden kann: die Abwanderung.

Bei der Einzelbetrachtung der Wanderung zeigen sich zwei Zeiträume der stärkeren Abwanderung: die Jahre 2001/2002 und 2006-2009. In den Jahren 2019-2021 gibt es wieder eine leichte Zuwanderung.

Insgesamt betrachtet sind von den durchschnittlich 20.300 Mitgliederverlusten pro Jahr rund 5.000 durch die Abwanderung zu erklären, also etwa rund ein Viertel. Dreiviertel sind entsprechend ‚hausgemacht‘. Ab 2011 gibt es zudem auch keine wesentliche Abwanderung mehr.

Das bekanntere Element der Verluste sind die Kirchenaustritte. (Tabellen 6.1.-6.3.) In der Anzahl der Kirchenaustritte zeigt sich in einer proportionalen Darstellung zum einen, dass die durchschnittliche Anzahl von EKD-Austritten insgesamt und in der EKM parallel verlaufen, wenn auch bei der EKM geringer.

In Betrachtung der Zahl der Kirchenaustritte als Anteil an der Anzahl der Kirchenmitglieder bleibt es erhalten, dass die Anteile der Kirchenaustritte in der EKM (durchschnittlich 0,78 Prozent) geringer sind als in der EKD (0,89 Prozent der Kirchenmitglieder). Ausnahmen sind die Jahre 2014/15, und vor allem 2014, als die Austritte in der EKM mit 1,7 Prozent der Mitglieder über denen in der EKD mit 1,2 Prozent lagen.

Deutlich wird zudem, wie seit 2016 die Anteile der Kirchenausritte mit Bezug auf die Mitgliederzahl in der EKD ansteigt, die EKM aber weniger davon betroffen ist.

Eine Besonderheit zeigt sich beim Austrittsverhalten der Frauen. Zwar entspricht es dem höheren Frauenanteil der EKM, dass dort mehr Frauen austreten als in der EKD Insgesamt, aber seit 2014 wird der Abstand zur EKD größer.


5. Taufen

Das wesentliche Element für den Erhalt der Zahl der Kirchenmitglieder sind die Zugänge/Aufnahmen durch die Taufen, vor allem der Kindertaufen. Während die Anzahl der Kindertaufen von 1997-2016 in der EKM relativ stabil bleiben (um 5.000), verringern sie sich in der EKD von 250.000 auf 160.000. (Tabellen 7)

Aber: Die Eltern, die ihr Kind kirchlich taufen lassen, sind in der EKD religiös homogener als in der EKM. Während 1997 in der EKM ein Viertel der Eltern (26,4 Prozent) einen nicht-christlichen Partner haben, so sind es 2016 bereits beinahe die Hälfte (43,9 Prozent). In der EKD insgesamt steigt der Anteil eines nicht-christlichen Elternteils von 14,3 auf 19,7 Prozent.

Auch ein weiterer Aspekt der Taufen wird seit 2009 ausgeprägter: Der Anteil der Erwachsenentaufen anlässlich der Konfirmation. Während in der EKD insgesamt der Anteil bei rund sechs Prozent liegt, verringert er sich in der EKM von anfänglich ebenfalls rund 6 Prozent auf unter 3 Prozent. (Tabellen 8)

Das zeigt sich in der EKM auch in den Anteilen der Erwachsenentaufen an allen Taufen. Bis 2004 beläuft sich der Anteil der Taufen anlässlich der Konfirmation auf rund 40 Prozent der Erwachsenentaufen, um sich dann auf bis unter 10 Prozent zu verringern. (Tabelle 9.2.).

Und wesentliches Element des Nachwuchses ist schließlich die Frage, wie groß ist die Anzahl der Verstorbenen und kann sie durch die Anzahl der Taufen kompensiert werden? Nein. Und dieses „Taufdefizit“ vergrößert sich seit dem Beginn der 2000-er Jahre, als etwa 40 Prozent der Verstorbenen durch Taufen ‚kompensiert‘ wurden (Taufdefizit 60 Prozent), bis Ende der 2010-er Jahre als es nur noch 15 Prozent waren, d. h. ein „Taufdefizit“ von 85 Prozent bestand. (Tabelle 9.3.)

Dieses „Taufdefizit“ beläuft sich durchschnittlich auf jährlich 10.083 zu wenig Taufen, so dass von dem durchschnittlichen Mitgliederrückgang pro Jahr (20.300) rund die Hälfte durch dieses „Taufdefizit“ erklärt wird.

6. Konfirmationen

Die Anzahl der Konfirmandinnen und Konfirmanden in der EKM reduziert sich von 1991 bis 2005 kontinuierlich (von 11.000 auf 6.000) und ist seit 2006 relativ konstant bei rund 4.000 Konfirmationen.

Wie viele der ‚Täuflinge‘ kommen bei der Konfirmation an? Bezieht man die Taufjahrgänge auf die Konfirmationen (14 Jahre später), so setzt man die ‚Täuflinge‘ 1997 mit den Konfirmationen 2011 in Verbindung. In der EKD insgesamt kommen 2011 rund 88 Prozent der Täuflinge bei der Konfirmation an, in der EKM sind es 74 Prozent. Bei insgesamt leicht abnehmender Tendenz bleibt dieser Unterschied, dass in der EKM rund 10 Prozentpunkte weniger bei der Konfirmation ankommen als in der EKD insgesamt, erhalten. (Tabellen 10)


7. Eheschließungen / Trauungen

Der Anteil der kirchlichen Trauungen an den staatlichen Eheschließungen verbleibt bis 1991-1994 bei rund 5 Prozent, dann von 1995-2011 bei rund 10 Prozent und seitdem kontinuierlich geringer werdend bei 5 Prozent. (Tabelle 11)

Konzentriert man sich bei den staatlichen Eheschließungen auf die Paare, von denen mindestens ein Partner/eine Partnerin „evangelisch“ angegeben hat, ist dieser Anteil so groß, wie auch in etwa der Anteil der Evangelischen an der Bevölkerung. Etwa die Hälfte davon lässt sich auch evangelisch-kirchlich trauen. (Tabellen 12)

Für Thüringen, als Bundesland wie Landeskirche, liegen Daten bis 2007 bzw. bis 2013 vor, die die religiöse Pluralität bei Eheschließungen bzw. Trauungen dokumentieren. In beiden Bereichen sinken die religiös-homogen Ehen / wie Trauungen und die Zahl/Anteile der Verbindungen von evangelischen mit nicht-christlichen Partnern steigen. (Tabellen 12)

Diese Entwicklungen gelten für die EKD insgesamt ebenso wie für die EKM. Sie sind in der EKM aber deutlich ausgeprägter: Die homogenen Trauungen verringern sich von 71 auf 34 Prozent, im Raum der EKD von 61 auf 52 Prozent. Für Trauungen mit Nicht-Christen/Konfessionsfreien steigt dagegen der Anteil von 18 auf 49 Prozent (EKM) bzw. 10 auf 17 Prozent. (Tabellen 13)

Drei Elemente wirken zusammen: 1. Die Quote der staatlichen Eheschließungen sinkt generell, halbiert sich. 2. Unter den Eheschließungen sinkt der Anteil der anschließenden kirchlichen Trauungen, und 3. Bei den kirchlichen Trauungen steigt der Anteil der konfessionsfreien Ehepartner auf über 50 Prozent.

8. Verstorbene / Bestattungen

Die EKM hat, was selten geschieht, für die Jahre 1997-2022 zusätzlich zu den Daten der kirchlichen Bestattungen auch die Daten (aus den Melderegistern) der evangelischen Verstorbenen erfasst und publiziert. Wurden 1997 noch 91 Prozent der evangelischen Verstorbenen kirchlich bestattet, so ist dieser Anteil bis 2022 auf 59 Prozent zurückgegangen. (Tabelle 14)

Dadurch öffnet sich eine ‚Schere‘ der nicht-kirchlichen Bestattungen, was an anderer Stelle als „stille Austritte“ bezeichnet wurde.

Wer auch immer diese Entscheidung getroffen hat – seien es die Verstorbenen selber oder ihre Familienangehörigen -, machen die Trauergäste die (zunehmende) Erfahrung, dass die Kirchen, das heißt die Pastorinnen und Pastoren, nicht mehr gebraucht werden.

9. Zusammenfassung

Versucht man diese verschiedenen Veränderungen zusammenzufassen, so würde das heißen, dass seit 32 Jahren eine Entwicklung stattfindet, die auch die westlichen Gliedkirchen zunehmend stärker betreffen wird: Der Verlust der christlich-religiösen Homogenität als Rückkopplungs- und Verstärkungsraum der eigenen Religiosität und Kirchenbindung. Insofern ist die EKM ein Modell für die weitere Entwicklung.

Vergleicht man den ‚Bestandserhalt‘ der EKD, die gleichsam die westlichen Gliedkirchen darstellt, mit denen der EKM, so hat die EKM nur bei Trauungen und Kindertaufen einen vergleichsweise hohen ‚Bestandserhalt‘ – allerdings auf niedrigem Niveau -, während die homogenen Trauungen die Ausnahmen geworden sind. Die „christliche Familie“, in der die Zukunftsweichen einer religiösen Sozialisation gestellt werden, verliert wesentlich an Bedeutung.

Das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD (SIEKD) hat 2022 festgestellt (Petra Ahrens: „Kirchenausritte seit 2018: Wege und Anlässe“), dass eine „Entfremdung“ der eigentliche Hintergrund für die Verringerung der Mitgliederzahlen seien. Für die EKM wird das im Detail und Zeitverlauf bestätigt: Sei es durch Kirchenaustritte, den Nicht-Taufen der Kinder, dem Rückgang sowohl der religiös-homogenen Eheschließungen wie der kirchlichen Trauungen und – vor allem - dem steigenden Verzicht auf eine kirchliche Bestattung. Das religiöse Kapital der Kirche schrumpft im Alltagsleben. Die Erzählungen der Bibel halten einer Alltagsanalyse und -kommunikation nicht stand, was zu einer Entfremdung von Glaubensinhalten wie Glaubensversprechen führt.

Durch die Verringerung bzw. den Verlust der religiösen Homogenität im Alltag – in und durch eine überwiegend säkulare Umgebung –, wird eine Entwicklung befördert, die auch mit den besten religiösen Konzepten nicht gestoppt werden kann. Jahr um Jahr wird der ‚religiöse Resonanzraum‘ geringer und die Mitgliederzahl ‚abgeschliffen‘. Auch für 2023 meldet die EKM eine Verringerung von 21.000 Mitgliedern, was dem langjährigen Durchschnitt der EKM entspricht.

Tabellen

(Im Anhang befindet sich eine excel-Datei mit den auslesbaren Daten der Tabellen und Grafiken.)